S 22 (45,25) SO 26/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
22
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 22 (45,25) SO 26/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 27.03.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2007 wird aufgehoben. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Streitig ist die Rückforderung von 4.041,27 EUR für den Zeitraum von Februar 1999 bis September 1999.

Die im Jahre 1972 geborene Klägerin reiste im Jahre 1995 als Spätaussiedlerin von Kasachstan mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 01.05.1996 beantragte sie bei der Beklagten Sozialhilfe, die ihr auch ab diesem Zeitpunkt gewährt wurde. Ab 01.02.1999 begann die Klägerin eine vom Jugendamt der Stadt X vermittelte und durch die Arbeitsvermittlung geförderte Umschulungsmaßnahme. Am 01.02.1999 unterrichtete das Jugendamt die Beklagte per Fax (Blatt 136 der Leistungsakte) über den Schulungsvertrag und erklärte gleichzeitig, ein Ablehnungsbescheid über die ESF (Europäischer Sozialfonds)-Förderung werde noch erstellt. Ein solcher Anspruch bestehe nicht. Am 16.04.1999 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf ESF-Leistungen. Diese wurden ihr rückwirkend durch Bescheid des Arbeitsamtes X vom 07.10.1999 (Blatt 153 b der Leistungsakte) ab 01.02.1999 bis 31.12.2000 gewährt. Dies teilte die Klägerin der Beklagten im November 1999 mit und übersandte gleichzeitig Kontoauszüge, auf denen eine Nachzahlung des Arbeitsamtes X am 14.10. in Höhe von 8.400,00 DM ersichtlich war. In einem Aktenvermerk der Beklagten (Blatt 153 der Leistungsakte) heißt es, die Sozialhilfe sei ab 01.12.1999 einzustellen und es habe eine "Rückrechnung und Rückforderung" ab 01.02.1999 zu erfolgen.

Am 24.01.2001 beantragte die Klägerin erneut Sozialhilfe für sich und ihre Schwestern, die durch Bescheid vom 23.07.2001 gewährt wurde. Zuletzt wurde Sozialhilfe bis zum 30.04.2002 geleistet. Unter dem 11.11.2005 (Blatt 241 der Leistungsakte) erreichte die Beklagte eine anonyme Anzeige, in der unter anderem angezeigt wurde, die Klägerin habe neben der Unterstützung durch das Sozialamt Auszahlungen des "Eurofonds" in Höhe von ca. 10.000,00 DM bekommen und behalten. Unter dem 01.02.2007 (Blatt 295 der Leistungsakte) wurde die Klägerin zu einer beabsichtigten Rückforderung der für Februar bis September 1999 gezahlten Sozialhilfe im Rahmen von § 105 des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) in Höhe von 4.041,27 EUR angehört. Durch Bescheid vom 27.03.2007 wurde die Rückforderung in entsprechender Höhe gestützt auf § 105 SGB XII ausgesprochen. Insoweit wird auf Blatt 298 bis 300 der Leistungsakte Bezug genommen. Hiergegen erhob die Klägerin unter dem 05.04.2007 Widerspruch. Insoweit wird auf Blatt 302 ff. der Leistungsakte Bezug genommen. Diesen wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 03.07.2007 (Blatt 310 ff. der Leistungsakte), auf den inhaltlich Bezug genommen wird, zurück.

Hiergegen richtet sich die unter dem 18.07.2007 erhobene Klage.

