Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 18 KR 572/09 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 10.11.2009 bis einschließlich 31.12.2009 häusliche Krankenpflege gem. § 37 Abs. 2 SGB V für 24 Stunden täglich zu gewähren unter Anrechnung der Leistungen der Pflegekasse in Höhe von 1.470,00 EUR monatlich.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin hat zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt eine vorläufige Regelung hinsichtlich Leistungen der häuslichen Krankenpflege für 24 Stunden täglich ohne Anrechnung von Grundpflegezeiten und ohne Anrechnung von Leistungen der Pflegestufe III.
Der 1979 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Er leidet an amyotropher Lateralsklerose, einer progredient verlaufenden neuromuskulären Erkrankung. Er ist tracheotomiert und muss rund um die Uhr beatmet werden. Ernährt wird er über eine Sonde.
Der Antragsteller wurde aufgrund des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 08.10.2009 in die Pflegestufe III eingestuft. Er bekommt von der Pflegekasse der BKK Gesundheit monatlich Leistungen in Höhe von 1.470,00 EUR. In seinem Gutachten vom 08.10.2009 stellte der MDK einen für die Grundpflege erforderlichen Zeitaufwand von 245 Minuten pro Tag und einen für die hauswirtschaftliche Versorgung erforderlichen Zeitaufwand von 103 Minuten pro Tag fest. Die Grundpflege wird durch Mitarbeiter eines Pflegedienstes erbracht. Die hauswirtschaftliche Versorgung übernimmt die Lebensgefährtin des Antragstellers, die mit ihm zusammenlebt und vollschichtig berufstätig ist.
Am 27.10.2009 verordnete die behandelnde Ärztin des Antragstellers für die Zeit vom 26.10.2009 bis einschließlich 31.12.2009 häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung. Die häusliche Krankenpflege beinhaltet die Beatmungspflege, Vitalzeichenüberwachung, endotracheale Absaugung bei Bedarf sowie Trachealkanülenwechsel bei Bedarf. Die häusliche Krankenpflege ist 24 Stunden täglich notwendig. Die Person, welche die häusliche Krankenpflege durchführt, benötigt medizinisches Fachwissen, um Komplikationen rechtzeitig erkennen zu können. Durchgeführt wird die Behandlungspflege durch Mitarbeiter eines Pflegedienstes. Dabei erbringt der jeweilige Mitarbeiter des Pflegedienstes gleichzeitig auch die Grundpflege. Die Lebensgefährtin des Antragstellers verfügt nicht über das notwendig Fachwissen für die Durchführung der Behandlungspflege; außerdem steht die Lebensgefährtin des Antragstellers nicht 24 Stunden täglich zur Verfügung, da sie vollschichtig berufstätig ist.
Mit Bescheid vom 30.10.2009 bewilligte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme für häusliche Krankenpflege. In dem Bescheid steht wörtlich: "wir übernehmen die Kosten zu den vereinbarten Vertragssätzen: 24 h Pflege a 31,50/h. Abzüglich der Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe III". Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 10. November 2009 Widerspruch.
