L 18 AS 1141/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 115 AS 14728/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1141/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Mai 2010 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 15. Juli 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren, und zwar der An- tragstellerin zu 1) monatlich 184,- EUR und den Antragstellern zu 2) und 3) monat- lich 159,- EUR. Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen. Den Antragstellern wird für das erstinstanzliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Verfahrensbevoll- mächtigten bewilligt. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt ein Sechstel der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechts- schutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter zu entscheiden. Im Hinblick auf den verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatz effektiven Rechtsschutzes wurde von einer erneuten Anhörung des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren abgesehen, zumal die gegenseitigen Rechtsstandpunkte erstinstanzlich bereits vorgetragen worden sind.

Die Beschwerde der Antragsteller ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde nicht begründet und war zurückzuweisen.

Soweit die Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung geltend machen, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund für die begehrte gerichtliche Anordnung iS eines unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses. Eine derzeit drohende Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit der Antragsteller ist weder vorgetragen worden noch im Übrigen ersichtlich. Zahlungsrückstände allein rechtfertigen nicht den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Den Antragstellern ist daher ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zumutbar, zumal in § 22 Abs. 5 Satz 1 und 2 und Abs. 6 SGB II Regelungen zur Sicherung der Unterkunft selbst für den Fall einer – hier nicht in Rede stehenden – Räumungsklage enthalten sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 – nicht veröffentlicht).

Für die Zeit ab Zustellung des vorliegenden Beschlusses bis zum 15. Juli 2010 war der Antragsgegner jedoch im Wege einer Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG im tenorierten Umfang zu verpflichten, und zwar unter Berücksichtigung einer verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung und im Hinblick auf die bislang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses bei nichtdeutschen Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht sich – wie hier – möglicherweise aus dem Zweck der Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizgG) ergibt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II). Dabei war auch zu berücksichtigen, dass das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizgG mittlerweile – und auch für den tenorierten Zeitraum -nicht (mehr) aus der Arbeitsuche resultieren dürfte, sondern aus ihrer zwischenzeitlich erlangten Eigenschaft als Arbeitnehmerin. Ungeachtet dessen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dann ohnehin nicht mehr einschlägig wäre, begegnet es unter Berücksichtigung der durch Art. 39 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU erheblichen rechtlichen Bedenken, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II insoweit mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH - (vgl. Urteil vom 4. Juni 2009 – C-22/08 – juris) kann ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates hergestellt hat, sich auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Das Bestehen einer solchen tatsächlichen Verbindung kann sich bereits daraus ergeben, dass der Betreffende während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem Mitgliedstaat gesucht hat, wie dies bei der Antragstellerin zu 1) der Fall war. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 betrifft demgegenüber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe". Der EuGH (vgl. aaO) weist insoweit aber ausdrücklich darauf hin, dass eine Voraussetzung, wie sie in Deutschland für die Grundsicherung für Arbeitsuchende vorgesehen sei, wonach der Betreffende erwerbsfähig sein müsse, ein Hinweis darauf sein könne, dass diese Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle. Im letztgenannten Fall greift Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 aber von vornherein nicht.

Da insbesondere die Prüfung ggf. anzurechnenden Einkommens (zB aus Kindergeld) auch noch weitere Sachermittlungen erfordert, war im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris). Angesichts des existenzsichernden Charakters der begehrten Leistungen wiegen die den Antragstellern drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des Antrags und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren ungleich schwerer als der Nachteil einer Überzahlung für den Antragsgegner. Aus diesem Grund war der Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, das absolute Existenzminimum der Antragstellerin zu sichern. Das Gericht hat sich insoweit an dem Wert für den notwendigen Bedarf ohne Unterkunftskosten orientiert, der sich aus § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz ergibt. Die einstweilige Anordnung ergeht für die Zeit bis 15. Juli 2010. Denn zu diesem Zeitpunkt wird nach dem vorgelegten Arbeitsvertrag die erste Gehaltszahlung der Antragstellerin zu 1) fällig. Den Antragstellern bleibt es unbenommen, nach Ablauf dieses Zeitraums gegebenenfalls erneut bei dem Sozialgericht um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen, sofern das ausgezahlte Entgelt zzgl. etwa gewährter Kindergeldleistungen für die Antragsteller zu 2) und 3) nicht zur Deckung ihres Bedarfs ausreichen sollte.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Der – bedürftigen - Antragstellerin war Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten zu bewilligen, weil die Rechtsverfolgung zumindest teilweise Aussicht auf Erfolg hatte (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved