Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 P 406/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 3/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird die Antragsgegnerin unter Änderung des Beschlusses des Sozialgericht Berlin vom 14. Dezember 2009 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin mit Wirkung vom 19. April 2010 an vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs Monate, Pflegeleistungen der Pflegestufe II zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu ¾ zu erstatten.
Gründe:
I. Die 1926 geborene Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Pflegeleistungen der Pflegestufe II.
Sie erhält sei November 2002 Sachleistungen aus der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. Am 10. Februar 2009 beantragte sie die Erhöhung der Pflegestufe. In dem von der Antragsgegnerin eingeholten MDK-Gutachten vom 18. Juni 2009 ermittelte die Pflegefachkraft F einen Zeitaufwand für die Grundpflege von 84 Minuten täglich und einen Zeitaufwand für die Hauswirtschaft von 77 Minuten täglich. Dem Gutachten folgend lehnte die Antragstellerin den Antrag mit Bescheid vom 26. Juni 2009 ab. Den Widerspruch der Antragstellerin wies sie der nach sozialmedizinischer Stellungnahme mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2009 zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin am 20. November 2009 Klage erhoben.
Ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat die Klägerin mit der zunehmenden Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes begründet. Das Sozialgericht Berlin hat den Antrag mit Beschluss vom 14. Dezember 2009 zurückgewiesen.
Zur Begründung ihrer Beschwerde gegen den Beschluss trägt sie vor: Zusätzlich zu dem im Gutachten genanntem Zeitaufwand seien täglich 22 Minuten im Bereich der Mobilität für Transfers zu berücksichtigen, da sie nicht ohne Hilfe aufstehen könne, 6 Minuten für das Wechseln der Vorlagen und 10 Minuten für das wegen ihres Tremors erforderlichen Reichen von Getränken.
II. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen bezogen auf die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin vor, der Antragstellerin für die Zeit ab der Entscheidung des Senats bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs Monate, Pflegeleistungen der Pflegestufe II zu gewähren, was sich für den Senat anhand einer Folgenabwägung ergibt.
Eine solche Folgenabwägung, bei der in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte, erscheint im Lichte von Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) im vorliegenden Fall zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich. Denn die Antragstellerin begehrt hier Leistungen, die dazu dienen, sie vor einer Gefährdung von Leib und Leben zu bewahren und ihr ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren für dieses Begehren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens vollständig übernimmt und der Antragstellerin bei einer Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes eine endgültige Grundrechtsverletzung droht, dürfen nach Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannt werden. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf sich das zur Entscheidung berufene Gericht nicht auf eine nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache beschränken, sondern muss die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen. Ist ihm dies im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht möglich, so ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05). So liegt der Fall hier. Denn die Entscheidung, ob der Antragstellerin die mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrten Leistungen tatsächlich zustehen, ist nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht möglich. Die Antragstellerin hat sich auf eine nach Erstellung des Gutachtens im Juni 2009 eingetretene erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes berufen, die angesichts ihres hohen Alters nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist, weshalb eine aktuelle medizinische Sachaufklärung erforderlich erscheint. Diese Ermittlungen müssen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, weil sie den Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sprengen würden.
Die von dem Senat vorzunehmende Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall für die Zeit ab der Entscheidung des Senats zugunsten der Antragstellerin aus, weil ihr mit Blick auf das besondere grundrechtliche Gewicht des mit ihrem Antrag verfolgten Begehrens bei einer Ablehnung ihres Antrags für diese Zeit schwere und unwiederbringliche Nachteile drohen, die sie aus eigener Kraft nicht imstande ist, von sich abzuwenden.
Unter Berufung auf die Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes hat die Antragstellerin – detailliert und auf die in § 14 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (SGB XI) genannten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bezogen – ihren gestiegenen Pflegebedarf dargelegt. Aufgrund dieser Angaben ist es nicht ausgeschlossen, dass ihr anstelle der bisherigen Pflegeleistungen der Pflegestufe I Pflegeleistungen der Pflegestufe II zu gewähren sind. Den ihr nach Auffassung des Senats bei einer Verweigerung dieses Anspruchs drohenden Gefahren für Leib und Leben sowie die Menschenwürde stehen finanzielle Einbußen der Antragsgegnerin gegenüber, die sich in einem überschaubaren Rahmen halten und dementsprechend hinter den der Antragstellerin drohenden Nachteilen zurückzutreten haben.
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin ist allerdings auf die Zeit bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens zu begrenzen. Des Weiteren ist der Zahlungszeitraum im Hinblick auf den nur vorläufigen Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes auf längstens sechs Monate zu befristen. Die Möglichkeit, bei veränderten Umständen eine frühere Aufhebung oder Abänderung der einstweiligen Anordnung in analoger Anwendung von § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG zu erreichen, bleibt hiervon unberührt.
Soweit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sich auf die Zeit vom Eingang der Antragsschrift bei dem Sozialgericht am 20. November 2009 bis zur Entscheidung des Senats bezieht, war er abzulehnen. Denn dieser Zeitraum ist mittlerweile verstrichen, und die Antragstellerin hat nicht vorgetragen, dass sie schwere und unzumutbare Nachteile zu gegenwärtigen hätte, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu ¾ zu erstatten.