Am 10. November 2009 hat der Antragsteller Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Er trägt vor, der Anspruch des Antragstellers auf häusliche Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden täglich an 7 Tagen in der Woche erfahre nicht deshalb eine Einschränkung, weil der Antragsteller zugleich pflegebedürftig im Sinne der sozialen Pflegeversicherung sei und in die Pflegestufe III eingestuft sei. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus den Entscheidungen des BSG vom 28.01.1999, Az. B 3 KR 4/98 R und vom 10.11.2005, Az. B 3 KR 38/04 R, in denen das BSG einen Vorrang der Grundpflege vor der zeitgleich erbrachten Behandlungspflege postuliert habe. Es fehle bereits an einer gesetzlichen Regelungslücke, die einer Ausfüllung durch die Rechtsprechung zugänglich sein könnte, da § 13 Abs. 2 SGB XI bestimme, dass die Leistungen der Pflegeversicherung die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt lassen; die Leistungsansprüche nach § 37 SGB V und nach dem SGB XI würden somit anrechnungslos nebeneinander bestehen. Dies entspreche auch einer wertenden Betrachtung der Rechtsgüter, deren Schutz durch die Behandlungspflege einerseits und die Grundpflege andererseits sichergestellt werden soll. Die Behandlungspflege diene als lebensnotwendige Maßnahme dem Schutz des Lebens des Antragstellers. Die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung sollen demgegenüber dem Pflegebedürftigen ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben, das der Würde des Menschen entspricht, ermöglichen. Diesbezüglich verweist er auf den Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98. Des Weiteren würde eine Anrechnung der auf die Grundpflege entfallenden Zeiten zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen: Derjenige, der einer 24 stündigen Behandlungspflege bedarf, jedoch nicht pflegebedürftig im Sinne der Pflegeversicherung ist, habe einen Anspruch auf Leistungserbringung im Umfang von 24 Stunden; eine Kostenbelastung entstehe ihm nicht. Demgegenüber entstehe beim Antragsteller eine nicht unerhebliche Kostenbelastung dadurch, dass ihm Leistungen der Behandlungspflege nur für 19 Stunden (unter Anrechnung von 5 Stunden für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung) als Sachleistung zur Verfügung gestellt würden. Um die Behandlungspflege 24 Stunden am Tag zu ermöglichen, müsse der Antragsteller den Pflegedienst für 5 Stunden täglich bei einem Stundensatz von 31,50 EUR finanzieren. Dadurch würden dem Antragsteller Kosten in Höhe von 4.725,00 EUR (5 h × 31,50 EUR × 30 Tage) pro Monat entstehen. Demgegenüber würden die Leistungen der Pflegeversicherung bei Pflegestufe III lediglich 1.470,00 EUR pro Monat betragen. Mithin verbleibe beim Antragsteller ein von ihm zu finanzierender Anteil in Höhe von 3.305,00 EUR pro Monat. Allein für die Zeit vom 10.11.2009 bis zum 31.12.2009 würden sich die vom Antragsteller zu finanzierenden Kosten auf 5.691,00 EUR belaufen. Aus dieser Finanzierungslücke ergebe sich auch der Anordnungsgrund.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab Antragstellung bis zur Rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30.10.2009, längstens jedoch bis zum 31.12.2009, Krankenbeobachtung und Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden täglich ohne Anrechnung von Leistungen der Pflegestufe III zu gewähren und den Antragsteller insoweit von den Kosten dieser Leistungen freizustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin trägt vor, der Antragsteller habe gegen die Antragsgegnerin keinen Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung. Diese Leistungseinschränkung gelte nur dann nicht, wenn die Intensivpflege aus medizinischen Gründen zeitgleich zur Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung erbracht werden müsse. Dies setze voraus, dass parallel zu einer Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung eine Behandlungspflege im Sinne einer Intensivpflege erforderlich sei. Dies sei nicht der Fall, wenn die Pflegekraft, die die Behandlungspflege durchführt, auch für Verrichtungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung eingesetzt werden könne. Der Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Pflegefachkraft, welche die Behandlungspflege durchführt zeitlich nicht auch in der Lage wäre, die Grundpflege durchzuführen.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG – der hier allein in Betracht kommt – kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs bzw. des Rechtsverhältnisses und der Grund für eine notwendige vorläufige Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. mit § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, hängt im allgemeinen von einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussicht in der Hauptsache ab, wobei bei irreversiblen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. Gefährdung des Lebens, wie das hier der Fall ist, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Fragen des Grundrechtsschutzes (Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz) einzubeziehen sind (z.B. Bundesverfassungsgericht vom 19.03.2004, NJW 2004, 3100). Unter Beachtung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ist vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre; eine derartige Situation ist bei dem permanent beatmungspflichtigen Antragsteller gegeben (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 16.02.2006, Az. L 4 B 48/06 KR ER).
Der Antragsteller hat Anspruch auf Behandlungspflege für 24 Stunden täglich. Gemäß § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Da nach § 27 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V Ziel der ärztlichen Behandlung die Heilung einer Krankheit, Verhütung einer Verschlimmerung, Linderung der Krankheitsbeschwerden und nach der Rechtsprechung auch die Verlängerung des Lebens ist (vgl. BSG, Urteil vom 10.10.1978, Az. 3 RK 81/77), gelten gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 37 Abs. 2 SGB V diese Leistungsziele auch für die häusliche Krankenpflege.
Die medizinische Notwendigkeit der Behandlungspflege für 24 Stunden täglich ergibt sich aus der vertragsärztlichen Verordnung vom 27.10.2009 und wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Die erforderliche Überwachung der Atmung, die Kontrolle des Beatmungsgerätes und die Kontrolle der Sauerstoffwerte im Blut kann hier nicht durch eine im Haushalt des Antragstellers lebende Person gemäß § 37 Abs. 3 SGB V durchgeführt werden. Auch dies ist unstreitig.
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Behandlungspflege hinter der Grundpflege zurücktritt. Hier ist rund um die Uhr nach dem insoweit unstreitigen Vorbringen des Antragstellers, an dessen Richtigkeit nach Maßstäben summarischer Prüfung im Eilverfahren nicht zu zweifeln ist, eine besondere Pflege zu leisten, welche besondere Qualifikationen voraussetzt und die nicht von einer "normalen" Pflegekraft leistbar ist. Höherwertige Pflegedienstleistungen treten nicht zurück, auch wenn dabei normale Pflegeleistungen mitgeleistet werden. Soweit sich die Antragsgegnerin auf den Standpunkt stellt, sie erbringe dem Antragsteller gegenüber als Sachleistung 24h Stunden-Behandlungspflege abzüglich der Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe III, unterstellt die Antragsgegnerin einfach, dass nicht wirklich 24h-Stunden-Behandlungspflege geleistet werden muss, sondern vielmehr nur für den um die Grundpflegezeiten reduzierten Stunden- und Minutenanteil. Da die Behandlungspflege hier nicht in den Hintergrund tritt, erbringt die Antragsgegnerin bislang die von ihr geschuldete Sachleistung nicht (so auch LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23.10.2008, Az. L 1 B 346/08 KR ER).
Dem Antragsteller stünde jedoch Behandlungspflege als Sachleistung in Höhe von 24 Stunden zu, selbst wenn auch hier während der Leistung von Grundpflege die Behandlungspflege zurückträte.
Es gibt keine Regelung im SGB V, welche die Sachleistung häuslicher Krankenpflege von einer Gebühr (wie beispielsweise bei der Rezeptgebühr hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten) oder einer den Sachleistungsanspruch begrenzenden Eigenleistung (wie beispielsweise beim Wunsch nach höherwertiger Zahnfüllung nach § 28 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB V) abhängig macht. Es gibt auch keine Kostendeckelung wie bei der Grundpflege nach dem SGB XI. Damit sind nach dem Gesetz alle notwendigen Kosten häuslicher Krankenpflege zu übernehmen, selbst wenn der Pflegedienst auch die Grundpflege mitleisten kann oder könnte. Der Antragsteller weist im Einklang mit dem BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 10. März 2008, Az. 1 BvR 2925/07, Rn. 6) zutreffend darauf hin, dass nach § 13 Abs. 2 SGB XI die Leistungen der häuslichen Krankenpflege unberührt bleiben. § 37 Abs. 2 Satz 4 bis 6 SGB V verbietet lediglich die Erbringung von Leistungen der Grundpflege als häusliche Krankenpflege durch die Krankenkasse nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI, auch wenn dies ansonsten nach Maßgabe der Satzung möglich wäre (so auch LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23.10.2008, Az. L 1 B 346/08 KR ER).
Die Antragsgegnerin kann sich für ihre Haltung auch nicht auf das BSG berufen (vgl. hierzu LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23.10.2008, Az. L 1 B 346/08 KR ER). Aus der Grundsatzentscheidung des BSG vom 28. Januar 1999, Az. B 3 KR 4/98 R ergibt sich eine solche Einschränkung des Sachleistungsanspruches nicht. Im dortigen Verfahren hatte die beklagte Krankenkasse gerade anerkannt, dem dortigen Kläger die Behandlungspflege in der Zukunft als Sachleistung zu gewähren. Der klagende Versicherte hatte lediglich mit seiner Revision keinen Erfolg, soweit er die Krankenkasse darüber hinaus zu Leistungen der Grundpflege verurteilt wissen wollte. Alleine hierfür gibt es nach Auffassung des 3. Senats des BSG in diesem Urteil keine Rechtsgrundlage. Im Verfahren B 3 KR 38/04 R (Urteil vom 10. November 2005) stand von vornherein nur ein Anspruch auf 9,5 Stunden täglich als Sachleistung im Streit. Auch das BVerfG betont, der Rechtssprechung des BSG könne kein allgemein geltender Rechtsatz in dem Sinne entnommen werden, dass für die Zeiten, welche in die Leistungspflicht der Pflegekasse fielen, kein Anspruch auf Leistungen der Sicherstellungspflege bestehe (Beschluss vom 10. März 2008, Az. 1 BvR 2925/07, Rn. 5).