Die Klägerin ist der Ansicht, sie dürfe den streitigen Betrag behalten, da ihr ein Rechtsgrund für das Behaltendürfen zur Seite stehe. Insbesondere sei fraglich, ob der hier zur Anwendung gelangte § 105 SGB XII auf Altfälle - wie vorliegend - Anwendung finde. Diese Vorschrift sei erst im Jahre 2003 verkündet worden und 2005 in Kraft getreten. Auf den weiteren Inhalt der Klagebegründung wird Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 27.03.2007 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2007 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, der zum 01.01.2005 in Kraft getretene § 105 SGB XII finde auch auf grundsätzlich nach dem BSHG zu beurteilende Fälle Anwendung. Eine Übergangsvorschrift, der zu entnehmen wäre, dass nur Leistungen zurückgefordert werden dürften, die nach dem 01.01.2005 erbracht worden sind, fehle. Auf die weiteren Ausführungen in der Klageerwiderung (Blatt 21 ff. der Gerichtsakte) wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 27.03.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.07.2007 war aufzuheben, denn er ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die in diesem Bescheid ausgesprochene Rückforderung des Betrages von 4.041,27 EUR kann nicht auf die Vorschrift des § 105 SGB XII gestützt werden. Die erstmals zum 30.03.2005 in Kraft getretene Vorschrift ist auf den aus dem Jahre 1999 stammenden Sachverhalt nicht anwendbar. Eine Anwendung des § 105 SGB XII in diesem Falle wäre eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung. Im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) war eine dem § 105 Abs. 1 SGB XII entsprechende Vorschrift nicht enthalten. Das Zusammentreffen von zwei rechtmäßigen Leistungen wie hier zum einen die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG und die erst später bewilligten Leistungen des Europäischen Sozialfonds, löste keinen Erstattungsfall nach dem BSHG bzw. dem SGB X aus. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 17.08.1995 (5 C 26/93) ausdrücklich festgestellt, eine doppelte Leistung, die entstanden sei, "weil der vorrangig verpflichtete Leistungsträger in Unkenntnis der Leistung des nachrangig verpflichteten seinerseits befreiend an den Sozialleistungsempfänger geleistet habe", müsse solange hingenommen werden, wie der Gesetzgeber die geltende Rechtslage nicht ändere und eine den Doppelbezug von Sozialleistungen im Bereich des Sozialhilferechts schlechthin vermeidende Regelungen nicht getroffen habe. Diesen Einwand aufgreifend hat sich der Gesetzgeber mit Inkrafttreten des SGB XII zum 01.01.2005 entschlossen, die aufgezeigte Regelungslücke zu schließen. Der Tatbestand des neu geschaffenen § 105 SGB XII knüpft allerdings lediglich an eine doppelte Leistung des einen Leistungsträgers in Unkenntnis der Leistung des Trägers der Sozialhilfe an, ohne dass dem zur Erstattung Verpflichteten ein vorwerfbares Verhalten an dieser Doppelleistung angerechnet werden könnte. Genau aus diesem Grund kommt auch eine Rückwirkung der Erstattungsnorm für die Vergangenheit nicht in Betracht. Es würde so in einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen. Nach der im Jahre 1999 geltenden Rechtslage war eine Rückforderung der doppelten Leistungen für die Zeit von Februar bis September 1999 nicht möglich. Es ist der Klägerin, die unverzüglich nach Erhalt der Leistung im Oktober 1999 die Beklagte über die Bewilligung und auch - belegt durch Kontoauszüge - über den Eingang der Zahlung auf ihrem Konto unterrichtet hat, kein schuldhaftes Handeln zu unterstellen, das möglicherweise einen erst später rechtlich möglichen Zugriff auf die Klägerin rechtfertigen würde. Eine - zulässige - unechte Rückwirkung einer Norm wird nur angenommen, wenn sie an einen in der Vergangenheit begonnenen, aber noch nicht endgültig abgeschlossenen Sachverhalt oder an ein in der Vergangenheit begründetes und noch nicht beendetes Rechtsverhältnis anknüpft und mit Wirkung für die Zukunft bestimmte Rechtsfolgen vorsieht (so auch die von der Beklagten zitierten Entscheidungen: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 20.10.1995, Az.: 6 S 2670/94 und Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11.07.1996, Az.: BS IV 111/96). Der vorliegende Sachverhalt war jedoch, was die Zeit von