L 20 AS 709/10 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AS 212/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AS 709/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 30.03.2010 geändert. Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Münster Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin Q, X, zu seiner Vertretung beigeordnet.

Gründe:

Zu Unrecht ist das Sozialgericht in seinem Beschluss vom Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht i.S.v. § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) ausgegangen und hat dementsprechend die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Kläger, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht selbst tragen kann, abgelehnt.

Denn es erscheint keineswegs sicher, dass der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 28.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.11.2009, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 22.09.2008 zugunsten des Klägers zu ändern, rechtmäßig ist.

Mit jenem Bescheid vom 22.09.2008 hat die Beklagte (soweit der Kläger betroffen ist) eine Bewilligung von Leistungen an den Kläger nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 11. bis 31.07.2008 rückwirkend aufgehoben und die gezahlte Leistung in Höhe von 80,44 EUR vom Kläger zurückgefordert. Die Beklagte hat diesen Bescheid wegen der damaligen Minderjährigkeit des Klägers (geb. 00.00.1991) allein gegenüber seiner (zuvor angehörten) Mutter, Frau I G aus S, erlassen. Der Kläger selbst lebte allerdings seit dem 00.07.2008 bereits bei seinem Vater in P und erfuhr erst durch entsprechende Vollstreckungsmaßnahmen von dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid.

Die Beklagte geht in dem Bescheid ohne weiteres davon aus, dass er an die Mutter des Klägers als dessen gesetzliche Vertreterin zu richten war. Überlegungen oder Ermittlungen, ob die gesetzliche Vertretung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses von der Mutter überhaupt noch (allein) ausgeübt werden konnte, waren zuvor nicht erfolgt. Insbesondere war nicht etwa bekannt und auch nicht einmal ersichtlich, dass die Mutter des Klägers (entgegen § 1626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) die ausnahmsweise alleinige elterliche Sorge für den Kläger innehatte. Die gesetzliche Vertretung des Minderjährigen ist nach § 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB von der elterlichen Sorge umfasst. Nach Satz 2, 1. Halbsatz der Vorschrift vertreten die Eltern das Kind gemeinschaftlich (wenn nicht nach Satz 3 ein Elternteil die elterliche Sorge allein ausübt oder sie ihm durch Entscheidung nach § 1628 BGB übertragen ist). Dementsprechend hat der Kläger auf Nachfrage des Senats mit Schriftsatz vom 15.06.2010 mitgeteilt, es habe eine gemeinsame gesetzliche Vertretung durch seine Eltern bestanden.

Zwar genügt nach § 1962 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz BGB bei einer gegenüber dem Kind abzugebenden Willenserklärung die Abgabe gegenüber einem Elternteil. Dieser Wertung entspricht es, wenn das Landeszustellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (LZG) für Zustellungen an gesetzliche Vertreter bei mehreren gesetzlichen Vertretern in § 6 Abs. 3 die Zustellung an einen von ihnen genügen lässt. Auch wenn der vom Kläger angefochtene Bescheid nicht förmlich zugestellt worden ist, kann aus diesen gesetzlichen Wertungen entnommen werden, dass jedenfalls grundsätzlich die Bekanntgabe eines Bescheides gegenüber einem von zwei vorhandenen gesetzlichen Vertretern ausreichend ist (vgl. hierzu auch BayVGH, Urteil vom 21.07.1978 - 220 II 76 zu Rn. 17 nach JURIS; siehe ferner VG Göttingen, Urteil vom 12.05.2005 - 2 A 463/03 zu Rn. 22 nach JURIS m.w.N.; siehe ferner Recht, in: Hauck/Haines, SGB X, Loseblatt, Stand der konkret kommentierten Stelle Juni 2009, § 37 Rn. 12).

Allerdings bestehen im Falle des Klägers Besonderheiten, die eine genauere Klärung erfordern, ob dieser Grundsatz auch eine Geltung beansprucht, oder ob insoweit eine Ausnahme zu gelten hat:

Der Kläger war im fraglichen Zeitpunkt als damals Siebzehnjähriger nach § 36 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) handlungsfähig. Insofern dürfte zwar der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid wegen der belastenden Wirkung gleichwohl dem gesetzlichen Vertreter bekannt zu geben gewesen sein. Dennoch kann in einem solchen Fall der Minderjährige, aber Handlungsfähige (neben dem gesetzlichen Vertreter) vor Erlass des Bescheides bereits anzuhören sein (vgl. hierzu Fastabend, in: Hauck/Noftz, SGB I, Loseblatt, Stand der konkret kommentierten Stelle Oktober 2003. § 36 Rn. 13 m.w.N.). Die Beklagte hat allein die Mutter des Klägers, nicht aber den nicht mehr in ihrem Haushalt wohnenden Kläger selbst angehört.

Selbst wenn eine Anhörungspflicht gegenüber dem Kläger nicht bestanden haben sollte, könnten schließlich allgemeine Grundsätze des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens einer Bescheidbekanntgabe an einen Elternteil entgegenstehen, wenn das minderjährige Kind (dem Leistungsträger bekannt) gar nicht mehr bei diesem Elternteil lebt und deshalb nicht damit gerechnet werden kann, dass das Kind selbst oder der Elternteil, bei dem es sich nunmehr aufhält, überhaupt von dem aus Sicht des Kindes rechtlich nachteiligen Bescheid des Sozialleistungsträgers erfährt.

Das Sozialgericht wird deshalb genauer zu prüfen haben, ob die Beklagte den Bescheid vom 22.08.2008 trotz (Kenntnis) des Umzugs des Klägers zu seinem Vater nach P nach wie vor mit Wirksamkeit auch für den Kläger gegenüber seiner Mutter erlassen konnte. Die mit dieser Frage verbundenen rechtlichen Schwierigkeit rechtfertigt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 73a Rn. 7b).

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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