L 3 SB 25/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 4371/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 25/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klage gegen den Bescheid vom 20. April 2010 wird abgewiesen.

Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist der Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin und ob ihr die Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) zustehen.

Bei der 1948 geborenen Klägerin wurde im Januar 2001 nach Diagnostizierung eines Mammakarzinoms eine 2/3-Resektion der linken Mamma unter Mitnahme der Mamille und eine Axilladissektion Level I und II durchgeführt. Auf ihren Antrag stellte der Beklagte mit Bescheid vom 29.06.2001 einen GdB von 80 seit 25.01.2001 fest. Als Behinderung wurde hierbei der Teilverlust der Brust links im Stadium der Heilungsbewährung festgestellt. Die Zuerkennung von Nachteilsausgleichen wurde abgelehnt.

Am 20.12.2004 stellte die Klägerin einen Antrag auf Erhöhung des GdB und auf Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF". Nach Beiziehung und Auswertung medizinischer Unterlagen lehnte der Beklagte nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen von Dr. Lazarus und Dr. Chorbacher mit Bescheid vom 20.07.2005 die Erhöhung des GdB und die Feststellung der beantragten Merkzeichen ab, da die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Die Funktionsbeeinträchtigungen wurden nunmehr als "Teilverlust der linken Brust, Erkrankung der linken Brust (in Heilungsbewährung)" (Teil-GdB 80), "Lymphstauung des linken Armes, Funktionsbehinderung des linken Schultergelenkes" (Teil-GdB 10), "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Kalksalzminderung des Knochens (Osteoporose)" (Teil-GdB 10), "Funktionsbehinderung beider Kniegelenke" (Teil-GdB 10) und "seelische Störung" (Teil-GdB 10) bezeichnet.

Auf den von der Klägerin hiergegen eingelegten Widerspruch zog der Beklagte die dem die Klägerin behandelnden praktischen Arzt Dr. J. vorliegenden Arztbriefe und einen Befundbericht des Orthopäden Dr. K. (Wirbelsäulensyndrom mit rezidivierend auftretenden Beschwerden, mäßige medial betonte Gonarthrose) bei und wies anschließend nach Einholung einer Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. Simo mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2006 den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 16.06.2006 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die von den Beklagten anerkannten Funktionsbeeinträchtigungen führten zu einem anerkennungsfähigen GdB, der über dem jetzt festgestellten Gesamtgrad der Behinderung liege. Durch die Funktionsbehinderungen beider Kniegelenke und der Wirbelsäule liege eine deutliche Einschränkung des Gehvermögens vor. Hinzu kämen noch die seelischen Störungen, so dass sie nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen könne. Bedingt durch die vielfältigen Beeinträchtigungen, insbesondere durch die Funktionsbehinderung der Kniegelenke und die seelischen Störungen, sei es ihr auch ständig nicht möglich, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

Das SG hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört.

Die Gynäkologinnen Dr. B. und Anastassiadis haben in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft vom 11.12.2006 mitgeteilt, dass die Nachsorgeuntersuchungen eine reizlose Operationsnarbe und kein erhebliches Lymphödem des linken Armes gezeigt hätten. Die Ärztinnen haben radiologische Arztbriefe über die durchgeführten Mammographien beigefügt.

Dr. J. hat unter dem 22.01.2007 unter Beifügung von Arztbriefen des Arztes für diagnostische Radiologie Dr. Hofbauer, der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Ernst, der Orthopäden Dres. M. und K., des Entlassungsberichts der Rehaklinik Bad E. über die von der Klägerin zwischen dem 26.04. und 24.05.2005 durchgeführte Heilbehandlung und der Ergebnisse der am 15.10.2005 durchgeführten Lungenuntersuchung ausgeführt, bei der Klägerin liege ein Zustand nach Mammakarzinom links, ein chronisches Lymphödem des linken Armes mit Bewegungseinschränkung, ein chronisches HWS- und LWS-Syndrom, eine chronische Periarthritis humeruscapularis links, eine chronische Gonarthrose beidseits, eine chronische Depression mit Angstsymptomatik, ein Zustand nach Beinvenenthrombose, Varikosis und eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung vor.

Dr. K. hat sich unter dem 20.02.2007 dahingehend geäußert, dass bei der Klägerin ein HWS- und BWS-Syndrom, eine cervikale Migräne, ein Reizzustand des linken Knies, eine Metatarsalgie, Gelenkschmerz, sonstige Valgusdeformitäten der Vorfüße, eine Cervikalneuralgie, eine Bakerzyste im linken Kniegelenk, eine Gonarthrose, eine Lumboischialgie und eine Osteoporose vorlägen.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 22.05.2007 hat Dr. Götz ausgeführt, dass die Heilungsbewährungsfrist bezüglich der Tumorerkrankung der linken Brust im Januar 2006 abgelaufen sei. Aufgrund der derzeitigen Sachlage ergebe sich nach Auswertung der Angaben von Dr. J., Dr. B. und Dres. M. und K. folgender Beurteilungsvorschlag: Teilverlust der linken Brust (Teil-GdB 20), Lymphstauung des linken Armes, Funktionsbehinderung des linken Schultergelenkes (Teil-GdB 10), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Kalksalzminderung des Knochens, (Osteoporose) (Teil-GdB 10), Funktionsbehinderung beider Kniegelenke (Teil-GdB 20) und seelische Störung (Teil-GdB 10). Der Gesamt-GdB betrage ab sofort 30.

Sodann hat das SG, nachdem die Klägerin mitgeteilt hatte, dass sie sich nicht in nervenfachärztlicher Behandlung befinde, aber sich erneut einer Brust- und auch Lungenoperation habe unterziehen müssen, eine sachverständige Zeugenauskunft des Klinikverbunds Südwest eingeholt. Für diesen haben Chefarzt PD Dr. Ritter und T. Kruse unter dem 17.01.2008 mitgeteilt, dass sich die Klägerin zwischen dem 16.02.2007 und 24.02.2007 in der Inneren Abteilung der Medizinischen Klinik I der Kliniken Sindelfingen befunden habe. Diagnostiziert worden sei eine Bronchitis, als kardiovaskuläre Risikofaktoren ein chronischer Nikotinabusus, eine arterielle Hypertonie und eine Adipositas, ein invasiv lobuläres Mammakarzinom links Erstdiagnose 10/00 und Zustände nach Appendektomie und Meniskusoperation beidseits.

Im Anschluss daran hat das SG Dr. D., Oberarzt des Marienhospitals Stuttgart, mit der Erstattung eines orthopädischen Gutachtens beauftragt. Dr. D. hat in seinem Gutachten vom 14.04.2008 als Gesundheitsstörungen eine etwa 10 %-ige Gesamtbeweglichkeitseinschränkung der Hals- und Brustwirbelsäule, eine endgradig eingeschränkte Entfaltbarkeit der Lendenwirbelsäule, eine endgradige Bewegungseinschränkung im rechten und linken Schultergelenk, eine endgradige Beugeeinschränkung in beiden Kniegelenken und eine Beinverkürzung rechts von 1 cm genannt. Die Bewegungseinschränkungen von Seiten der Wirbelsäule und des linken Schultergelenkes bedingten jeweils einen Teil-GdB von 10 und die Funktionsbehinderung von Seiten der Kniegelenke von 20. Den Gesamt-GdB schätze er unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 20 für den Teilverlust der linken Brust und eines Teil-GdB von 10 für die seelische Störung auf 30. Die Funktionsstörung der Kniegelenke wirke sich auf die Gehfähigkeit der Klägerin aus. Welche Wegstrecke die Klägerin noch zurücklegen könne, könne nicht in der gewünschten (objektiven) Form beantwortet werden, da die zurücklegbare Wegstrecke in entscheidender Weise von der subjektiven Schmerztoleranz abhängig sei. Auf jeden Fall bedingten die Behinderungen an den unteren Gliedmaßen und an der Wirbelsäule keinen GdB von 50. Die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen stünden der Teilnahme der Klägerin an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig entgegen.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat Dr. M. das orthopädisch-traumatologische Gutachten vom 03.11.2008 erstattet. Darin hat der Sachverständige als bestehende Körperschäden eine fixierte Brustwirbelsäulenkyphose, eine LWS-Skoliose, eine deutliche Bewegungseinschränkung beider Kniegelenke, einen Zustand nach Mamakarzinom mit Geschwulstentfernung der linken Brustdrüse 2001 und heute nachgewiesener Schwellneigung des linken Armes mit deutlicher Umfangsdifferenz links gegenüber rechts, einen Zustand nach Operation der rechten Brust (Kalzifikationen nach Angaben der Klägerin) und endgradige Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke genannt. Der Teil-GdB für die Beeinträchtigung von Seiten der Wirbelsäule betrage 20, für den von Seiten der Schultern 10 und für beide Kniegelenke 30. Auf orthopädischem Fachgebiet schlage er einen GdB von 40 vor. Übliche Wegstrecken im Ortsverkehr (etwa 2 km in einer halben Stunde) könne die Klägerin nicht mehr zu Fuß zurücklegen. Auf orthopädischem Fachgebiet bestehe kein Grund, weshalb sie nicht an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne.

In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 11.02.2009 hat Dr. Reiniger hierzu ausgeführt, dass sich ein Nervendehnungsschmerz bezüglich der Wirbelsäule in keinem der genannten Gutachten gefunden habe. Anhand der Bewegungsmaße der Wirbelsäule nach der Neutral-Null-Methode sei eine mittelschwere Beeinträchtigung für die Brust- und Lendenwirbelsäule nicht nachvollziehbar. Die funktionellen Auswirkungen seien auch in Verbindung mit der dokumentierten Wirbelsäulenverformung mit einem GdB von 10 zu bewerten. Auch die Schultergelenke seien mit einem GdB von 10 sachgerecht bewertet. Das von Dr. M. beschriebene Lymphödem links sei als Momentaufnahme zu werten. Ein höherer GdB als 10 könne hierfür nicht abgeleitet werden. Ein GdB von 20 für die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke sei anhand der gemessenen Bewegungsmaße ausreichend hoch bemessen.

Mit Urteil vom 10.09.2009 hat das SG die Klage abgewiesen. Die vorliegenden Gesundheitsstörungen bedingten keinen GdB von mehr als 80. Mit Ablauf des 25.01.2006 sei im Hinblick auf die Brustkrebserkrankung Heilungsbewährung eingetreten. Der Teilverlust der linken Brust rechtfertige gestützt auf die Stellungnahmen von Dr. J. und von Dr. B. einen Teil-GdB von 20. Für das Lymphödem sei nach den Auskünften von Dr. B. und Dr. D. ein Teil-GdB von 10 gerechtfertigt. Für die Erkrankung der Wirbelsäule komme nach dem Gutachten von Dr. D. ebenfalls nur ein Teil-GdB von 10 in Betracht. Die Erkrankungen der Kniegelenke seien, wiederum gestützt auf das Gutachten von Dr. D., mit einem Teil-GdB von 20 zu bewerten. Für die Erkrankung der Schultergelenke sei nach den Gutachten von Dr. D. und Dr. M. ein Teil-GdB von 10 gerechtfertigt. Die seelische Störung bedinge nach der Auskunft von Dr. J. einen Teil-GdB von 10. Ein Gesamt-GdB von mehr als 80 liege für den gesamten Zeitraum vor und nach Ablauf der Heilungsbewährung nicht vor. Auch die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" erfülle die Klägerin nach dem Gutachten des Dr. D. nicht. Ebenso wenig lägen die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vor.

