S 97 R 4899/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
97
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 97 R 4899/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 8 R 564/10
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.Monatliche Rentenzahlungsansprüche, die auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches für Zeiten vor der tatsächlichen Antragstellung rückwirkend entstanden, sind gemäß den Vorgaben des § 44 SGB I zu verzinsen.

2.Die sozialrechtliche Herstellung fingiert die rechtzeitige rechtmäßige Bewilligung der Rente, nicht aber auch die Auszahlung vor dem tatsächlichen Zahlungszeitpunkt.

3. Der über die sozialrechtliche Herstellung fingierte Zeitpunkt der Antragstellung für die Primärleistung ist auch für die Verzinsung nach sozialrechtlicher Herstellung nicht rechtzeitig bewirkter Zahlungen auf die Primärforderung im Rahmen der Vorschrift des § 44 Abs 2 SGB I maßgeblich (Rentenantrag im Monat der Vollendung des maßgeblichen Lebensalters). Inwieweit Verzögerungen der Mitwirkung des Antragstellers im Verwaltungsverfahren dazu führen, dass der „vollständige Leistungsantrag“ erst später angenommen werden kann, musste für den vorliegenden Fall nicht entschieden werden.
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2007 wird geändert. Die Beklagte wird verurteilt, an Frau F H 3.173,43 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zur Hälfte zu erstatten. Die Berufung wird auch für den Kläger zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten nur noch über die Verzinsung der Nachzahlung einer Rente, die über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auch für Zeiträume vor der tatsächlichen Antragstellung gewährt wurde.

Der im ... 1934 geborene Kläger beantragte am 22. Mai 2006 bei der Beklagten Altersrente. Die Beklagte erläuterte dem Kläger daraufhin, dass er wegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs Rente sowohl ab Dezember 1999 als auch eine höhere Rente wegen des höheren Zugangsfaktors ab Antragstellung erhalten könne und sein Wahlrecht ausüben möge. Der Kläger entschied sich für den Rentenbeginn im Dezember 1999. Daraufhin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Juli 2006 Rente rückwirkend ab 1. Dezember 1999. Über den Nachzahlungsbetrag für Zeiträume vor Beginn von Leistungen durch das Sozialamt konnte der Kläger Ende August 2006 verfügen.

Mit Schreiben vom 10. August 2006 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid ein und wandte sich insbesondere gegen die Erstattung aus dem Nachzahlungsanspruch an das Sozialamt, weil er seiner ehemaligen Ehefrau im Dezember 1987 im Hinblick auf deren Unterhaltsansprüche die Rente abgetreten habe. Die Abtretung sei älter als die Erstattungsforderung des Sozialamtes und würde dieser deshalb vorgehen. Er machte zudem Zinsansprüche geltend. Die Beklagte habe die Aufklärungspflicht verletzt und könne bezüglich der Zinsen nicht anders behandelt werden als bei Antragstellung im November 1999.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2007 zurück. Die Abtretung sei nicht vor der Bescheiderteilung bekannt gewesen. Außerdem habe der Rentenbetrag unter den Pfändungsfreigrenzen gelegen und eine Abtretung deshalb ausgeschlossen. Maßgebend für die Verzinsung sei der Zeitpunkt der tatsächlichen Rentenantragstellung. Der Kläger habe noch im August 2006 über den Nachzahlungsbetrag verfügen können, weshalb eine Verzinsung nicht zu erfolgen habe.

Mit seiner Klage vom 25. Juni 2007 hat der Kläger seine Begehren aus dem Widerspruchsverfahren weiter verfolgt. Er hat die Klage mit Schreiben vom 15. Dezember 2008 auf die Verzinsung beschränkt. Die Klage mache er als gewillkürter Prozessstandschafter für die ehemalige Ehefrau geltend.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2007 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, an Frau F H 3.435,49 EUR zu zahlen.

Die Beklagte hält ihre Entscheidung für zutreffend und beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze, das Protokoll und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Der Kläger kann als gewillkürter Prozessstandschafter die Zahlung der von ihm abgetretenen Forderung zugunsten seiner ehemaligen Ehefrau geltend machen.

Der Kläger kann die Zahlung von 3.173,43 EUR an Frau F H nach § 44 SGB I verlangen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2007 ist insoweit rechtswidrig, als der Kläger Anspruch auf Verzinsung der Rentennachzahlung gemäß § 44 SGB I hatte und war entsprechend zu ändern. Die Klage war abzuweisen, soweit der Kläger die Zinsforderung bereits ab Rentenbeginn und auf kleinere Beträge als ganze Euro-Beträge verlangt hat.

Nach § 44 Abs 1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen. Die Verzinsung beginnt nach Abs 2 der Vorschrift frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger, beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Verzinst werden volle Euro-Beträge (Abs 3 Satz 1).

