L 6 U 73/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 6 U 213/03
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 73/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des der Klägerin vom 4. August 1998 bis zum 2. Februar 1999 gewährten Verletztengeldes.

Der am 1965 geborenen Klägerin stand im streitigen Zeitraum wegen eines von der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel (Rechtsvorgängerin der Beklagten; nachfolgend einheitlich als die Beklagte bezeichnet) bestandskräftig anerkannten Arbeitsunfalls vom 23. Juni 1998 (Bescheid vom 22. April 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 2000) Verletztengeld zu. Mit einem Schreiben vom 21. August 1998 wies die Beklagte sie u.a. darauf hin, dass das bei unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit zu gewährende Verletztengeld von der zuständigen Krankenkasse im Auftrag des Unfallversicherungsträgers geleistet werde. Auf der Grundlage eines von der Beigeladenen der Klägerin im September 1998 ohne Rechtsbehelfsbelehrung erteilten Bescheides zahlte diese vom 4. August 1998 an bis zum 2. Februar 1999 (180 Tage) Verletztengeld und legte dabei ein von der Klägerin im Bemessungszeitraum vom 1. bis zum 31. Mai 1998 erzieltes kalendertägliches Nettoarbeitsentgelt von 57,27 DM bei einem Regelentgelt von 84,60 DM zugrunde. Bei dieser Berechnung ließ die Beigeladene die der Klägerin zustehenden Ansprüche auf Urlaubs- bzw. Weihnachtsgeld unberücksichtigt.

Mit einem bei der Beigeladenen am 12. Juni 2003 eingegangenen Schreiben beantragte die Klägerin für die Zeit vom 4. August 1998 bis zum 2. Februar 1999 Nachberechnung "des Krankengeldes für die Zahlung des Verletztengeldes”, erhob zugleich Widerspruch gegen den Bescheid der Beigeladenen von September 1998 und begehrte insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung berief sie sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. März 2003 (B 1 KR 36/01 R, SozR 4-1500 § 67 Nr. 1).

Nachdem die Beigeladene den Antrag an sie weitergeleitet hatte, lehnte die Beklagte mit am 30. Juni 2006 zur Post gegebenen Bescheid vom 27. Juni 2003 die Nachberechnung des Verletztengeldes ab und führte aus: Der der Verletztengeldzahlung zugrunde liegende Bescheid sei bereits im September 1999 bindend geworden. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheitere an der insoweit abgelaufenen Antragsfrist. Auch wenn das Anliegen der Klägerin als Überprüfungsantrag gewertet werde, könne ihm in der Sache jedoch deshalb nicht stattgegeben werden, weil eine Nachberechnung nach dem Gesetz nur zulässig sei, wenn über Ansprüche auf Verletztengeld entweder vor dem 22. Juni 2000 bereits unanfechtbar entschieden gewesen sei und diese über den 21. Juni 2000 hinaus reichten oder erst nach dem 21. Juni 2003 begännen. Bei der Klägerin läge keine dieser Alternativen vor. Die Zahlung habe am 2. Februar 1999 geendet. Das angeführte Urteil des BSG betreffe nur Sachverhalte, in denen zum Zeitpunkt der Abgabe bestimmter Erklärungen der Krankenkassen über einen Krankengeldanspruch noch nicht rechtskräftig entschieden gewesen sei. Abgesehen davon sei diese Rechtsprechung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung nicht anwendbar, da die Unfallversicherungsträger keinen Vertrauenstatbestand durch (ihnen zurechenbare) Erklärungen der Krankenkassen geschaffen hätten.

Hiergegen erhob die Klägerin am 30. Juni 2003 Widerspruch. Auf deren Anfrage teilte die Beigeladene der Beklagten mit Schreiben vom 19. August 2003 mit, erstmals Kenntnis von der Höhe des Verletztengeldes habe die Klägerin am 26. August 1998 erhalten, als ihr dieses zum ersten Mal ausgezahlt worden sei. Der Text auf dem Überweisungsträger an die Klägerin laute "Zahlung vom ... bis ... ”.

Mit auf dem Postweg übersandten Widerspruchsbescheid vom 18. September 2003 (Donnerstag) wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin unter Verweis auf ihre Ausführungen im Ausgangsbescheid als unbegründet zurück.

Am 22. Oktober 2003 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Halle Klage erhoben und zur Begründung geltend gemacht: Mit der Gemeinsamen Erklärung des DGB, der DAG, der BDA und der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung vom 28. Juli 1998 hätten sich die Sozialpartner an die Öffentlichkeit gewandt und zugesichert, die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Hinblick auf die beitragsrechtliche Behandlung von Einmalzahlungen bei dem Bezug von Lohnersatzleistungen wie z.B. Krankengeld, Übergangsgeld oder Arbeitslosengeld zu erwartende Entscheidung auf gleich liegende Sachverhalte übertragen zu wollen, ohne dass Anträge oder Widersprüche erforderlich seien. Aufgrund dieser Erklärung sei sie davon ausgegangen, dass ihr Verletztengeld nachberechnet werde. In dieser Sichtweise habe sie die Beigeladene durch weitere entsprechende Verlautbarungen, etwa im KKH-Journal 4/2000, bestärkt. Dass die Beklagte als Unfallversicherungsträger an der Erklärung vom 28. Juli 1998 nicht beteiligt gewesen sei, sei rechtlich unerheblich. Nachdem das BVerfG mit seiner Entscheidung vom 24. Mai 2000 (1 BvL 1/98 u.a. – BVerfGE 101, 127 = SozR 3-2400 § 23a Nr. 1) den durch das Eimnalzahlungsgesetz geschaffenen Rechtszustand für verfassungswidrig erklärt habe und daraufhin das Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I 1971) erlassen worden sei, habe sie vergebens auf eine Neuberechnung ihres Verletztengeldes gewartet. Als sie vom Urteil des BSG vom 25. März 2003 im Juni 2003 erfahren habe, habe sie umgehend Wiedereinsetzung beantragt und Nachberechnung begehrt.

Mit Urteil vom 31. März 2006 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2003 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das der Klägerin im Zeitraum vom 4. August 1998 bis 2. Februar 1999 gewährte Verletztengeld unter Erhöhung des Regelentgeltes um 10 vH bis zu einem Betrag in Höhe des 360. Teils des Höchstjahresarbeitsverdienstes bzw. unter entsprechender Erhöhung des regelmäßigen Nettoarbeitsentgeltes um denselben Vomhundertsatz neu zu berechnen und eine sich ergebende Zahlungsdifferenz an die Klägerin auszuzahlen.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der streitige Zeitraum liege zwar vollständig vor dem 22. Juni 2000. Allerdings sei über die Höhe des der Klägerin zustehenden Verletztengeldes noch nicht unanfechtbar entschieden worden. Denn ihr sei wegen Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dabei mache es wegen der engen Verzahnung der Krankenkasse und des Unfallversicherungsträgers im Hinblick auf die Gewährung von Verletztengeld keinen Unterschied, dass vorliegend kein Krankengeldanspruch betroffen sei. Die Klägerin sei auch ohne eigenes Verschulden an der Wahrung der Widerspruchsfrist gehindert gewesen. Die Gemeinsame Erklärung vom 28. Juli 1998 sei nämlich geeignet gewesen, Versicherte, die von ihr Kenntnis erlangt hatten, generell von der Erhebung von Widersprüchen bezüglich leistungsrechtlicher Ansprüche abzuhalten. Es sei auch nicht erforderlich, dass die Klägerin diese Erklärung seinerzeit positiv gekannt habe. Sinn und Zweck der Verlautbarung sei nämlich gewesen, möglichst viele Versicherte zu erreichen und von der Einlegung von Rechtsbehelfen abzuhalten. Damit treffe die Beklagte die Beweislast dafür, dass die Klägerin unabhängig von der Erklärung die Widerspruchsfrist hat verstreichen lassen. Die Klägerin habe auch nicht innerhalb eines Jahres seit dem Ende der versäumten Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung beantragen können. Denn der durch die Gemeinsame Erklärung vom 28. Juli 1998 gesetzte Vertrauenstatbestand stelle einen Fall höherer Gewalt dar. Dies habe das BSG im Urteil vom 25. März 2003 für den dort zu entscheidenden Fall überzeugend dargelegt. Dem schließe sich das Gericht vorliegend an. Demnach müsse sich die Beklagte die Folgen dieser Erklärung zurechnen lassen; andernfalls handle sie rechtswidersprüchlich. Schließlich habe die Klägerin auch binnen eines Monats nach Wegfall ihres Vertrauens Widerspruch erhoben und Wiedereinsetzung beantragt. Der Verwaltungsakt über die Verletztengeldzahlung sei zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Erklärung vom 28. Juli 1998 noch nicht erlassen gewesen.

