L 15 SO 112/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 49 SO 704/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 112/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2010 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat jedenfalls im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Antragsgegners oder der Beigeladenen auf Erbringung einer Beihilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges und zu dessen behindertengerechtem Umbau nicht erfüllt sind. Der Antragsteller begehrt auch mit der Beschwerde eine Leistung, die ihm bisher versagt worden ist. In diesem Fall setzt eine einstweilige Verpflichtung voraus, dass bei summarischer Prüfung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch nach materiellem Recht (Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit feststellbar sind (Anordnungsgrund; § 86b Absatz 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG] in Verbindung mit §§ 920 Absatz 2, 916 bis 918 Zivilprozessordnung [ZPO]). Gegenüber dem Antragsgegner besteht ein Anordnungsanspruch bereits deshalb nicht, weil er nicht der für die gewünschte Leistung zuständige Träger ist. Gegen einen Träger der Sozialhilfe kommt die gewünschte Leistung nur im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 ff Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch [SGB XII] i. V. mit §§ 33, 55 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch [SGB IX] und § 8 der Verordnung nach § 60 SGB XII [Eingliederungshilfe-Verordnung]) in Betracht. Für die Gewährung derartiger Leistungen ist der Antragsgegner grundsätzlich auch zuständiger Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 i. V. mit § 5 Nr. 2 und 4 SGB IX). Entgegen der augenscheinlich vom Antragsgegner vertretenen Auffassung entfällt diese Zuständigkeit nicht etwa deshalb, weil die Leistungsvoraussetzungen nach dem für den Antragsgegner geltenden Leistungsgesetz – also dem SGB XII – aus Sicht des Antragsgegners nicht erfüllt sind. Dies ist keine Frage der Zuständigkeit für die Bescheidung des Antrags, sondern ausschließlich eine der materiellen Leistungsberechtigung. Die Beigeladene ist jedoch durch Weitergabe des Antrags innerhalb der gesetzlichen Zweiwochenfrist zur Prüfung der Zuständigkeit der formal zuständige Rehabilitationsträger geworden (§ 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Es kann dahingestellt bleiben, ob sie für die vom Antragsteller geltend gemachte Leistung möglicherweise von vornherein nicht Rehabilitationsträger sein kann, weil sie zur Teilhabe nur Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen zu erbringen hat (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 i. V. mit § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), (jedenfalls) Kraftfahrzeuge an sich (anders möglicherweise für Bestandteile einer behindertengerechten Ausstattung, s. SG Aachen, Beschluss vom 19. Juni 2010 – S 13 KR 23/10) unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aber in diesem Rahmen nicht zum Leistungskatalog gehören. Denn selbst wenn ihre Auffassung zuträfe, würde die Zuständigkeit nicht automatisch an den Antragsgegner zurückfallen. Vielmehr sieht § 14 Abs. 2 Satz 5 SGB IX für den Fall, dass der Rehabilitationsträger, an den der Antrag auf Leistungen zur Teilhabe weitergeleitet worden ist, für die beantragte Leistung nicht gemäß § 6 Abs. 1 SGB IX Rehabilitationsträger sein kann, ein trägerinternes Abstimmungsverfahren vor: Der Leistungsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist (hier also die Beigeladene), hat unverzüglich mit dem seiner Auffassung nach zuständigen Leistungsträger zu klären, von wem und in welcher Weise innerhalb der Frist des § 14 Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGB IX der Antrag entschieden wird. Über das Ergebnis dieser Abstimmung ist der Antragsteller zu unterrichten; es ist nicht statthaft, wie von der Beigeladenen mit ihrem Schreiben vom 18. Dezember 2009 praktiziert, sich mit Wirkung nach außen einseitig für unzuständig zu erklären. § 14 Abs. 2 Satz 5 SGB IX stellt ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Dr. 15/1783, 13) klar, dass der Rehabilitationsträger, an den ein Antrag von einem anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet wurde, diesen Antrag nicht ein weiteres Mal weiterleiten darf, und zwar selbst dann nicht, wenn er objektivrechtlich