L 2 J 166/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 20 J 2876/92
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 J 166/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Dezember 1994 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Gewährung von Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 1934 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebt seit August 1968 in der Bundesrepublik Deutschland. Hier war er als Montagearbeiter bis 30. Juni 1982 beschäftigt. Anschließend war er bis Oktober 1982 arbeitsunfähig. Er beantragte am 19. Oktober 1982 die Gewährung von Arbeitslosengeld, das ihm bis zum 2. November 1983 gewährt wurde. Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung wurden zugunsten des Klägers letztmalig im Dezember 1982 entrichtet. Im Oktober 1983 sandte das Arbeitsamt A-Stadt dem Kläger einen Anschlußantrag auf Arbeitslosenhilfe zu. Am 1. März 1985 sprach der Kläger beim Arbeitsamt A-Stadt vor und erhielt erneut einen Vordruck für die Beantragung von Arbeitslosenhilfe. Der Antrag wurde dem Arbeitsamt am 8. März 1985 vorgelegt. Mit Bescheid vom 18. März 1985 lehnte das Arbeitsamt den Antrag auf Gewährung von Arbeitslosenhilfe ab, da der Kläger nicht bedürftig sei und keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe habe. Der Kläger war in der Folgezeit bis 19. Juni 1991 arbeitslos.

Am 25. März 1992 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit unter Vorlage eines Befundberichts des Arztes Dr. C. vom 27. April 1992. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 21. Juli 1992 ab, weil der Kläger in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit keine 3 Jahre Pflichtbeitragszeiten aufzuweisen habe und die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht aufgrund eines Tatbestandes eingetreten sei, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sei. In dem maßgeblichen Zeitraum vom 1. März 1987 bis 29. Februar 1992 sei kein Monat mit Pflichtbeiträgen belegt. Auch die Voraussetzungen des § 241 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) seien nicht erfüllt. Gegen den ablehnenden Rentenbescheid erhob der Kläger Widerspruch, den die Beklagte mit Bescheid vom 26. November 1992 zurückwies. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit seien nicht erfüllt. Es komme daher nicht darauf an, ob der Kläger inzwischen Berufs- oder Erwerbsunfähig geworden sei.

Gegen den Widerspruchsbescheid erhob der Kläger am 9. Dezember 1992 Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main. Er trug vor, er sei der festen Überzeugung, daß er sich seit dem 2. November 1983 regelmäßig beim Arbeitsamt als arbeitsuchend gemeldet und keiner seiner Türkeiaufenthalte länger als zwei Monate gedauert habe. Erwerbsunfähigkeit vor Juli 1984 mache er nicht geltend. Außerdem legte er Befundunterlagen des D.krankenhauses, A Stadt, vom 1. September 1993, 2. März 1987 und 28. November 1991 vor.

Die Beklagte legte Versicherungsverläufe des Klägers vom 5. Januar 1993 und 31. August 1993 vor, außerdem einen ärztlichen Entlassungsbericht der Neurologischen Klinik, E-Stadt, vom 1. März 1993, in dem beim Kläger ein Hirnstamminsult, eingetreten am 18. Dezember 1992, diagnostiziert wurde. Die stationäre Behandlung des Klägers fand in der Zeit vom 18. Januar bis 15. Februar 1993 statt. Unter Berücksichtigung des Entlassungsberichts ging die Beklagte davon aus, daß Erwerbsunfähigkeit bei dem Kläger seit dem 18. Dezember 1992 vorliege.

Das Sozialgericht holte Auskünfte ein vom Ärztlichen Dienst des Arbeitsamtes A-Stadt vom April 1993 und von der AOK A-Stadt vom 7. Juli 1993, außerdem einen Befundbericht der Dres. C. und F. vom 18. Februar 1994. Ferner zog das Sozialgericht bei die Ausländerakte des Klägers von der Stadt A-Stadt, die Leistungsakte des Klägers vom Arbeitsamt A-Stadt und die Schwerbehindertenakte des Klägers vom Versorgungsamt A-Stadt zum Verfahren.