Jedenfalls in der Interpretation der beiden Entscheidungen des BSG, wie sie die Antragsgegnerin vornimmt, wäre der Grundsatz des Zurücktretens dagegen nicht mit dem Gesetz in Einklang. Diese verstößt gegen Art. 20 Abs. 3 GG, indem sie eigenmächtig die Kostendeckelung der sozialen Pflegeversicherung ohne gesetzliche Grundlage auf die gesetzliche Krankenversicherung überträgt. Dem Versicherten steht vielmehr gegenüber der Krankenversicherung nach wie vor der volle Sachleistungsanspruch zur Verfügung, ohne dass dieser zur Leistung eines Eigenanteiles verpflichtet wäre. Soweit die entsprechende Leistung nach dem SGB V sich auch als Grundleistung nach dem SGB XI darstellt, kann die Krankenkasse von der Pflegekasse entsprechend Erstattung verlangen bzw. sind die Leistungen der Pflegeversicherung auf den Anspruch des Antragstellers anzurechnen. Anzurechnen ist dabei der Geldwert der Leistungen der Pflegeversicherung und nicht die für die Grundpflege aufzuwendende Zeit. Eine Anrechnung des Geldwertes der Leistungen der Pflegeversicherung kann dabei erfolgen, solange die Grundpflege tatsächlich gleichzeitig von der die Behandlungspflege erbringenden Pflegeperson durchgeführt wird.
Des Weiteren verstößt die Vorgehensweise der Antragsgegnerin auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG, da die Anrechnung der Grundpflegezeit auf die Behandlungspflege zur Folge hat, dass die Antragsgegnerin für die Behandlungspflege in immer geringerem Umfang aufkommt, je pflegebedürftiger der Versicherte ist. Je pflegebedürftiger der Versicherte ist, umso höher sind die von ihm selbst zu tragenden Kosten für eine 24-Stunden Behandlungspflege. Die Pflegekasse erbringt Versicherten, die der Pflegestufe III zugeordnet sind Pauschal Sachleistungen im Wert von 1.470,00 EUR (§ 36 Abs. 3 Nr. 3a SGB XI), unabhängig davon, ob der Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung fünf Stunden oder sieben Stunden täglich beträgt. Nach der Vorgehensweise der Antragsgegnerin würde dem Versicherten, bei dem der tägliche Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung fünf Stunden beträgt, bei einer verordneten 24-Stunden Behandlungspflege Kostenübernahme für 19 Stunden Behandlungspflege täglich gewährt; demgegenüber würde der Versicherte, bei dem der tägliche Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung sieben Stunden beträgt, nur Behandlungspflege von 17 Stunden erhalten. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Entscheidend ist, ob es bei einer Interessenabwägung für den Betroffenen zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 27a f.). Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung setzt die Annahme eines Anordnungsgrundes voraus, dass anderenfalls mit schweren und unzumutbaren Nachteilen zu rechnen ist, weil das Abwarten des Hauptsacheverfahrens zu einem Risiko irreversibler gesundheitlicher Beeinträchtigungen führt, und der Betroffene nicht in der Lage ist, die Kosten vorläufig selbst zu tragen (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 86b Rn. 33a).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es ist nachvollziehbar, dass der Antragsteller nicht in der Lage ist, monatlich Kosten in Höhe von 3.255 EUR (= 4.725 EUR - 1.470 EUR; siehe oben S. 3) zu tragen, um eine 24-Stunden Behandlungspflege täglich zu ermöglichen. Dies gilt umso mehr im Hinblick darauf, dass die Behandlungspflege mit dem Ablauf des hier streitgegenständlichen Zeitraums nicht abgeschlossen ist, sondern Folgeverordnungen erforderlich sein werden. Mithin besteht die Differenz in der Finanzierung auf nicht absehbare Zeit. Der Antragsteller hat auch nachvollziehbar dargelegt, dass sein Leben gefährdet ist, wenn keine 24-Stunden Behandlungspflege erfolgt; dies hat die Antragsgegnerin auch nicht bestritten.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin hat zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt eine vorläufige Regelung hinsichtlich Leistungen der häuslichen Krankenpflege für 24 Stunden täglich ohne Anrechnung von Grundpflegezeiten und ohne Anrechnung von Leistungen der Pflegestufe III.
