L 6 U 13/10 WA

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 8 U 215/04
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 13/10 WA
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1956 geborene Kläger begehrt die Fortsetzung des Rechtsstreits L 6 U 117/07, in welchem er einen Anspruch auf Anerkennung zusätzlicher Unfallfolgen sowie die Gewährung einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 30 vom Hundert (vH) verfolgt hatte.

Bei dem Kläger ist mit Bescheid der Bau-Berufsgenossenschaft Hannover (Rechtsvorgängerin der Beklagten; nachfolgend die Beklagte) vom 18. Mai 2000 ein Unfall vom 29. Juni 1999 als Arbeitsunfall anerkannt. Auf der Grundlage der Bescheide vom 13. März 2001 und 27. Mai 2002 erhält der Kläger von der Beklagten wegen der Unfallfolgen seit dem 1. September 2000 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH.

Mit Bescheid vom 25. Mai 2004 hatte die Beklagte nach Auswertung der zuvor eingeleiteten Ermittlungen den vom Kläger am 23. Oktober 2003 gestellten Verschlimmerungsantrag abgelehnt, da sich die Unfallfolgen nicht wesentlich geändert hätten. Den hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers hatte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2004 als unbegründet zurückgewiesen. Im nachfolgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg (S 8 U 215/04) hatte dieses auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Arzt für Psychiatrie/Neurologie Privatdozent Dr. K. nach ambulanter Untersuchung das Gutachten vom 1. März 2007 erstellen lassen und u.a. hierauf gestützt die Klage mit Urteil vom 18. September 2007 abgewiesen.

Im Rahmen des dagegen geführten Berufungsverfahrens L 6 U 117/07 hatte der anwaltlich vertretene Kläger im Termin der nichtöffentlichen Sitzung am 25. August 2009 die Klage zurückgenommen, nachdem vom Senat auf seinen nochmaligen Antrag nach § 109 SGG von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. das Gutachten vom 19. März 2009 eingeholt worden war.

Am 24. Februar 2010 ist beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt das Schreiben des Klägers vom 12. Februar 2010 eingegangen, mit dem er sich zum Verfahren L 6 U 117/07 an den Senat gewandt und vorgetragen hat, sein früherer Prozessvertreter habe die Klage nicht in vollem Umfang nach den unfallbedingten Beschwerden ausgerichtet. Keines der bislang eingeholten Gutachten sei auf den entscheidenden Punkt gekommen. Wäre das erstinstanzlich erstattete Gutachten richtig verfolgt worden, sei mit einem anderen Ausgang des Klageverfahrens zu rechnen gewesen. Deshalb wolle er die ganze Angelegenheit weiter verfolgen bzw. wieder aufnehmen.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass der Rechtsstreit L 6 U 117/07 noch anhängig ist, das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 18. September 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2004 aufzuheben, festzustellen, dass auch eine Daumensattelgelenkarthrose und ein Karpaltunnelsyndrom im Bereich der rechten Hand sowie eine leichte depressive Episode Folgen des Arbeitsunfalls vom 29. Juni 1999 sind, und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. Oktober 2003 an eine Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 30 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen; hilfsweise, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das Verfahren L 6 U 117/07 sei durch wirksame Klagerücknahme erledigt. Im Übrigen hält sie ihre angefochtenen Bescheide und das diese bestätigende Urteil des SG für richtig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Senats waren.

Entscheidungsgründe:

Die Feststellungsklage hat keinen Erfolg. Über das im Berufungsverfahren weiter verfolgte Klagebegehren kann der Senat nicht mehr entscheiden, weil der Kläger wirksam dessen Rücknahme erklärt hat.

Gegenstand des Verfahrens ist zunächst das Begehren des Klägers auf Fortsetzung des Rechtsstreits L 6 U 117/07, das der Senat angesichts einer nach § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. den §§ 589 Abs. 1, 584 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) als unzulässig zu verwerfenden Wiederaufnahmeklage als Feststellungsantrag auslegt, das Verfahren sei durch die Erklärung vom 25. August 2009 nicht beendet worden. Dieser Antrag ist als Klageänderung durch Klageerweiterung nach § 99 Abs. 1 SGG i.V.m. den §§ 55 Abs. 1 Nr. 1, 56 SGG zulässig (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26. Juli 1989 – 11 RAr 31/88 – SozR 1500 § 73 Nr. 6; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 102 Rn. 12).

In der Sache hat der Kläger jedoch keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Denn der Rechtsstreit L 6 U 117/07 ist wegen Klagerücknahme nicht mehr anhängig.

Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 SGG kann die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurückgenommen werden. Um wirksam zu sein, muss die Rücknahme der Klage eindeutig, klar, unmissverständlich und bedingungslos ausgesprochen werden. Bei der Auslegung der Rücknahmeerklärung ist das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Im Zweifelsfall ist darauf abzustellen, was das Erklärte vernünftigerweise bedeuten soll (BSG, Urteil vom 29. Mai 1980 – 9 RV 8/80 – juris). Prozesserklärungen unterliegen den allgemeinen Auslegungsregeln für empfangsbedürftige Willenserklärungen nach dem bürgerlichen Recht (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Gemäß § 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Das Wort "Rücknahme" muss nicht zwingend verwendet werden. Andernfalls bedürfte es keiner Auslegung der Rücknahmeerklärung, die das BSG aber für zulässig hält.

Ausgehend davon liegt hier eine wirksame Rücknahmeerklärung vor.