Mit Urteil vom 7. Dezember 1994 verpflichtete das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 21. Juli 1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1992, dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 1993 in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Zur Begründung seiner Entscheidung führte es im wesentlichen aus, nach dem Hirnstamminsult am 18. Dezember 1992 sei der Kläger erwerbsunfähig. Ein früherer Zeitpunkt komme nicht in Betracht, da ein solcher jedenfalls nicht mit der nötigen Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden könne. Dies sei zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Allerdings habe der Kläger in dem maßgeblichen Zeitraum vom 18. Dezember 1987 bis 17. Dezember 1992 nicht die erforderlichen drei Jahre Pflichtbeitragszeiten erfüllt. Der Kläger habe aber im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs das Recht zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge, so daß auf ihn das übergangsrecht nach § 241 SGB VI anwendbar sei. Der Versicherungsverlauf weise für die Zeit vom 8. November 1983 bis 28. Februar 1985 eine Lücke auf. Hier sei insbesondere nicht erwiesen, daß sich der Kläger in diesem Zeitraum arbeitslos gemeldet habe oder aber über längere Zeiträume arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Aber über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch seien die fehlenden Anwartschaftserhaltungszeiten dem Kläger einzuräumen. Das Arbeitsamt habe es pflichtwidrig unterlassen, dem Kläger bei Zusendung des Antrags auf Arbeitslosenhilfe im November 1983 eine Erläuterung über die Rechtsfolgen einer in Zukunft unterbleibenden Meldung bzw. einer unterbleibenden Beantragung von Arbeitslosenhilfe beizufügen. Der Kläger sei durch das Arbeitsamt nicht darüber beraten worden, daß eine Beantragung von Arbeitslosenhilfe, selbst wenn er aufgrund einer fehlenden Bedürftigkeit zum konkreten Leistungsbezug nicht berechtigt sein sollte, eine Auswirkung auf sein Rentenversicherungskonto haben werde. Außerdem sei das Arbeitsamt gehalten gewesen, den Kläger zumindest auf eine mögliche Gesetzesänderung zum 1. Januar 1984 im Bereich der Rentenversicherung hinzuweisen. Die Beratungsfehler des Arbeitsamts seien auch kausal geworden für die unterlassenen Meldungen des Klägers beim Arbeitsamt und die unterlassene Beantragung der Arbeitslosenhilfe im November 1983. Der Beratungsfehler des Arbeitsamtes sei der Beklagten zuzurechnen. Die organisatorische Verlagerung von Teilen eines Verwaltungsverfahrens auf eine andere Behörde sei grundsätzlich kein entscheidendes Argument gegen die Begründetheit eines Anspruchs. Die letztlich verpflichtete Behörde habe jedenfalls kein berechtigtes Interesse, den Herstellungsanspruch daran scheitern zu lassen, daß er auf Fehlern einer anderen Behörde beruhe.

Mit ihrer am 21. Februar 1995 eingelegten Berufung wendet sich die Beklagte gegen das ihr am 27. Januar 1995 zugestellte Urteil. Sie vertritt die Auffassung, daß der Kläger keinen Herstellungsanspruch habe. Ein Beratungsfehler des Arbeitsamtes sei nicht festzustellen. Der Kläger habe das im November 1983 zugesandte Antragsformular für Arbeitslosenhilfe nicht zurückgesandt. Es habe an dem Kläger gelegen, nun Kontakt mit der Arbeitsverwaltung aufzunehmen, um die weiter notwendigen Gesichtspunkte zu klären. Dagegen habe es nicht dem Arbeitsamt oblegen, weitere Initiativen gegenüber dem Kläger zu ergreifen. Es habe dem Arbeitsamt auch im Oktober 1983 nicht oblegen, den Kläger über die sich verschärfenden versicherungsrechtlichen Voraussetzungen und die Anwartschaftserhaltung im Sinne des Haushaltbegleitgesetzes 1984 zu beraten. Im Oktober 1983 sei es keinesfalls absehbar gewesen, welche Gestalt die gesetzliche Neuregelung annehmen werde. Aus alledem folge, daß das Arbeitsamt keine Beratungspflicht verletzt habe. Damit liege auch ein sog. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht vor.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Dezember 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Warum er im Oktober 1983 das Formular zur Beantragung von Arbeitslosenhilfe nicht zurückgesandt und sich erst wieder im März 1985 beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet habe, könne er nicht mehr angeben. Soweit er sich erinnere, habe er sich auch nach 1983 alle zwei Monate beim Arbeitsamt gemeldet.

Der Senat hat die Leistungsakte des Klägers vom Arbeitsamt A-Stadt zum Verfahren beigezogen.

Wegen der Einzelheiten im übrigen wird auf die Gerichts- und Rentenakte sowie die Leistungsakte des Arbeitsamts A-Stadt, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und auch sachlich begründet.

Entgegen der Entscheidung des Sozialgerichts kann der Kläger nicht die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Januar 1993 verlangen.

Nach § 44 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) hat ein Versicherter Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn er erwerbsunfähig ist, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit 3 Jahre Pflichtbeitragszeiten und vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Zwar hat der Kläger die allgemeine Wartezeit erfüllt, jedoch fehlt es an den weiteren Voraussetzungen für den geltend gemachten Rentenanspruch.

Der Kläger ist unstreitig ab 18. Dezember 1992 erwerbsunfähig infolge eines Hirnstamminsultes. Bezogen auf den Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit im Dezember 1992 hat der Kläger in dem 5-Jahreszeitraum vor Eintritt des Versicherungsfalles keine 3 Jahre mit Pflichtbeiträgen aufzuweisen. Der Kläger hat den letzten Pflichtbeitrag bereits im Dezember 1982 entrichtet. Eine Verlängerung des 5 Jahreszeitraums nach § 43 Abs. 3 SGB VI kommt nicht in Betracht. Die Zeit der Arbeitslosigkeit ab 1. März 1985 ist keine Anrechnungszeit, da sie eine versicherte Beschäftigung nicht unterbrochen hat und in den letzten 6 Kalendermonaten vor Beginn der Arbeitslosigkeit nicht wenigstens ein Pflichtbeitrag liegt.