Der 1979 geborene Antragsteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Er leidet an amyotropher Lateralsklerose, einer progredient verlaufenden neuromuskulären Erkrankung. Er ist tracheotomiert und muss rund um die Uhr beatmet werden. Ernährt wird er über eine Sonde.
Der Antragsteller wurde aufgrund des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 08.10.2009 in die Pflegestufe III eingestuft. Er bekommt von der Pflegekasse der BKK Gesundheit monatlich Leistungen in Höhe von 1.470,00 EUR. In seinem Gutachten vom 08.10.2009 stellte der MDK einen für die Grundpflege erforderlichen Zeitaufwand von 245 Minuten pro Tag und einen für die hauswirtschaftliche Versorgung erforderlichen Zeitaufwand von 103 Minuten pro Tag fest. Die Grundpflege wird durch Mitarbeiter eines Pflegedienstes erbracht. Die hauswirtschaftliche Versorgung übernimmt die Lebensgefährtin des Antragstellers, die mit ihm zusammenlebt und vollschichtig berufstätig ist.
Am 27.10.2009 verordnete die behandelnde Ärztin des Antragstellers für die Zeit vom 26.10.2009 bis einschließlich 31.12.2009 häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung. Die häusliche Krankenpflege beinhaltet die Beatmungspflege, Vitalzeichenüberwachung, endotracheale Absaugung bei Bedarf sowie Trachealkanülenwechsel bei Bedarf. Die häusliche Krankenpflege ist 24 Stunden täglich notwendig. Die Person, welche die häusliche Krankenpflege durchführt, benötigt medizinisches Fachwissen, um Komplikationen rechtzeitig erkennen zu können. Durchgeführt wird die Behandlungspflege durch Mitarbeiter eines Pflegedienstes. Dabei erbringt der jeweilige Mitarbeiter des Pflegedienstes gleichzeitig auch die Grundpflege. Die Lebensgefährtin des Antragstellers verfügt nicht über das notwendig Fachwissen für die Durchführung der Behandlungspflege; außerdem steht die Lebensgefährtin des Antragstellers nicht 24 Stunden täglich zur Verfügung, da sie vollschichtig berufstätig ist.
Mit Bescheid vom 30.10.2009 bewilligte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme für häusliche Krankenpflege. In dem Bescheid steht wörtlich: "wir übernehmen die Kosten zu den vereinbarten Vertragssätzen: 24 h Pflege a 31,50/h. Abzüglich der Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe III". Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 10. November 2009 Widerspruch.
Am 10. November 2009 hat der Antragsteller Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Er trägt vor, der Anspruch des Antragstellers auf häusliche Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden täglich an 7 Tagen in der Woche erfahre nicht deshalb eine Einschränkung, weil der Antragsteller zugleich pflegebedürftig im Sinne der sozialen Pflegeversicherung sei und in die Pflegestufe III eingestuft sei. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus den Entscheidungen des BSG vom 28.01.1999, Az. B 3 KR 4/98 R und vom 10.11.2005, Az. B 3 KR 38/04 R, in denen das BSG einen Vorrang der Grundpflege vor der zeitgleich erbrachten Behandlungspflege postuliert habe. Es fehle bereits an einer gesetzlichen Regelungslücke, die einer Ausfüllung durch die Rechtsprechung zugänglich sein könnte, da § 13 Abs. 2 SGB XI bestimme, dass die Leistungen der Pflegeversicherung die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt lassen; die Leistungsansprüche nach § 37 SGB V und nach dem SGB XI würden somit anrechnungslos nebeneinander bestehen. Dies entspreche auch einer wertenden Betrachtung der Rechtsgüter, deren Schutz durch die Behandlungspflege einerseits und die Grundpflege andererseits sichergestellt werden soll. Die Behandlungspflege diene als lebensnotwendige Maßnahme dem Schutz des Lebens des Antragstellers. Die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung sollen demgegenüber dem Pflegebedürftigen ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben, das der Würde des Menschen entspricht, ermöglichen. Diesbezüglich verweist er auf den Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98. Des Weiteren würde eine Anrechnung der auf die Grundpflege entfallenden Zeiten zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen: Derjenige, der einer 24 stündigen Behandlungspflege bedarf, jedoch nicht pflegebedürftig im Sinne der Pflegeversicherung ist, habe einen Anspruch auf Leistungserbringung im Umfang von 24 Stunden; eine Kostenbelastung entstehe ihm nicht. Demgegenüber entstehe beim Antragsteller eine nicht unerhebliche Kostenbelastung