Die mit seiner Zustimmung und in seinem Beisein durch seinen Prozessbevollmächtigten abgegebene Erklärung des Klägers im Erörterungstermin am 25. August 2009 kann nur so verstanden werden, dass er an der Weiterverfolgung des Klagebegehrens in der Berufungsinstanz kein Interesse mehr hatte und das Verfahren beenden wollte. Er hat vom Gericht keine weitere Entscheidung mehr erwartet. Diese Erklärung ist auch in sich widerspruchsfrei. Auch der Kläger ging erkennbar davon aus, dass mit seiner Erklärung das Verfahren vor dem Berufungsgericht beendet wurde. Anders ist sein Schreiben vom 12. Februar 2010 nicht zu erklären. Wäre er davon ausgegangen, mit der Erklärung im Erörterungstermin nicht das Ende des Rechtsstreits herbeigeführt zu haben, hätte er nicht wegen eines Aufgreifens der ganzen Angelegenheit nachfragen müssen, um noch, wie offenbar von ihm gewünscht, ein Urteil zu erhalten.

Die Klagerücknahme wurde auch ordnungsgemäß protokolliert (§§ 156 Abs. 1, 122 SGG i.V.m. den §§ 159 Abs. 1, 160 Abs. 3 Nr. 8, 160a, 162 Abs. 1, 163 ZPO).

Die Rücknahmeerklärung ist nicht nichtig.

Die Rücknahmeerklärung ist eine Prozesshandlung. Die Wirksamkeit einer Prozesshandlung erfordert die Prozessfähigkeit des Erklärenden, denn die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst wirksam vornehmen zu können (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 71 Rn. 1a). Nach § 71 Abs. 1 SGG ist ein Beteiligter prozessfähig, soweit er sich durch Verträge verpflichten kann. Durch Verträge verpflichten kann sich, wer geschäftsfähig ist. (Voll)Geschäftsfähig ist, wer volljährig ist (Umkehrschluss aus den §§ 104, 106 BGB) und sich nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2 BGB). Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig (§ 105 Abs. 1 BGB). Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird (§ 105 Abs. 2 BGB).

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger bzw. sein damaliger Prozessbevollmächtigter im Zeitpunkt der Erklärung der Klagerücknahme geschäftsunfähig nach § 104 Nr. 2 BGB waren. Auch eine Nichtigkeit der Erklärung nach § 105 Abs. 2 BGB kann nicht angenommen werden. Eine vorübergehende Störung der Geistestätigkeit im Sinne von § 105 Abs. 2 BGB liegt vor, wenn die Störung ein solches Ausmaß erreicht, dass die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. Es reicht nicht aus, dass die freie Willensbestimmung nur geschwächt oder gemindert ist. Die freie Willensbestimmung muss vielmehr völlig ausgeschlossen sein (Bundesgerichtshof, Urteil vom 5. Juni 1972 – II ZR 119/70 – juris). Weder gehen entsprechende Unterlagen oder Beobachtungen aus dem Protokoll des Erörterungstermins hervor noch hat der Kläger derartiges überhaupt in irgendeiner Art und Weise behauptet. Er hat insbesondere auch keine ärztliche Bescheinigung eingereicht, aus der hervorgeht, dass bei ihm bzw. seinem Prozessvertreter zu diesem Zeitpunkt eine gesundheitliche Beeinträchtigung vorlag, die auf eine Störung der Geistestätigkeit schließen ließe.

Die wirksam erklärte Klagerücknahme kann als prozessuale Gestaltungshandlung auch nicht frei widerrufen oder entsprechend den bürgerlichrechtlichen Vorschriften angefochten werden (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG, Urteil vom 6. April 1960 – 11/9 RV 214/57 – SozR Nr. 3 zu § 119 BGB; Urteil vom 24. April 1980 – 9 RV 16/79 – juris; Urteil vom 20. Dezember 1995 – 6 RKa 18/95 – juris; Beschluss vom 19. März 2002 – B 9 V 75/01 B – juris).

Schließlich kann sich der Kläger von seiner Klagerücknahmeerklärung auch nicht unter dem Aspekt des Eingreifens von Wiederaufnahmegründen lösen, was entsprechend § 179 Abs. 1 SGG i.V.m. den §§ 578 – 580 ZPO schwerste Mängel oder unrichtige Urteilsgrundlagen voraussetzen würde (vgl. hierzu etwa BSG, Urteil vom 14. Juni 1978 – 9/10 RV 31/77SozR 1500 § 102 Nr. 2). Dafür, dass die für die Nichtigkeitsklage erforderlichen Voraussetzungen des § 579 Abs. 1 Nr. 1 – 4 ZPO vorliegen (nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, Mitwirkung ausgeschlossener oder abgelehnter Richter, nicht ordnungsgemäße Vertretung), ist nichts ersichtlich. Ebenso hat weder der Kläger Wiederaufnahmegründe für eine Restitutionsklage nach § 580 ZPO vorgetragen noch sind solche sonst erkennbar.

Nach alledem sind mit der Klagerücknahme die Wirkungen des Urteils des SG vom 18. September 2007 nach den §§ 153 Abs. 1, 102 Abs. 1, 202 SGG i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO entfallen. Die angefochtene Entscheidung (hier der Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2004) ist gemäß § 77 SGG bindend geworden. Diese Bestandskraft hindert den Senat, über den Sachantrag des Klägers zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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