Am 04.01.2010 hat die Klägerin gegen das am 11.12.2009 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, für die Brustkrebserkrankung könne auch nach Ablauf der Heilungsbewährung nicht nur ein GdB von 20 angenommen werden. Nachdem zwei Drittel der Brust entfernt worden seien, sei hierfür ein GdB mit 30 anzusetzen. Das Lymphödem trete alle ein bis zwei Monate für manchmal bis zu drei Wochen auf und sei deshalb mit einem GdB von mindestens 20 zu bewerten. Für die Wirbelsäulenbeschwerden sei ein GdB von 20 und für die Bewegungseinschränkung von Seiten der Kniegelenke ein GdB von mindestens 30 anzusetzen. Auch für die Bewegungseinschränkung im Schulterbereich müsse ein GdB von 20 angenommen werden. Die seelische Störung sei, auch wenn sie sich nicht in fachärztlicher Behandlung befinde, mit einem GdB von 20 zu bewerten. Insgesamt liege ein GdB von über 80 vor. Die Feststellung des Merkzeichens "G" sei deshalb gerechtfertigt, weil sie an Angstpsychosen leide. Diese führten auch dazu, dass sie dauerhaft nicht mehr an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen könne.

Nach erfolgter Anhörung hat der Beklagte mit Bescheid vom 20.04.2010 den Bescheid vom 29.06.2001 gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufgehoben und den GdB ab 23.04.2010 mit 30 festgestellt.

Der Beklagte hat im Übrigen ausgeführt, dass die Berufungsschrift keine neuen Tatsachen oder Gesichtspunkte zum Streitgegenstand beinhalte, die eine von der bisherigen Entscheidung abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. September 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 20. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Mai 2006 sowie des Bescheides vom 20. April 2010 zu verurteilen, bei ihr ab 20. Dezember 2004 einen Grad der Behinderung von mehr als 80 und die Nachteilsausgleiche "G" und "RF" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 20. April 2010 abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 (Sozialgerichtsgesetz -SGG-) liegen nicht vor.

Der Bescheid vom 20.04.2010 ist gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Über ihn entscheidet der Senat auf Klage (Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage, § 96 RandNr. 7).

Die Berufung und die Klage der Klägerin bleiben in der Sache ohne Erfolg. Zurecht hat das SG die Klage abgewiesen, soweit die Klägerin ab 20.12.2004 einen höheren GdB als 80 und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF" geltend macht. Auch der Bescheid des Beklagten vom 20.04.2010 ist nicht zu beanstanden. Insoweit hat der Beklagte wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zurecht unter Aufhebung des Bescheides vom 29.06.2001 den GdB ab 23.04.2010 mit 30 neu festgestellt.

Hinsichtlich der Darstellung der Rechtsgrundlagen für die Feststellung des GdB und der dabei anzuwendenden Bewertungsmaßstäbe nimmt der Senat auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug und sieht deshalb insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 153 Abs. 2 SGG).

Der geltend gemachte Anspruch auf einen höheren GdB als 80 für die Zeit ab 20.12.2004 ist aus den vom SG im angefochtenen Urteil ausführlich und überzeugend dargelegten Gründen insbesondere gestützt auf das von Dr. D. erstattete Gutachten, die versorgungsärztlichen Stellungnahmen und die von Dr. M. in seinem Gutachten erhobenen Befunde sowie die von den die Klägerin behandelnden Ärzten beschriebenen Bewegungseinschränkungen und Beeinträchtigungen als unbegründet zurückzuweisen.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Teilverlust der Brust im Sinne der Heilungsbewährung nur bis Januar 2006 nach Teil B Nr. 14.1 der VMG einen GdB von 80 rechtfertigte. Im Januar 2006 waren seit der Operation im Januar 2001 fünf Jahre vergangen, so dass - die Kontrolluntersuchungen waren jeweils ohne Befund - Heilungsbewährung eingetreten ist. Ab diesem Datum ist auf den eigentlichen Organverlust abzustellen. Der Verlust der Brust rechtfertigt nur dann einen GdB von 30, wenn die Brust komplett entfernt wurde. Dies war bei der Klägerin nicht der Fall. Es wurde ein 2/3-Resektion vorgenommen. Nach dem Arztbrief des Radiologen Dr. Harms vom 26.10.2005 verblieb deutlich eine kleine Restmamma links. Die Brustentfernung bedingt nach Teil B Nr. 14.1 der VMG daher nur einen GdB von 20.