dadurch, dass ihm Leistungen der Behandlungspflege nur für 19 Stunden (unter Anrechnung von 5 Stunden für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung) als Sachleistung zur Verfügung gestellt würden. Um die Behandlungspflege 24 Stunden am Tag zu ermöglichen, müsse der Antragsteller den Pflegedienst für 5 Stunden täglich bei einem Stundensatz von 31,50 EUR finanzieren. Dadurch würden dem Antragsteller Kosten in Höhe von 4.725,00 EUR (5 h × 31,50 EUR × 30 Tage) pro Monat entstehen. Demgegenüber würden die Leistungen der Pflegeversicherung bei Pflegestufe III lediglich 1.470,00 EUR pro Monat betragen. Mithin verbleibe beim Antragsteller ein von ihm zu finanzierender Anteil in Höhe von 3.305,00 EUR pro Monat. Allein für die Zeit vom 10.11.2009 bis zum 31.12.2009 würden sich die vom Antragsteller zu finanzierenden Kosten auf 5.691,00 EUR belaufen. Aus dieser Finanzierungslücke ergebe sich auch der Anordnungsgrund.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab Antragstellung bis zur Rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30.10.2009, längstens jedoch bis zum 31.12.2009, Krankenbeobachtung und Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege im Umfang von 24 Stunden täglich ohne Anrechnung von Leistungen der Pflegestufe III zu gewähren und den Antragsteller insoweit von den Kosten dieser Leistungen freizustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin trägt vor, der Antragsteller habe gegen die Antragsgegnerin keinen Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung. Diese Leistungseinschränkung gelte nur dann nicht, wenn die Intensivpflege aus medizinischen Gründen zeitgleich zur Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung erbracht werden müsse. Dies setze voraus, dass parallel zu einer Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung eine Behandlungspflege im Sinne einer Intensivpflege erforderlich sei. Dies sei nicht der Fall, wenn die Pflegekraft, die die Behandlungspflege durchführt, auch für Verrichtungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung eingesetzt werden könne. Der Antragsteller habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Pflegefachkraft, welche die Behandlungspflege durchführt zeitlich nicht auch in der Lage wäre, die Grundpflege durchzuführen.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG – der hier allein in Betracht kommt – kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs bzw. des Rechtsverhältnisses und der Grund für eine notwendige vorläufige Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. mit § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, hängt im allgemeinen von einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussicht in der Hauptsache ab, wobei bei irreversiblen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. Gefährdung des Lebens, wie das hier der Fall ist, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Fragen des Grundrechtsschutzes (Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz) einzubeziehen sind (z.B. Bundesverfassungsgericht vom 19.03.2004, NJW 2004, 3100). Unter Beachtung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz ist vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre; eine derartige Situation ist bei dem permanent beatmungspflichtigen Antragsteller gegeben (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 16.02.2006, Az. L 4 B 48/06 KR ER).
Der Antragsteller hat Anspruch auf Behandlungspflege für 24 Stunden täglich. Gemäß § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Da nach § 27 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V Ziel der ärztlichen Behandlung die Heilung einer Krankheit, Verhütung einer Verschlimmerung, Linderung der Krankheitsbeschwerden und nach der Rechtsprechung auch die Verlängerung des Lebens ist (vgl. BSG, Urteil vom 10.10.1978, Az. 3 RK 81/77), gelten gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 37 Abs. 2 SGB V diese Leistungsziele auch für die häusliche Krankenpflege.
Die medizinische Notwendigkeit der Behandlungspflege für 24 Stunden täglich ergibt sich aus der vertragsärztlichen Verordnung vom 27.10.2009 und wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Die erforderliche Überwachung der Atmung, die Kontrolle des Beatmungsgerätes und die Kontrolle der Sauerstoffwerte im Blut kann hier nicht durch eine im Haushalt des Antragstellers lebende Person gemäß § 37 Abs. 3 SGB V durchgeführt werden. Auch dies ist unstreitig.
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Behandlungspflege hinter der Grundpflege zurücktritt. Hier ist rund um die Uhr nach dem insoweit unstreitigen Vorbringen des Antragstellers, an dessen Richtigkeit nach Maßstäben summarischer Prüfung im Eilverfahren nicht zu zweifeln ist, eine besondere Pflege zu leisten, welche besondere Qualifikationen voraussetzt und die nicht von einer "normalen" Pflegekraft leistbar ist. Höherwertige Pflegedienstleistungen treten nicht zurück, auch wenn dabei normale Pflegeleistungen mitgeleistet werden. Soweit sich die Antragsgegnerin auf den Standpunkt stellt, sie erbringe dem Antragsteller gegenüber als Sachleistung 24h Stunden-Behandlungspflege abzüglich der Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe III, unterstellt die Antragsgegnerin einfach, dass nicht wirklich 24h-Stunden-Behandlungspflege geleistet werden muss, sondern vielmehr nur für den um die Grundpflegezeiten reduzierten Stunden- und Minutenanteil. Da die Behandlungspflege hier nicht in den Hintergrund tritt, erbringt die Antragsgegnerin bislang die von ihr geschuldete Sachleistung nicht (so auch LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23.10.2008, Az. L 1 B 346/08 KR ER).
Dem Antragsteller stünde jedoch Behandlungspflege als Sachleistung in Höhe von 24 Stunden zu, selbst wenn auch hier während der Leistung von Grundpflege die Behandlungspflege zurückträte.
Es gibt keine Regelung im SGB V, welche die Sachleistung häuslicher Krankenpflege von einer Gebühr (wie beispielsweise bei der Rezeptgebühr hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten) oder einer den Sachleistungsanspruch begrenzenden Eigenleistung (wie beispielsweise beim Wunsch nach höherwertiger Zahnfüllung nach § 28 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB V) abhängig macht. Es gibt auch keine Kostendeckelung wie bei der Grundpflege nach dem SGB XI. Damit sind nach dem Gesetz alle notwendigen Kosten häuslicher Krankenpflege zu übernehmen, selbst wenn der Pflegedienst auch die Grundpflege mitleisten kann oder könnte. Der Antragsteller weist im Einklang mit dem BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 10. März 2008, Az. 1 BvR 2925/07, Rn. 6) zutreffend darauf hin, dass nach § 13 Abs. 2 SGB XI die Leistungen der häuslichen Krankenpflege unberührt bleiben. § 37 Abs. 2 Satz 4 bis 6 SGB V verbietet lediglich die Erbringung von Leistungen der Grundpflege als häusliche Krankenpflege durch die Krankenkasse nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI, auch wenn dies ansonsten nach Maßgabe der Satzung möglich wäre (so auch LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23.10.2008, Az. L 1 B 346/08 KR ER).
Die Antragsgegnerin kann sich für ihre Haltung auch nicht auf das BSG berufen (vgl. hierzu LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 23.10.2008, Az. L 1 B 346/08 KR ER). Aus der Grundsatzentscheidung des BSG vom 28. Januar 1999, Az. B 3 KR 4/98 R ergibt sich eine solche Einschränkung des Sachleistungsanspruches nicht. Im dortigen Verfahren hatte die beklagte Krankenkasse gerade anerkannt, dem dortigen Kläger die Behandlungspflege in der Zukunft als Sachleistung zu gewähren. Der klagende Versicherte hatte lediglich mit seiner Revision keinen Erfolg, soweit er die Krankenkasse darüber hinaus zu Leistungen der Grundpflege verurteilt wissen wollte. Alleine hierfür gibt es nach Auffassung des 3. Senats des BSG in diesem Urteil keine Rechtsgrundlage. Im Verfahren B 3 KR 38/04 R (Urteil vom 10. November 2005) stand von vornherein nur ein Anspruch auf 9,5 Stunden täglich als Sachleistung im Streit. Auch das BVerfG betont, der Rechtssprechung des BSG könne kein allgemein geltender Rechtsatz in dem Sinne entnommen werden, dass für die Zeiten, welche in die Leistungspflicht der Pflegekasse fielen, kein Anspruch auf Leistungen der Sicherstellungspflege bestehe (Beschluss vom 10. März 2008, Az. 1 BvR 2925/07, Rn. 5).