Februar bis September 1999 betrifft, abgeschlossen, die Klägerin sogar seit dem Jahr 2002 aus der Sozialhilfe ausgeschieden. Erst am 01.02.2007 rollte die Beklagte für den hier streitigen Zeitraum den Sachverhalt mit Hilfe des im Jahre 2005 neu geschaffenen § 105 SGB XII neu auf. Die von der Beklagten zitierten Urteile, die eine zulässigen unechte Rückwirkung unter Umständen bei nicht erledigten Erstattungsfällen annehmen, können vorliegend nicht herangezogen werden. In den Urteilen heißt es ausdrücklich, für die, durch die neu geschaffenen Regelungen in Anspruch genommenen Schuldner könne kein schutzwürdiges Vertrauen angenommen werden, da sie die zu Unrecht erhaltene Sozialhilfeleistung vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hätten. Sie hätten deshalb nicht darauf vertrauen dürfen, dass sie für dieses Verhalten nicht in Anspruch genommen würden (vgl. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Rd.Ziff. 6 aaO.). Genau dies kann aber bei der Klägerin des vorliegenden Falles nicht angenommen werden. Allein die nochmalige Antragstellung auf Leistungen aus dem Europäischen Sozialfonds im April 1999 ist nach Auffassung der Kammer nicht ausreichend, vorwerfbares Verhalten zu begründen. Der Beklagten war bei der Antragstellung von Sozialhilfeleistungen mitgeteilt worden, dass die Klägerin mit Beginn ihres Praktikums Leistungen des Europäischen Sozialhilfefonds beantragt hatte, die zunächst jedoch abgelehnt worden waren. Der entsprechende Ablehnungsbescheid lag der Beklagten vor. Die Klägerin hat durch die erneute Antragstellung von einem ihr zustehenden Recht Gebrauch gemacht, welches aus diesem Grunde nicht zugleich ein vorwerfbares Verhalten darstellen kann. Selbst wenn die Klägerin bereits die Antragstellung gegenüber der Beklagten angezeigt hätte, hätten daraus keine Konsequenzen folgen können bis zur tatsächlichen Leistungsbewilligung. Gerade diese Leistungsbewilligung hat die Klägerin aber sofort angezeigt, ebenso wie die nachträgliche Auszahlung rückwirkend ab Februar 1999. Bis zu dieser Leistungsbewilligung im Oktober 1999 war die Klägerin hilfebedürftig, sodass die von der Beklagten gezahlten Sozialhilfeleistungen auch zu Recht erfolgten. Die Leistungen für Oktober und November wurden - zu spät - zurückgefordert. Die Leistungen für Dezember konnten rechtzeitig eingestellt werden. Dass letztendlich auch die eigentlich noch mögliche Rückforderung der Monate Oktober und November nicht zum Erfolg geführt hat, kann der Klägerin nicht angelastet werden Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll der ebenfalls am 02.07.2010 verhandelten Parallelverfahren S 22 (45,25) SO 34/07 und S 22 (45,25) SO 36/07 verwiesen. Die Leistungen für Februar bis September 1999 aufgrund einer sehr viel später geschaffenen Norm, deren Rückwirkung auf abgeschlossene Sachverhalte nicht ausdrücklich vom Gesetzgeber angeordnet wurde, zurückzufordern, würde die Klägerin in ihren Grundrechten verletzen. Es ist hier in jedem Fall eine Verletzung von Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz zu nennen, der die allgemeine Handlungsfreiheit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Die Rückwirkung von Rechtsfolgen wirft generell die Frage nach dem Schutz des Vertrauens in den Bestand der ursprünglich geltenden Rechtsfolgenlage auf, welche nunmehr nachträglich geändert wird. Eine solche Rückbewirkung von Rechtsfolgen muss sich damit vorrangig an den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit messen lassen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.05.1986, Az.: 2 BvL 2/83, E 72, 200 ff.). In Verbindung mit diesen Grundsätzen sind auch diejenigen Grundrechte zu berücksichtigen, deren Schutzbereich von der nachträglich geänderten Rechtsfolge in belastender Weise betroffen ist Die Klägerin hatte im Jahre 1999 alles erforderliche getan, um die Beklagte über die doppelt erhaltene Leistung zu unterrichten. Sie durfte nach Ablauf von mehr als sieben Jahren darauf vertrauen, die Leistungen des Osteuropäischen Sozialfonds behalten zu dürfen. Die aus erlaubtem Tun erhaltenen Vorteile sind insofern geschützt und schützenswert.

Der Klage war nach alledem stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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