Bezüglich des Lymphödems ist anzuführen, dass, wie vom SG unter Bezugnahme auf Teil B Nr. 9.2.3 der VMG ausgeführt, ein GdB von über 10 nur dann in Betracht kommt, wenn eine stärkere Umfangsvermehrung (mehr als 3 cm) und/oder eine erhebliche Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit der betroffenen Gliedmaße vorliegt. Eine Umfangsvermehrung des linken Armes um 3 bzw. 4 cm geht insoweit zwar aus dem von Dr. M. erstatteten Gutachten hervor. An anderer Stelle wird jedoch zu keiner Zeit über eine Umfangsvermehrung in diesem Umfang berichtet. Nicht nur Dr. D. bekundete keine Umfangsvermehrung, auch nach der sachverständigen Zeugenauskunft der die Klägerin behandelnden Frauenärzte Dr. B. und Anastassiadis bestand kein erhebliches Lymphödem des linken Armes. Ein solches ergibt sich auch nicht aus den Arztbriefen der die Klägerin behandelnden Radiologen und der sachverständigen Zeugenauskunft des Klinikverbunds Südwest vom 17.01.2008 und auch nach dem Entlassungsbericht über die im Jahr 2005 durchgeführte Heilbehandlung bestand nur eine Umfangvermehrung von 2 cm. Etwas anderes geht insbesondere auch nicht aus der sachverständigen Zeugenauskunft des Dr. J. hervor, nachdem dieser keine konkrete Umfangsvermehrung angegeben hat. Insgesamt steht deshalb ein GdB von 10 in Einklang mit den VMG und wird der Behinderung der Klägerin gerecht.

Im Hinblick auf die Bewertung der Wirbelsäulenbeschwerden ist über die Ausführungen des SG hinaus darauf hinzuweisen, dass Nervendehnungsschmerzen weder von Dr. D. noch von Dr. M. beschrieben werden und auch nicht aus dem Rehabilitationsentlassungsbericht über die im Jahr 2005 durchgeführte Heilbehandlung hervorgehen, so dass der Einschätzung von Dr. D. und den gehörten Versorgungsärzten folgend ein GdB von 10 hierfür angemessen und ausreichend ist.

Was die Kniegelenke angelangt, ist festzuzuhalten, dass weder Dr. D. noch Dr. M. einen Reizerguss im Bereich der Kniegelenke feststellten und auch kein Streckdefizit bestand. Allein die von den Gutachtern gemessenen Bewegungseinschränkungen würden nach Teil B Nr. 18.14 der VMG allenfalls einen GdB von 10 rechtfertigen. Lediglich wegen der arthrotischen Veränderungen ist ein GdB von 20 gerechtfertigt. Eine weitere Erhöhung auf mindestens 30, wie von der Klägerin begehrt, lässt sich auf die Arthrose nicht stützen.

Für die Schulter entspricht ein Teil-GdB von 10 sowohl dem Gutachten von Dr. D. als auch demjenigen von Dr. M. und steht auch im Einklang mit den Einschätzungen der Versorgungsärzte (Teil B Nr. 18.13 der VMG). Auch der ausweislich des Rehabilitationsentlassungsbericht aus dem Jahr 2005 angegebene Wert für die Anteflexion links bis maximal 90° bei der Eingangsuntersuchung rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Mithilfe der durchgeführten Maßnahmen konnte eine Linderung erreicht werden.

Für die seelische Störung kommt auch kein höherer GdB als 10 in Betracht. Die Klägerin befindet sich weder in fachärztlicher Behandlung noch wurde von Dr. J. eine medikamentöse Behandlung eingeleitet. Die ausweislich des Rehabilitationsentlassungsberichts über die im Jahr 2005 begonnene medikamentöse Behandlung wurde offensichtlich nicht fortgeführt.

Vor Ablauf der Heilungsbewährung am 26.01.2006 betrug der Gesamt-GdB unter Zugrundelegung von Teil-GdB-Werten von 80 für den Teilverlust der linken Brust und jeweils 10 für die Lymphstauung des linken Armes, die Wirbelsäulenbeschwerden und die seelische Störung und einem Teil-GdB-Wert von 20 für die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke dem SG folgend nicht mehr als 80 (Teil A Nr. 3 der VMG). Unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 20 für den Teilverlust der linken Brust nach Ablauf der Heilungsbewährung bei im Übrigen gleichbleibenden Teil-GdB-Werten ist bis 22.04.2010 ebenfalls keinesfalls ein höherer GdB als 80 gerechtfertigt.

Die Feststellung des Merkzeichens "G" scheitert, worauf das SG in nicht zu beanstandender Weise hingewiesen hat, daran, dass bei der Klägerin keine Funktionsstörungen im Bereich der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Auch die seelische Störung der Klägerin mit einem Teil-GdB von 10 rechtfertigt - auch in der Zusammenschau - keinesfalls die Zuerkennung des Merkzeichens "G".

Die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" steht der Klägerin, wie vom SG in ebenfalls nicht zu beanstandender Weise erkannt und ausgeführt, deshalb nicht zu, weil sie trotz der aufgeführten Funktionsstörungen in der Lage ist, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

Soweit der Senat gegen den Bescheid vom 20.04.2010 auf Klage entscheidet, ist die vorliegend erhobene Klage als reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) zu qualifizieren, deren Begründetheit sich nach dem Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens beurteilt (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 54 Rn. 33).

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - wie hier der Bescheid vom 29.06.2001 - mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ob eine wesentliche Änderung vorliegt, ist durch Vergleich der für die letzte bindend gewordene Feststellung maßgebenden Befunde mit denjenigen zu ermitteln, die bei der Prüfung der Neufeststellung vorliegen. Eine wesentliche Änderung liegt vor, wenn der veränderte Gesundheitszustand mehr als sechs Monate angehalten hat oder voraussichtlich anhalten wird und die Änderung des GdB wenigstens 10 beträgt (Teil A Nr. 7a der VMG).

Seit Erlass des Bescheides vom 29.06.2001 ist eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen dadurch eingetreten, dass hinsichtlich der Karzinomerkrankung der Klägerin Heilungsbewährung eingetreten ist. Mit der Heilungsbewährung wird pauschalierend anerkannt, dass nach Transplantationen innerer Organe und nach der Behandlung bestimmter Krankheiten - insbesondere Tumorerkrankungen -, die zu Rezidiven neigen, bei der GdB-Bemessung eine Heilungsbewährung abzuwarten ist. In dieser Zeit, die in der Regel fünf Jahre ab dem Zeitpunkt, an dem etwa die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann, andauert, ist abzuwarten, ob sich der Zustand des Betroffenen stabilisiert oder ob neue Krankheitsschübe auftreten. Diese Zeit ist häufig durch eine außerordentliche seelische und körperliche Belastung des Erkrankten gekennzeichnet. Deshalb wird während des Zeitraums der Heilungsbewährung ein höherer GdB-Wert angenommen, als dies üblicherweise der Fall ist (BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVS 14/94). Nach Teil B Nr. 14.1 der VMG ist nach Entfernung eines malignen Brustdrüsentumors in den ersten fünf Jahren eine Heilungsgewährung abzuwarten.

Im Jahr 2010 und damit mehr als neun Jahre nach der Operation haben bei der Klägerin keine Hinweise auf ein Rezidiv oder eine Progredienz des Tumorleidens vorgelegen, wie der Auskunft der behandelnden Frauenärzte Dr. B. und Anastassiadis und den radiologischen Arztbriefen sowie der sachverständigen Zeugenauskunft des Klinikverbunds Südwest entnommen werden kann. Der Beklagte hat damit für den Verlust der Brust links - wie ausgeführt - zutreffend einen Teil-GdB von 20 festgestellt. Auch die übrigen für die mit zwischenzeitlich ergangenem Bescheid vom 20.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2006 festgestellten Behinderungen und die insoweit vergebenen Teil-GdB-Werte sind - wie ausgeführt - nicht zu beanstanden. Der GdB wurde vom Beklagten zurecht mit 30 ab 23.04.2010 festgestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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