Jedenfalls in der Interpretation der beiden Entscheidungen des BSG, wie sie die Antragsgegnerin vornimmt, wäre der Grundsatz des Zurücktretens dagegen nicht mit dem Gesetz in Einklang. Diese verstößt gegen Art. 20 Abs. 3 GG, indem sie eigenmächtig die Kostendeckelung der sozialen Pflegeversicherung ohne gesetzliche Grundlage auf die gesetzliche Krankenversicherung überträgt. Dem Versicherten steht vielmehr gegenüber der Krankenversicherung nach wie vor der volle Sachleistungsanspruch zur Verfügung, ohne dass dieser zur Leistung eines Eigenanteiles verpflichtet wäre. Soweit die entsprechende Leistung nach dem SGB V sich auch als Grundleistung nach dem SGB XI darstellt, kann die Krankenkasse von der Pflegekasse entsprechend Erstattung verlangen bzw. sind die Leistungen der Pflegeversicherung auf den Anspruch des Antragstellers anzurechnen. Anzurechnen ist dabei der Geldwert der Leistungen der Pflegeversicherung und nicht die für die Grundpflege aufzuwendende Zeit. Eine Anrechnung des Geldwertes der Leistungen der Pflegeversicherung kann dabei erfolgen, solange die Grundpflege tatsächlich gleichzeitig von der die Behandlungspflege erbringenden Pflegeperson durchgeführt wird.
Des Weiteren verstößt die Vorgehensweise der Antragsgegnerin auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG, da die Anrechnung der Grundpflegezeit auf die Behandlungspflege zur Folge hat, dass die Antragsgegnerin für die Behandlungspflege in immer geringerem Umfang aufkommt, je pflegebedürftiger der Versicherte ist. Je pflegebedürftiger der Versicherte ist, umso höher sind die von ihm selbst zu tragenden Kosten für eine 24-Stunden Behandlungspflege. Die Pflegekasse erbringt Versicherten, die der Pflegestufe III zugeordnet sind Pauschal Sachleistungen im Wert von 1.470,00 EUR (§ 36 Abs. 3 Nr. 3a SGB XI), unabhängig davon, ob der Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung fünf Stunden oder sieben Stunden täglich beträgt. Nach der Vorgehensweise der Antragsgegnerin würde dem Versicherten, bei dem der tägliche Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung fünf Stunden beträgt, bei einer verordneten 24-Stunden Behandlungspflege Kostenübernahme für 19 Stunden Behandlungspflege täglich gewährt; demgegenüber würde der Versicherte, bei dem der tägliche Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung sieben Stunden beträgt, nur Behandlungspflege von 17 Stunden erhalten. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Entscheidend ist, ob es bei einer Interessenabwägung für den Betroffenen zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 27a f.). Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung setzt die Annahme eines Anordnungsgrundes voraus, dass anderenfalls mit schweren und unzumutbaren Nachteilen zu rechnen ist, weil das Abwarten des Hauptsacheverfahrens zu einem Risiko irreversibler gesundheitlicher Beeinträchtigungen führt, und der Betroffene nicht in der Lage ist, die Kosten vorläufig selbst zu tragen (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 86b Rn. 33a).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es ist nachvollziehbar, dass der Antragsteller nicht in der Lage ist, monatlich Kosten in Höhe von 3.255 EUR (= 4.725 EUR - 1.470 EUR; siehe oben S. 3) zu tragen, um eine 24-Stunden Behandlungspflege täglich zu ermöglichen. Dies gilt umso mehr im Hinblick darauf, dass die Behandlungspflege mit dem Ablauf des hier streitgegenständlichen Zeitraums nicht abgeschlossen ist, sondern Folgeverordnungen erforderlich sein werden. Mithin besteht die Differenz in der Finanzierung auf nicht absehbare Zeit. Der Antragsteller hat auch nachvollziehbar dargelegt, dass sein Leben gefährdet ist, wenn keine 24-Stunden Behandlungspflege erfolgt; dies hat die Antragsgegnerin auch nicht bestritten.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Login
HES
Saved