Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 2 U 47/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 51/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 17/12 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ist nach einem Arbeitsunfall die MdE wegen einer Augenverletzung zunächst auf 20 vH festgesetzt und tritt nachträglich Erblindung als Unfallfolge ein (MdE 25 vH), ist der UV-Träger entgegen dem Wortlaut von § 73 Abs.3 SGB VII verpflichtet, eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu gewähren. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG).
Das verwaltungsverfahrensrechtliche Instrumentarium steht dem UV-Träger mit der Norm des § 46 Abs. 1 SGB X zur Verfügung. Insoweit liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor.
Das verwaltungsverfahrensrechtliche Instrumentarium steht dem UV-Träger mit der Norm des § 46 Abs. 1 SGB X zur Verfügung. Insoweit liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor.
Der Bescheid der Beklagten vom 11.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.01.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu gewähren.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der 1965 geborene Kläger erlitt am 08.09.1993 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Verletzung am rechten Auge zuzog. In einem augenärztlichen Gutachten vom 21.06.1996 schätzte Herr Dr. KE. die MdE auf 20 vH und wies gleichzeitig darauf hin, dass bei dem Kläger eine Erblindung in Zukunft drohe. Die Beklagte gewährte ab 01.01.1996 eine Rente nach einer MdE von 20 vH (Bescheid vom 13.11.1996, gerichtlicher Vergleich vom 09.09.1999 - Az. des Sozialgerichts Kassel: S 3/U-498/98 - ). Die Unfallfolgen wurden im Bescheid vom 13.11.1996 wie folgt festgestellt: "Abgelaufene Prellungsverletzung des rechten Auges mit nachfolgender Implantation einer Hinterkammerlinse und Sehnervenschwund, dadurch bedingter Beeinträchtigung der Sehschärfe (Visus 0,1), zeitweiligen Doppelbildwahrnehmungen, Auswärtschielen, Gesichtsfeldeinschränkungen sowie subjektiven Restbeschwerden."
In Juni 2002 machte der Kläger eine Verschlechterung der Unfallfolgen geltend. Eine augenärztliche Begutachtung bei Herrn Dr. BN. vom 22.08.2002 ergab, dass das rechte Auge wegen seiner geringen Funktion jetzt einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei, die MdE betrage 25 vH Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12.09.2002 die Gewährung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH ab, da eine wesentliche Änderung nicht vorliege. Der Bescheid wurde bindend.
Im Dezember 2007 bat der Kläger um Überprüfung dieser Entscheidung. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11.01.2008 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 12.9.2002 lägen nicht vor. Eine wesentliche Änderung liege nur dann vor, wenn sich die festgestellte MdE um mehr als 5 vH erhöhe.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29.02.2008) hat der Kläger am 05.03.2008 zum Sozialgericht Kassel Klage erhoben. Wenn die Unfallfolgen bereits anfänglich vorhanden gewesen wären, hätten sie keine MdE-Toleranz erlaubt. Zudem könne sich das Auge nicht weiter verschlechtern, da es bereits einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei mit der Folge, dass er zu keinem Zeitpunkt die vorgesehene MdE erhalten könne. Er vertrete daher die Auffassung, dass § 73 Abs. 3 SGB VII keine Anwendung finden dürfe, da er hierdurch dauerhaft seiner Rechte verlustig ginge. Darüber hinaus sei anerkannt, dass der Unfallversicherungsträger zugunsten des Versichten bei geringgradiger Verschlimmerung ausnahmsweise eine Erhöhung vornehmen könne, wenn die Verschlimmerung zu Befunden führe, die, wären sie bereits anfänglich vorhanden gewesen, keine MdE-Toleranz erlaubt hätten, so z.B. bei der Verschlimmerung einer Sehschwäche von 20 vH auf Sehverlust auf 25 vH Ausdrücklich werde bestritten, dass die Beklagte in diesem Zusammenhang ihr Ermessen ausgeübt habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 11.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01.01.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu gewähren,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf den eindeutigen Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung der Kammer gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 11.01.2008 (in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte hätte auf den Überprüfungsantrag vom 07.12.2007 im Verwaltungswege den Bescheid vom 12.09.2002 aufheben müssen und dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH gewähren müssen.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch X (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Die Voraussetzungen dieser Norm liegen vor, denn der Bescheid vom 12.09.2002 war rechtswidrig. Das Recht war in diesem Bescheid unrichtig angewandt worden, denn die Beklagte hätte den Antrag auf höhere Verletztenrente des Klägers nicht ablehnen dürfen.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass das Sehvermögen auf dem rechten Auge des Klägers so weit herabgesetzt ist, dass von einer praktischen Blindheit ausgegangen werden muss. Es ist ferner unstreitig und entspricht den Erfahrungswerten im Unfallversicherungsrecht, dass für ein solches Ausmaß der Sehstörung regelmäßig eine MdE von 25 vH anzusetzen ist. Das Gericht stimmt diesen Auffassungen der Beteiligten zu.
Von (praktischer) Erblindung des rechten Auges des Klägers ist spätestens auszugehen seit dem Tag der entsprechenden ärztlichen Dokumentation durch das augenärztliche Gutachten des Herrn Dr. BN. vom 22.08.2002 (Untersuchungstag: 21.08.2002).
Die Beklagte verweist zutreffend darauf, dass gemäß § 73 Abs. 3 SGB VII bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X nur dann wesentlich ist, wenn sie mehr als 5 vH beträgt. Diese Norm ist auf den Fall des Klägers auch anwendbar, weil sie gemäß § 214 Abs. 3 Satz 2 SGB VII auch für Versicherungsfälle vor dem 01.01.1997 gilt.
Die wortgetreue Anwendung des § 73 Abs. 3 SGB VII verbietet im vorliegenden Fall die Erhöhung der Verletztenrente, weil der Kläger vor Eintritt der Verschlimmerung eine Rente nach einer MdE von 20 vH bezogen hat und die Änderung mithin nur 5 vH ausmacht. Gleichwohl ist die Beklagte verpflichtet, die Verletztenrente des Klägers neu, nämlich nach einer MdE von 25 vH festzusetzen. Dies ergibt sich aus Folgendem: Die Weitergewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH trotz eindeutig vorliegender MdE von 25 vH bedeutet eine offensichtliche Gerechtigkeitslücke. Denn anders als bei den sonst üblichen Schätzungen der MdE im Unfallversicherungsrecht, bei denen gewisse Ungenauigkeiten nicht auszuschließen sind, ist bei einer Erblindung bzw. praktischen Erblindung immer eine MdE von 25 vH anzusetzen (vgl. Ricke in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 56 , Rdnr. 43). Liegt die Erblindung bereits bei der Erstfestsetzung der Verletztenrente vor, bekommt der Unfallverletzte sofort die MdE von 25 vH, wird aber zunächst eine MdE von 20 vH festgesetzt, kann der Unfallverletzte trotz völlig identischer Unfallfolge nie in den Genuss der Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH kommen, wenn man dem Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII folgt. Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII, der auch die Grenze einer verfassungskonformen Auslegung bildet, ist die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH weder befugt noch gar verpflichtet. Andererseits ist sie jedoch als Teil der staatlichen Verwaltung an höherrangiges Recht, insbesondere an den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG -) gebunden. Zudem ist sie gemäß § 2 Abs. 2, 2. Hs. SGB I verpflichtet, bei der Auslegung der Vorschriften des Gesetzbuches sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Daraus folgt, dass die Beklagte gehalten ist, das ihr zur Verfügung stehende verwaltungsverfahrensrechtliche Instrumentarium einzusetzen, welches es ermöglicht, einen möglichst weitgehend dem Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechenden Zustand herzustellen. Zudem kodifiziert § 73 Abs. 3 SGB VII lediglich die frühere Rechtsprechung des BSG zur Frage der wesentlichen Änderung bei MdE-Erhöhungen. Diese Rechtsprechung beruht wiederum auf der Tatsache, dass die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor behaftet ist und insoweit durch einen unvermeidlichen Toleranzbereich gekennzeichnet ist. Eine Abweichung der Einschätzung um lediglich 5 % liegt innerhalb des Toleranzbereiches (vgl. BSG, Urteil vom 02.03.1971 – 2 RU 300/68). Etwas anderes muss aber dann beachtet werden, wenn die Bewertung der MdE nicht auf einer Schätzung, sondern auf einem gefestigten allgemeinen Erfahrungsgrundsatz – wie hier – beruht. Dann ergäbe sich ein eklatanter Gleichheitsverstoß, wenn der Betroffene nicht in den Genuss der seiner tatsächlichen Einschränkung entsprechenden Verletztenrente käme.
Als Rechtsgrundlage für eine solche, den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtende Herstellung der Rechte des Klägers, ist § 46 SGB X anzuwenden (vgl. Ricke, aaO, § 73 SGB VII, Rdnr. 14; Kranig in: Hauck/Haines, Kommentar zum SGB VII, § 73, Rdnr. 25). Nach dieser Norm kann die Verwaltungsbehörde einen rechtmäßigen, nicht begünstigenden Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm sind erfüllt: Der ursprüngliche Rentenbescheid war bei seinem Erlass rechtmäßig; er stellt sich insofern als nicht begünstigend dar, als er nur eine Teilrente nach einer MdE von 20 vH festgestellt hat, eine darüber hinausgehende Rente aber konkludent abgelehnt hat. Ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts (MdE 20 vH) müsste nicht erneut erlassen werden, da nach dem neuen Stand der Dinge eine MdE von 25 vH zutrifft.
Bei § 46 Abs. 1 SGB X handelt es sich um eine Ermessensnorm. Der Verwaltung steht also grundsätzlich ein Entschließungsermessen zu, ob sie die Norm anwendet oder nicht. Im hier gegebenen Fall liegt jedoch eine Ermessensreduzierung auf Null vor. Denn die Gewährung einer Verletztenrente nach der tatsächlich vorliegenden MdE ist die einzig rechtmäßige Entscheidung, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Gebot der möglichst weitgehenden Verwirklichung der sozialen Rechte (§ 2 Abs. 2, 2. Halbsatz SGB I) entspricht.
Die Beklagte war nach alledem bereits bei Erlass des Bescheides vom 12.09.2002 gehalten, den ihr gesetzlich eingeräumten Spielraum (§ 46 Abs. 1 SGB X) auszunutzen und dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu gewähren.
Der Kläger hat Anspruch auf die erhöhte Verletztenrente ab dem 01.01.2003. Denn § 44 Abs. 4 SGB X legt die Rückwirkung für insgesamt vier Jahre vor Beginn des Kalenderjahres des Eingangs des Antrags auf Rücknahme fest. Der Antrag wurde im Dezember 2007 gestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung brauchte die Kammer nicht zu treffen, weil Berufungsbeschränkungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegen.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.01.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu gewähren.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der 1965 geborene Kläger erlitt am 08.09.1993 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine Verletzung am rechten Auge zuzog. In einem augenärztlichen Gutachten vom 21.06.1996 schätzte Herr Dr. KE. die MdE auf 20 vH und wies gleichzeitig darauf hin, dass bei dem Kläger eine Erblindung in Zukunft drohe. Die Beklagte gewährte ab 01.01.1996 eine Rente nach einer MdE von 20 vH (Bescheid vom 13.11.1996, gerichtlicher Vergleich vom 09.09.1999 - Az. des Sozialgerichts Kassel: S 3/U-498/98 - ). Die Unfallfolgen wurden im Bescheid vom 13.11.1996 wie folgt festgestellt: "Abgelaufene Prellungsverletzung des rechten Auges mit nachfolgender Implantation einer Hinterkammerlinse und Sehnervenschwund, dadurch bedingter Beeinträchtigung der Sehschärfe (Visus 0,1), zeitweiligen Doppelbildwahrnehmungen, Auswärtschielen, Gesichtsfeldeinschränkungen sowie subjektiven Restbeschwerden."
In Juni 2002 machte der Kläger eine Verschlechterung der Unfallfolgen geltend. Eine augenärztliche Begutachtung bei Herrn Dr. BN. vom 22.08.2002 ergab, dass das rechte Auge wegen seiner geringen Funktion jetzt einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei, die MdE betrage 25 vH Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12.09.2002 die Gewährung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH ab, da eine wesentliche Änderung nicht vorliege. Der Bescheid wurde bindend.