kein Rehabilitationsträger sein kann. Der Rehabilitationsträger, an den der Antrag weitergeleitet worden ist, soll vielmehr das weitere Vorgehen mit anderen Rehabilitationsträgern (und dem Antragsteller) abstimmen, damit eine sachgerechte Leistungsentscheidung getroffen werden kann. "Im Ergebnis folgt aus der in § 14 SGB IX getroffenen Regelung, dass eine nach außen verbindliche Zuständigkeit geschaffen worden ist, gleichzeitig aber interne Verpflichtungen des eigentlich zuständigen Leistungsträgers fortbestehen" (s. zuletzt dazu BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 8 sowie BSG SozR 4-3500 § 54 Nr. 1 mit Hinweis auf BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 1 und 4). Solange und soweit nicht mit einem anderen Leistungsträger eine Übereinkunft nach § 14 Abs. 2 Satz 5 SGB XII getroffen worden ist, liegt die Zuständigkeit für Leistungen zur Teilhabe aufgrund des mit Datum vom 30. November 2009 gestellten Antrags entsprechend dem Regelfall des § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX bei der Beigeladenen. Dem steht das Schreiben der Beigeladenen vom 18. Dezember 2009 nicht entgegen. Selbst wenn es sich dabei um einen förmlichen Verwaltungsakt gehandelt haben sollte, hätte er – sofern überhaupt möglich – jedenfalls deshalb noch keine Bindungswirkung (§ 77 SGG) erzeugt, weil er nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war. Es gilt dann eine Rechtsbehelfsfrist von einem Jahr (§§ 78, 66 Abs. 2 SGG). Auch gegenüber der Beigeladenen sind die Voraussetzungen für eine Leistungsverpflichtung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes jedoch nicht erfüllt; es fehlt bereits an einem Anordnungsanspruch. Im Rahmen der aufgrund von § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX eingetretenen Zuständigkeit hat die Beigeladene den Leistungsantrag nach allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen, die überhaupt in dieser Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind, zu prüfen (s. BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 8 mit weiteren Nachweisen). Nach Aktenlage kommen jedoch nur Teilhabeleistungen nach den Vorschriften des SGB XII in Betracht; im besonderen ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt haben könnte mit der Folge, dass auch Leistungsrechte nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Sechstes Buch (SGB VI) zu prüfen sein könnten. Der Antragsteller gehört zu dem Personenkreis, der gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen "dem Grunde nach" hat. Er ist durch eine Behinderung wesentlich in seiner Fähigkeit eingeschränkt, an der Gesellschaft teilzuhaben. Die Behinderung erlaubt ihm im besonderen nicht, sich selbständig fortzubewegen und Arbeit von nennenswertem wirtschaftlichem Wert zu leisten. Er ist auch hilfebedürftig, weil sein laufender Lebensunterhalt durch Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII sichergestellt ist. Zu den möglichen Leistungen der Eingliederungshilfe gehören nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Dies sind Leistungen, welche den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder sichern oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege machen sollen und die nach den Kapiteln 4 bis 6 des SGB XII nicht erbracht werden. Dies schlösse für sich genommen zwar Leistungen zum Erwerb eines Kraftfahrzeuges aus, weil sie zu denen nach § 33 Abs. 8 Nr. 1 SGB IX im Kapitel 5 des SGB IX gehören. Abweichend hiervon bestimmt aber § 8 Abs. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung, dass die Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i. V. mit den §§ 33 und 55 SGB IX gilt (Satz 1). Sie wird in angemessenem Umfang gewährt, wenn der behinderte Mensch wegen Art oder Schwere seiner Behinderung insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsleben auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen ist; bei Teilhabe am Arbeitsleben findet die Kraftfahrzeughilfe-Verordnung Anwendung (Satz 2). Gemäß § 8 Abs. 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung ist die Hilfe in der Regel davon abhängig, dass der Behinderte das Kraftfahrzeug selbst bedienen kann. Der vom Antragsteller geltend gemachte Leistungsanspruch scheitert nicht, wie vom Sozialgericht angenommen, zwangsläufig an § 8 Abs. 3 Eingliederungshilfe-Verordnung; es kann insoweit ausreichen, dass stets eine Person zur Verfügung steht, die das Kraftfahrzeug führen kann (s. Urteil des Senats vom 5. März 2009 – L 15 SO 262/07). Jedenfalls aber sind die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i. V. mit § 55 Abs. 1 SGB IX und § 8 Abs. 1 Satz 2 Eingliederungshilfe-Verordnung nicht erfüllt. Zur Auslegung kann dabei auf die Grundsätze zurückgegriffen werden, die zu den praktisch identischen Vorgängerregelungen im Bundessozialhilfegesetz entwickelt worden waren. Der Zuschuss zur Anschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeugs bezweckt vorrangig, behinderte Menschen im Arbeitsleben Nichtbehinderten möglichst gleichzustellen. Die "allgemeine" Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist als Zweck der Hilfe zwar nicht ausgeschlossen. Die hierauf beruhenden Gründe müssen aber wenigstens das gleiche Gewicht haben wie die, die ein Kraftfahrzeug zur Teilhabe am Arbeitsleben rechtfertigen. Solche Gründe liegen vor allem dann vor, wenn die Notwendigkeit, ein Kraftfahrzeug zu benutzen, regelmäßig besteht, weil die erforderliche Mobilität des behinderten Menschen nicht auf andere Weise (zum Beispiel durch Benutzung eines Krankenfahrzeuges oder öffentlicher Verkehrsmittel oder durch die Übernahme der Kosten eines Taxis oder Mietautos) sichergestellt werden kann (s. etwa BVerwGE 111, 328). Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller nach diesen Maßstäben unerlässlich auf ein eigenes Fahrzeug angewiesen wäre. Für Fahrten zu Terminen in seiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter in der Sozialgerichtsbarkeit kann er auf den – gemäß § 2 SGB XII gegenüber Leistungen der Sozialhilfe vorrangigen – Kostenerstattungsanspruch gemäß § 19 Abs. 2 SGG verwiesen werden. Danach erhalten ehrenamtliche Richter eine Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG). Nach § 5 Abs. 3 Halbsatz 2 JVEG werden höhere als die in Abs. 1 (öffentliche Verkehrsmittel) oder Abs. 2 (private Kraftfahrzeuge) bezeichneten Fahrtkosten ersetzt, wenn sie wegen besonderer Umstände, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen könnten und nicht über ein eigenes Kfz verfügen. Für die Fahrt zu ambulanten und stationären Krankenbehandlungen kann der Antragsteller auf den, gegenüber Leistungen der Sozialhilfe ebenfalls vorrangigen, Anspruch auf medizinisch notwendige Fahrkosten gemäß § 60 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, im übrigen im besonderen auf die Inanspruchnahme des Berliner Sonderfahrdienstes für Menschen mit Behinderungen und für damit nicht erreichbare Örtlichkeiten auf Mobilitätshilfen im Einzelfall verwiesen werden. Dem steht nicht entgegen, dass die auf diese Weise gegebene Mobilität möglicherweise nicht jeden Weg zu jedem beliebigen Zeitpunkt zulässt. Entgegen der vom Antragsteller vertretenen Auffassung gibt es kein einfachgesetzliches oder gar verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, mit einem durch Mittel der Steuerzahler finanzierten Kraftfahrzeug zu jeder Zeit an jeden Ort gelangen zu können. Durch die nach den Vorschriften des SGB XII zu gewährenden Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft soll der behinderte Mensch nach Möglichkeit einem nicht behinderten gleichgestellt werden – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Auch nicht behinderte Menschen, die aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen kein eigenes Fahrzeug haben, können jedoch nicht beliebig oft an kulturellen oder sonstigen Veranstaltungen teilnehmen oder Besuchsreisen zu jedem beliebigen Ort durchführen. Ebensowenig kann sich der geltend gemachte Anspruch daraus begründen, dass der Antragsteller ohne eigenes Fahrzeug ein übermäßiges Risiko von Virusinfektionen sieht, denen auch nicht durch einen Mundschutz begegnet werden könne. Der Antragsteller begründet den Bedarf für ein eigenes Kraftfahrzeug gerade damit, dass er sich nach eigener Wahl zu Personen oder Orten begeben will. Wenn er aber unter diesen Bedingungen bereit ist, sich außerhalb der häuslichen Umgebung einem Infektionsrisiko auszusetzen, so ist nicht ersichtlich, dass sich dieses Risiko durch die oben aufgezeigten Mobilitätsmöglichkeiten in leistungsrechtlich relevanter Weise erhöhen könnte. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Bundessozialgericht ausgeschlossen (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved