L 18 AS 1126/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 116 AS 18612/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1126/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2010 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 11. Juni 2010 bis zum 30. September 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 184,- EUR zu gewähren. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im gesamten Verfahren.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter zu entscheiden.

Die Beschwerde der Antragstellerin ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist das Rechtsmittel nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Soweit die Antragstellerin in ihrem Rechtsschutzantrag eine Regelungsanordnung bereits ab 31. Mai 2010 geltend macht, fehlt es an dem im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu fordernden eiligen Regelungsbedürfnis für die Zeit bis zum Eingang des Antrags bei dem Sozialgericht (11. Juni 2010), weil eine gerichtliche "Notfallhilfe" für Zeiträume vor dem Antragseingang bei Gericht regelmäßig nicht in Betracht kommt. Ein besonderer Nachholbedarf oder eine Fortwirkung der Nichtgewährung von Leistungen in der Vergangenheit in die Gegenwart sind nicht dargetan.

Für die Zeit ab 11. Juni 2010 bis zum 30. September 2010 war der Antragsgegner gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu monatlichen Leistungen in Höhe des Leistungsbetrages nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu verpflichten (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG). Der im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernde Anordnungsanspruch ergibt sich aufgrund der verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris) im Hinblick auf das im Eilverfahren nicht abschließend zu klärende Vorliegen eines allein in Betracht kommenden gesetzlichen Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 3 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die ukrainische Antragstellerin. Danach können Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2) sowie Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG (Nr. 3) keine Leistungen nach dem SGB II erhalten.

Es erscheint zweifelhaft, ob das der Antragstellerin derzeit zustehende Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Zwar ist die der Antragstellerin am 6. Juli 2006 mit der Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit gestattet" erteilte Aufenthaltserlaubnis "zum Familiennachzug" (gemäß § 31 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG -) entsprechend ihrer Geltungsdauer mit Ablauf des 5. Juli 2008 erloschen und der Verlängerungsantrag der Antragstellerin vom 3. Juli 2008 mit Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten –Ausländerbehörde (LABO) vom 14. Dezember 2009 abgelehnt worden. Zugleich hat das LABO die Antragstellerin – ohne Anordnung des Sofortvollzugs - ausgewiesen und ihr die Abschiebung angedroht. Ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis hat das Verwaltungsgericht Bmit Beschluss vom 22. Februar 2010 – VG 21 L 69.10 abgelehnt; über die hiergegen gerichtete Beschwerde – OVG 2 S 28.10 – ist noch nicht entschieden worden. Obwohl der anhängigen Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis derzeit keine aufschiebende Wirkung zukommt und mithin die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht mehr eingreift, so gilt doch der Aufenthaltstitel vom 6. Juli 2006 nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG beschränkt auf den Zweck der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit als fortbestehend, weil das gerichtliche Verfahren über den zulässigen Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis noch nicht (negativ) beendet ist. Dies hat - ohne dass es darauf ankommen dürfte - im Übrigen auch das LABO mit seiner (deklaratorischen) Bescheinigung vom 5. Juli 2010 anerkannt. Die derzeit gegebene und (noch) von den Fortwirkungen der Aufenthalterlaubniserteilung vom 6. Juli 2006 bestimmte ausländerrechtliche Lage führt zum einen dazu, dass die Antragstellerin zur Zeit erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB II ist. Zum anderen dürfte wohl ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu verneinen sein, weil die Fortbestandsfiktion des § 84 Abs. 4 AufenthG das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin in dem durch den Verwaltungsakt vom 6. Juli 2007 bestimmten und dementsprechend hier in dem als eigenständiges (vgl. § 31 AufenthG) und nicht auf einen bestimmten Zweck beschränktes Recht ausgestalteten Umfang erfasst und vorläufig konserviert. Dementsprechend dürfte es nach der auf die ausländerrechtliche (Bescheid-)Lage abstellenden Regelung des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht darauf ankommen, ob die Antragstellerin sich faktisch nur noch zum Zwecke der Arbeitsuche oder auch aus anderen Gründen in Deutschland aufhält.

Es ist weiterhin zweifelhaft, ob die Antragstellerin nach § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB II als Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Zwar sind nach der allein in Betracht kommenden Nr. 5 des § 1 Abs. 1 AsylbLG tatsächlich sich im Bundesgebiet aufhaltende Ausländer leistungsberechtigt, wenn sie vollziehbar ausreisepflichtig sind. Insoweit ist jedoch fraglich, ob die nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG eintretende Vollziehbarkeit der Versagung gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht auch dann nach sich zieht, wenn – wie hier – ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis gestellt wird (vgl. dazu verneinend: Oberhäuser, in Hofmann/Hoffmann, AuslR, 2008, § 58 AufenthG, Rn. 12). Die Annahme der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht erscheint jedenfalls dann zweifelhaft, wenn – wie hier - die Fortbestandsfiktion nach § 84 Abs. 4 AufenthG eingreift.

Angesichts des existenzsichernden Charakters der beanspruchten Leistungen wiegen die der Antragstellerin drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des gestellten Rechtsschutzantrages und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren jedenfalls ungleich schwerer als der dem Antragsgegner drohende Nachteil einer ggf. nicht zu realisierenden Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungsbeträge. Daher war der Antragsgegner zu verpflichten, - nur - das absolute Existenzminimum der Antragstellerin zu sichern.

Soweit die Antragstellerin weiterhin Leistungen für Unterkunft und Heizung geltend macht, fehlt es bereits an dem erforderlichen Anordnungsgrund für die begehrte gerichtliche Anordnung iS eines unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses. Eine derzeit drohende Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit der Antragstellerin sind nicht zu besorgen. Zwar ist das Mietverhältnis mit der Antragstellerin mit Schreiben vom 28. Mai 2010 fristlos gekündigt worden. Es ist jedoch nicht vorgetragen (vgl. die "eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin vom 5. Juli 2010) und auch sonst nicht ersichtlich, dass die mit der Kündigung angekündigte Räumungsklage bereits eingereicht worden ist. Der Antragstellerin ist daher derzeit ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zuzumuten, zumal in § 22 Abs. 5 Satz 1 und 2 und Abs. 6 SGB II Regelungen zur Sicherung der Unterkunft selbst für den Fall einer Räumungsklage enthalten sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 – n. v.).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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