Im Dezember 2007 bat der Kläger um Überprüfung dieser Entscheidung. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11.01.2008 ab. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 12.9.2002 lägen nicht vor. Eine wesentliche Änderung liege nur dann vor, wenn sich die festgestellte MdE um mehr als 5 vH erhöhe.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29.02.2008) hat der Kläger am 05.03.2008 zum Sozialgericht Kassel Klage erhoben. Wenn die Unfallfolgen bereits anfänglich vorhanden gewesen wären, hätten sie keine MdE-Toleranz erlaubt. Zudem könne sich das Auge nicht weiter verschlechtern, da es bereits einem erblindeten Auge gleichzusetzen sei mit der Folge, dass er zu keinem Zeitpunkt die vorgesehene MdE erhalten könne. Er vertrete daher die Auffassung, dass § 73 Abs. 3 SGB VII keine Anwendung finden dürfe, da er hierdurch dauerhaft seiner Rechte verlustig ginge. Darüber hinaus sei anerkannt, dass der Unfallversicherungsträger zugunsten des Versichten bei geringgradiger Verschlimmerung ausnahmsweise eine Erhöhung vornehmen könne, wenn die Verschlimmerung zu Befunden führe, die, wären sie bereits anfänglich vorhanden gewesen, keine MdE-Toleranz erlaubt hätten, so z.B. bei der Verschlimmerung einer Sehschwäche von 20 vH auf Sehverlust auf 25 vH Ausdrücklich werde bestritten, dass die Beklagte in diesem Zusammenhang ihr Ermessen ausgeübt habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 11.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01.01.2003 eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 25 vH zu gewähren,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf den eindeutigen Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung der Kammer gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 11.01.2008 (in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.02.2008) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte hätte auf den Überprüfungsantrag vom 07.12.2007 im Verwaltungswege den Bescheid vom 12.09.2002 aufheben müssen und dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH gewähren müssen.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch X (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Die Voraussetzungen dieser Norm liegen vor, denn der Bescheid vom 12.09.2002 war rechtswidrig. Das Recht war in diesem Bescheid unrichtig angewandt worden, denn die Beklagte hätte den Antrag auf höhere Verletztenrente des Klägers nicht ablehnen dürfen.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass das Sehvermögen auf dem rechten Auge des Klägers so weit herabgesetzt ist, dass von einer praktischen Blindheit ausgegangen werden muss. Es ist ferner unstreitig und entspricht den Erfahrungswerten im Unfallversicherungsrecht, dass für ein solches Ausmaß der Sehstörung regelmäßig eine MdE von 25 vH anzusetzen ist. Das Gericht stimmt diesen Auffassungen der Beteiligten zu.
Von (praktischer) Erblindung des rechten Auges des Klägers ist spätestens auszugehen seit dem Tag der entsprechenden ärztlichen Dokumentation durch das augenärztliche Gutachten des Herrn Dr. BN. vom 22.08.2002 (Untersuchungstag: 21.08.2002).
Die Beklagte verweist zutreffend darauf, dass gemäß § 73 Abs. 3 SGB VII bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X nur dann wesentlich ist, wenn sie mehr als 5 vH beträgt. Diese Norm ist auf den Fall des Klägers auch anwendbar, weil sie gemäß § 214 Abs. 3 Satz 2 SGB VII auch für Versicherungsfälle vor dem 01.01.1997 gilt.
Die wortgetreue Anwendung des § 73 Abs. 3 SGB VII verbietet im vorliegenden Fall die Erhöhung der Verletztenrente, weil der Kläger vor Eintritt der Verschlimmerung eine Rente nach einer MdE von 20 vH bezogen hat und die Änderung mithin nur 5 vH ausmacht. Gleichwohl ist die Beklagte verpflichtet, die Verletztenrente des Klägers neu, nämlich nach einer MdE von 25 vH festzusetzen. Dies ergibt sich aus Folgendem: Die Weitergewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH trotz eindeutig vorliegender MdE von 25 vH bedeutet eine offensichtliche Gerechtigkeitslücke. Denn anders als bei den sonst üblichen Schätzungen der MdE im Unfallversicherungsrecht, bei denen gewisse Ungenauigkeiten nicht auszuschließen sind, ist bei einer Erblindung bzw. praktischen Erblindung immer eine MdE von 25 vH anzusetzen (vgl. Ricke in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 56 , Rdnr. 43). Liegt die Erblindung bereits bei der Erstfestsetzung der Verletztenrente vor, bekommt der Unfallverletzte sofort die MdE von 25 vH, wird aber zunächst eine MdE von 20 vH festgesetzt, kann der Unfallverletzte trotz völlig identischer Unfallfolge nie in den Genuss der Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH kommen, wenn man dem Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII folgt. Nach dem Wortlaut des § 73 Abs. 3 SGB VII, der auch die Grenze einer verfassungskonformen Auslegung bildet, ist die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH weder befugt noch gar verpflichtet. Andererseits ist sie jedoch als Teil der staatlichen Verwaltung an höherrangiges Recht, insbesondere an den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG -) gebunden. Zudem ist sie gemäß § 2 Abs. 2, 2. Hs. SGB I verpflichtet, bei der Auslegung der Vorschriften des Gesetzbuches sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Daraus folgt, dass die Beklagte gehalten ist, das ihr zur Verfügung stehende verwaltungsverfahrensrechtliche Instrumentarium einzusetzen, welches es ermöglicht, einen möglichst weitgehend dem Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechenden Zustand herzustellen. Zudem kodifiziert § 73 Abs. 3 SGB VII lediglich die frühere Rechtsprechung des BSG zur Frage der wesentlichen Änderung bei MdE-Erhöhungen. Diese Rechtsprechung beruht wiederum auf der Tatsache, dass die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor behaftet ist und insoweit durch einen unvermeidlichen Toleranzbereich gekennzeichnet ist. Eine Abweichung der Einschätzung um lediglich 5 % liegt innerhalb des Toleranzbereiches (vgl. BSG, Urteil vom 02.03.1971 – 2 RU 300/68). Etwas anderes muss aber dann beachtet werden, wenn die Bewertung der MdE nicht auf einer Schätzung, sondern auf einem gefestigten allgemeinen Erfahrungsgrundsatz – wie hier – beruht. Dann ergäbe sich ein eklatanter Gleichheitsverstoß, wenn der Betroffene nicht in den Genuss der seiner tatsächlichen Einschränkung entsprechenden Verletztenrente käme.
Als Rechtsgrundlage für eine solche, den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtende Herstellung der Rechte des Klägers, ist § 46 SGB X anzuwenden (vgl. Ricke, aaO, § 73 SGB VII, Rdnr. 14; Kranig in: Hauck/Haines, Kommentar zum SGB VII, § 73, Rdnr. 25). Nach dieser Norm kann die Verwaltungsbehörde einen rechtmäßigen, nicht begünstigenden Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm sind erfüllt: Der ursprüngliche Rentenbescheid war bei seinem Erlass rechtmäßig; er stellt sich insofern als nicht begünstigend dar, als er nur eine Teilrente nach einer MdE von 20 vH festgestellt hat, eine darüber hinausgehende Rente aber konkludent abgelehnt hat. Ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts (MdE 20 vH) müsste nicht erneut erlassen werden, da nach dem neuen Stand der Dinge eine MdE von 25 vH zutrifft.
Bei § 46 Abs. 1 SGB X handelt es sich um eine Ermessensnorm. Der Verwaltung steht also grundsätzlich ein Entschließungsermessen zu, ob sie die Norm anwendet oder nicht. Im hier gegebenen Fall liegt jedoch eine Ermessensreduzierung auf Null vor. Denn die Gewährung einer Verletztenrente nach der tatsächlich vorliegenden MdE ist die einzig rechtmäßige Entscheidung, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Gebot der möglichst weitgehenden Verwirklichung der sozialen Rechte (§ 2 Abs. 2, 2. Halbsatz SGB I) entspricht.
Die Beklagte war nach alledem bereits bei Erlass des Bescheides vom 12.09.2002 gehalten, den ihr gesetzlich eingeräumten Spielraum (§ 46 Abs. 1 SGB X) auszunutzen und dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu gewähren.
Der Kläger hat Anspruch auf die erhöhte Verletztenrente ab dem 01.01.2003. Denn § 44 Abs. 4 SGB X legt die Rückwirkung für insgesamt vier Jahre vor Beginn des Kalenderjahres des Eingangs des Antrags auf Rücknahme fest. Der Antrag wurde im Dezember 2007 gestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung brauchte die Kammer nicht zu treffen, weil Berufungsbeschränkungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegen.
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