Gründe:
I. Die 1926 geborene Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Pflegeleistungen der Pflegestufe II.
Sie erhält sei November 2002 Sachleistungen aus der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. Am 10. Februar 2009 beantragte sie die Erhöhung der Pflegestufe. In dem von der Antragsgegnerin eingeholten MDK-Gutachten vom 18. Juni 2009 ermittelte die Pflegefachkraft F einen Zeitaufwand für die Grundpflege von 84 Minuten täglich und einen Zeitaufwand für die Hauswirtschaft von 77 Minuten täglich. Dem Gutachten folgend lehnte die Antragstellerin den Antrag mit Bescheid vom 26. Juni 2009 ab. Den Widerspruch der Antragstellerin wies sie der nach sozialmedizinischer Stellungnahme mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2009 zurück. Hiergegen hat die Antragstellerin am 20. November 2009 Klage erhoben.
Ihren Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat die Klägerin mit der zunehmenden Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes begründet. Das Sozialgericht Berlin hat den Antrag mit Beschluss vom 14. Dezember 2009 zurückgewiesen.
Zur Begründung ihrer Beschwerde gegen den Beschluss trägt sie vor: Zusätzlich zu dem im Gutachten genanntem Zeitaufwand seien täglich 22 Minuten im Bereich der Mobilität für Transfers zu berücksichtigen, da sie nicht ohne Hilfe aufstehen könne, 6 Minuten für das Wechseln der Vorlagen und 10 Minuten für das wegen ihres Tremors erforderlichen Reichen von Getränken.
II. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen bezogen auf die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin vor, der Antragstellerin für die Zeit ab der Entscheidung des Senats bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs Monate, Pflegeleistungen der Pflegestufe II zu gewähren, was sich für den Senat anhand einer Folgenabwägung ergibt.
Eine solche Folgenabwägung, bei der in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte, erscheint im Lichte von Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) im vorliegenden Fall zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich. Denn die Antragstellerin begehrt hier Leistungen, die dazu dienen, sie vor einer Gefährdung von Leib und Leben zu bewahren und ihr ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren für dieses Begehren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens vollständig übernimmt und der Antragstellerin bei einer Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes eine endgültige Grundrechtsverletzung droht, dürfen nach Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannt werden. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf sich das zur Entscheidung berufene Gericht nicht auf eine nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache beschränken, sondern muss die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen. Ist ihm dies im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht möglich, so ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05). So liegt der Fall hier. Denn die Entscheidung, ob der Antragstellerin die mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrten Leistungen tatsächlich zustehen, ist nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht möglich. Die Antragstellerin hat sich auf eine nach Erstellung des Gutachtens im Juni 2009 eingetretene erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes berufen, die angesichts ihres hohen Alters nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist, weshalb eine aktuelle medizinische Sachaufklärung erforderlich erscheint. Diese Ermittlungen müssen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, weil sie den Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sprengen würden.
Die von dem Senat vorzunehmende Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall für die Zeit ab der Entscheidung des Senats zugunsten der Antragstellerin aus, weil ihr mit Blick auf das besondere grundrechtliche Gewicht des mit ihrem Antrag verfolgten Begehrens bei einer Ablehnung ihres Antrags für diese Zeit schwere und unwiederbringliche Nachteile drohen, die sie aus eigener Kraft nicht imstande ist, von sich abzuwenden.
Unter Berufung auf die Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes hat die Antragstellerin – detailliert und auf die in § 14 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (SGB XI) genannten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bezogen – ihren gestiegenen Pflegebedarf dargelegt. Aufgrund dieser Angaben ist es nicht ausgeschlossen, dass ihr anstelle der bisherigen Pflegeleistungen der Pflegestufe I Pflegeleistungen der Pflegestufe II zu gewähren sind. Den ihr nach Auffassung des Senats bei einer Verweigerung dieses Anspruchs drohenden Gefahren für Leib und Leben sowie die Menschenwürde stehen finanzielle Einbußen der Antragsgegnerin gegenüber, die sich in einem überschaubaren Rahmen halten und dementsprechend hinter den der Antragstellerin drohenden Nachteilen zurückzutreten haben.
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin ist allerdings auf die Zeit bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens zu begrenzen. Des Weiteren ist der Zahlungszeitraum im Hinblick auf den nur vorläufigen Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes auf längstens sechs Monate zu befristen. Die Möglichkeit, bei veränderten Umständen eine frühere Aufhebung oder Abänderung der einstweiligen Anordnung in analoger Anwendung von § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG zu erreichen, bleibt hiervon unberührt.
Soweit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sich auf die Zeit vom Eingang der Antragsschrift bei dem Sozialgericht am 20. November 2009 bis zur Entscheidung des Senats bezieht, war er abzulehnen. Denn dieser Zeitraum ist mittlerweile verstrichen, und die Antragstellerin hat nicht vorgetragen, dass sie schwere und unzumutbare Nachteile zu gegenwärtigen hätte, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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