Die Vorschrift geht davon aus, dass Ansprüche auf Sozialleistungen Rechtsansprüche sind und bezweckt auf dieser Grundlage, durch eine angemessene Verzinsung als akzessorische Nebenleistung die Nachteile verspäteter Zahlung auszugleichen (BT-Drs 7/868, S 30; Seewald in Kasseler Kommentar § 44 SGB I, RdNr 2; Timme in LPK-SGB I, 2. Aufl, 2008, § 44 RdNr 2; Rolfs in Hauck/Noftz: SGB I K § 44 RdNr 1). Die Vorschrift soll eine Stärkung der Rechtsstellung des Anspruchsinhabers bewirken, in dem sie die sozialrechtlichen Ansprüche weitgehend den schuldrechtlichen Ansprüchen angleicht (Seewald aaO). Sie dient der Beschleunigung des Verfahrens und verstärkt den Anreiz für eine zügige Leistungsgewährung (vgl Seewald aaO). Im Hinblick auf diese rechtsstaatlichen Gesichtspunkte und die Vereinfachung des Verfahrens ist ein Verschulden im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht erforderlich. Die Verzinsungsvorschrift dient damit zugleich einer wirksamen Gesetzesexekution wie auch einem (pauschalierten) Nachteilsausgleich.

Unter Berücksichtigung dieser Gesetzeszwecke sieht die Kammer es als notwendig an, monatliche Rentenzahlungsansprüche, die auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches für Zeiten vor der Antragstellung rückwirkend entstanden sind, gemäß den Vorgaben des § 44 SGB I zu verzinsen (so auch Mrozynski: SGB I, 3. Aufl, 2003, § 44 RdNr 10). Es handelt sich dabei um laufende Sozialleistungen. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass mit der herrschenden Meinung über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch Zinsansprüche als Sekundäransprüche/Nebenforderungen nicht unmittelbar begründet werden können (vgl dazu Lilge in Berliner Kommentar SGB I, 2. Aufl. 2009, § 44 SGB I, RdNr 7 mwN, Rolfs in Hauck/Noftz: SGB I K § 44 RdNr 14; Mrozynski: SGB I, 3. Aufl, 2003, § 44 RdNr 1 und 10). Dies gilt jedoch nach Auffassung der Kammer nicht für sozialrechtlich hergestellte Primäransprüche, die verspätet gezahlt werden. Über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch wird der Betroffene so gestellt, als hätte die Behörde die rechtmäßige Rechtsgestaltung richtig und rechtzeitig vorgenommen. Dies stellt den Betroffenen im Hinblick auf eine unterbliebene Rentenantragstellung so, als wäre er von der Behörde rechtzeitig angesichts der Vollendung des 65. Lebensjahres (bzw des Eintritts des Alters für die Regelaltersrente) auf das Erfordernis des Antrages hingewiesen worden und hätte daraufhin rechtzeitig den Antrag gestellt, so dass ihm rechtzeitig die Leistung bewilligt worden wäre. Darüber erhält der Betroffene die Rentenzahlungen als laufende Sozialleistungen.

Die rechtzeitige Leistungsbewilligung ist jedoch von der Erfüllung der daraus folgenden Verpflichtung zur Zahlung der Leistung zu unterscheiden. Dies ergibt sich schon aus der Vorschrift des § 44 SGB I selbst, die auch die Verzinsung für Zeiträume nach der Entscheidung der Sozialverwaltung vorsieht. Wird also der Leistungsberechtigte über die sozialrechtliche Herstellung so gestellt, als hätte er den Rentenantrag rechtzeitig, also noch im Monat der Vollendung des maßgeblichen Lebensalters, gestellt, muss dieser Zeitpunkt der Antragstellung auch für die Verzinsung nach sozialrechtlicher Herstellung nicht rechtzeitig bewirkter Zahlungen im Rahmen der Vorschrift des § 44 Abs 2 SGB I maßgeblich sein. Mit den Zwecken des § 44 SGB I und unter systematischen Aspekten erscheint diese Auslegung zwingend, insbesondere bedenkend, dass Rechtsgrundlage für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch Art 20 GG und § 2 SGB I sind, also die umfassende Verwirklichung der sozialen Rechte vom Gesetzgeber gefordert wird und § 44 SGB I die Abwendung von Nachteilen angesichts verspäteter Bewirkung der Leistungen an die Berechtigten bezweckt. Inwieweit Verzögerungen der Mitwirkung des Antragstellers im Verwaltungsverfahren dazu führen, dass der "vollständige Leistungsantrag" erst später angenommen werden kann, muss für den vorliegenden Fall nicht entschieden werden, weil hier alle relevanten Angaben mit dem Leistungsantrag erfolgten und die Beklagte mit den gespeicherten Daten des Versicherungsverlaufs die Rente unverzüglich feststellen konnte.

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass der Kläger nach seiner in der sozialrechtlichen Herstellung begründeten Wahl des früheren Rentenbeginns auch für die Verzinsung so zu stellen ist, als hätte er den Rentenantrag noch im Monat der Vollendung seines 65. Lebensjahres, also im November 1999 (vollständig) gestellt. Dann waren die verspätet (nämlich erst im August 2006) erfüllten monatlichen Rentenansprüche beginnend ab Juni 2000 zu verzinsen. Unter Beachtung dieses Zinsbeginns und, dass nur volle Euro-Beträge zu verzinsen sind (§ 44 Abs 3 Satz 1 SGB I), errechnet sich der titulierte Zahlungsanspruch des Klägers. Einen weitergehenden Anspruch kann der Kläger nicht auf das Gesetz stützen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG. Sie berücksichtigt den anteiligen Erfolg der Rechtsverfolgung durch den Kläger. Die Berufung war für den Kläger wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen. Im Hinblick auf die Beschwer durch das Urteil ist die Berufung für die Beklagte ohne Zulassung gegeben.
Rechtskraft
Aus
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