Der Kläger kann seinen Anspruch auch nicht auf die §§ 240, 241 SGB VI stützen. Nach den §§ 240 Abs. 2, 241 Abs. 2 SGB VI sind Pflichtbeitragszeiten vor Eintritt der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit für diejenigen Versicherten nicht erforderlich, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist oder wenn die Berufs bzw. Erwerbsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1984 eingetreten ist. Für Kalendermonate, für die eine Beitragszahlung noch zulässig ist, ist eine Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten nicht erforderlich. Im Falle des Klägers liegen Anwartschaftserhaltungszeiten von Dezember 1983 bis Februar 1985 nicht vor.

Eine nachträgliche Beitragszahlung ist auch unter Zugrundelegung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zugunsten des Klägers nicht zulässig, da ein Herstellungsanspruch nicht vorliegt. Der Herstellungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bisher nur dort anerkannt worden, wo der Versicherte durch ein Verhalten der Verwaltung entweder von einer rechtzeitigen Wahrnehmung ihm zustehender Rechte abgehalten oder veranlaßt wurde, eine für ihn ungünstige Erklärung abzugeben, außerdem bei Sachverhalten, bei denen durch ein objektives Fehlverhalten der Verwaltung die Entscheidung des Versicherten über die Wahrnehmung von Rechten zu seinen Ungunsten fehlgeleitet wurde (vgl. Urt. des BSG vom 8. November 1995 Az.: 13 RJ 5/95). Darüber hinaus muß Kausalität zwischen unterbliebener oder fehlerhafter Belehrung durch den Versicherungsträger und sozialrechtlichem Nachteil des Versicherten bestehen. Der Beklagten bzw. dem Arbeitsamt ist eine unterlassene Beratung nicht vorzuwerfen. Beim Ende des Arbeitslosengeldbezugs des Klägers am 2. November 1983 war über die Rechtsänderungen des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 noch nicht endgültig entschieden worden. Die Verabschiedung des Gesetzes erfolgte erst am 22. Dezember 1983 mit Wirkung zum 1. Januar 1984. Damit konnte zur Zeit der Übersendung des Anschlußantrages für Arbeitslosenhilfe im Oktober 1983 keine konkrete Auskunft über die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ab Januar 1984 erfolgen, insbesondere nicht von seiten der Arbeitsverwaltung, da die Vorschriften den Bereich der Rentenversicherung betrafen. Auch das BSG hat im Urteil vom 25. August 1993 (Az.: 13 RJ 43/92) entschieden, daß im Oktober 1983 eine Beratungspflicht des Rentenversicherungsträgers über die erst am 22. Dezember 1983 beschlossenen Neuregelungen des Haushaltbegleitgesetzes grundsätzlich nicht bestand. Darüber hinaus fehlt es an dem Ursachenzusammenhang zwischen unterlassener Beratung der Arbeitsverwaltung und unterbliebener Meldung des Klägers beim Arbeitsamt nach Auslaufen seines Anspruchs auf Arbeitslosengeld. Es steht nicht nachweislich fest, daß der Kläger sich nach November 1983 weiterhin arbeitslos gemeldet hätte, wenn er von seiten des Arbeitsamtes darüber belehrt worden wäre, daß für die Rentenversicherung eine kontinuierliche Meldung beim Arbeitsamt auch ohne Leistungsbezug erforderlich sein kann. Der Kläger kann selbst nicht erklären, aus welchen Gründen er das Formular für die Gewährung von Arbeitslosenhilfe nicht zurückgegeben und sich erst wieder 1985 arbeitslos gemeldet hat. Es ist nicht ersichtlich, daß hierfür gerade eine fehlende Beratung durch die Arbeitsverwaltung ursächlich war. Im übrigen hat der Kläger sich nach seinem eigenen, jedoch nicht bewiesenen Vortrag, in der streitigen Zeit sogar regelmäßig beim Arbeitsamt gemeldet, was bedeuten würde, daß er offenbar keiner weiteren Beratung durch das Arbeitsamt über die Notwendigkeit einer Arbeitslosmeldung nach dem Ende des Arbeitslosengeldbezuges bedurfte. Schließlich ist nicht nachgewiesen, ob der Kläger während der streitigen Zeit überhaupt subjektiv arbeitslos war, d.h. bereit und in der Lage war, jede zumutbare Tätigkeit anzunehmen (vgl. § 103 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz).

Nach alledem mußte das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da es an den Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG fehlt.
Rechtskraft
Aus
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