Gegen das ihr am 16. Mai 2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 1. Juni 2006 beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt und an ihrer Rechtsansicht festgehalten. Die Unfallversicherungsträger seien an der Gemeinsamen Erklärung vom 28. Juli 1998 nicht beteiligt gewesen, so dass ihr diese nicht zugerechnet werden könne. Diese Äußerung habe auch nicht so verstanden werden können, dass sie sich auf Beiträge zur Unfallversicherung beziehe, zu deren Zahlung die Versicherten nicht verpflichtet seien. Damit entfalle zugleich die vom BSG vertretene Ausdehnung auf Entgeltleistungen, zumal der Klägerin angesichts des Hinweises vom 21. August 1998 und der Formulierung ihres Antrags von Juni 2003 bewusst gewesen sei, dass sie Verletzten- und nicht etwa Krankengeld bezogen habe. Schließlich sei die gesetzliche Unfallversicherung auch nicht Gegenstand der Verfahren vor dem BVerfG gewesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 31. März 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil des SG.

Mit Beschluss vom 14. September 2006 hat der Senat die Beigeladene am Verfahren beteiligt, die keinen Antrag gestellt hat. Sie verweist darauf, dass sich die gesetzlichen Krankenkassen bereits im Jahre 2003 darauf verständigt hätten, Anträge der Versicherten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Verletztengeldzahlung an den zuständigen Unfallversicherungsträger weiterzuleiten und erst nach Erteilung eines Einzelauftrages durch diesen eine Nachzahlung an die Versicherten vorzunehmen. Grund hierfür sei die – auch von der Beklagten im vorliegenden Rechtsstreit vertretene – Rechtsposition der Unfallversicherungsträger. Entsprechend sei sie hier verfahren und habe der Beklagten den Antrag der Klägerin mit Schreiben vom 13. Juni 2003 zugeleitet.

Der Senat hat vom LSG Mecklenburg-Vorpommern dessen Urteil vom 23. Februar 2006 (L 5 U 4/04) beigezogen und den Beteiligten übermittelt. Auf seine Anfrage hat die Beklagte mit Schreiben vom 30. März 2007 mitgeteilt, dass das vorliegende Verfahren ihr letzter Altfall zum Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz ist; wenn überhaupt hätten die Unfallversicherungsträger nur noch über sehr wenige Vergleichsfälle zu entscheiden.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung und der Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG statthafte sowie auch form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) Berufung ist zulässig. Insbesondere ist der nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der insoweit noch anwendbaren Fassung des 6. SGGÄndG vom 17. August 2001 (BGBl. I 2144) erforderliche Beschwerdewert i.H.v. 500 Euro erreicht. Denn infolge des angefochtenen Ausspruchs des SG ergibt sich seitens der Beklagten ein Beschwerdewert i.H.v. 527,35 EUR, der sich aus dem das gezahlte kalendertägliche Verletztengeld von 57,27 DM übersteigenden Betrag von 5,73 DM, multipliziert mit 180 Tagen und umgerechnet in Euro, errechnet.

In der Sache hat die Berufung jedoch keinen Erfolg. Denn der Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2003 beschwert die Klägerin deshalb im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil ihr für den streitigen Zeitraum ein Anspruch auf Nachberechnung des Verletztengeldes im Sinne des Ausspruchs des SG zusteht.

Dieser folgt aus § 47 Abs. 1a Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) in der seit dem 1. Januar 2001 durch das Einmalzahlungs-Neuregleungsgesetz in Kraft getretenen Fassung. Danach ist für Ansprüche auf Verletztengeld, die (wie hier) vor dem 1. Januar 2001 entstanden sind, § 47 Abs. 1 und 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der vor dem 22. Juni 2000 jeweils geltenden Fassung für Zeiten nach dem 31. Dezember 1996 mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass sich das Regelentgelt um 10 vH, höchstens aber bis zu einem Betrag in Höhe des 360. Teils des Höchstjahresarbeitsverdienstes erhöht (Satz 1). Das regelmäßige Nettoentgelt ist um denselben Prozentsatz zu erhöhen (Satz 2). Die Regelung der Sätze 1 und 2 gilt für Ansprüche, über die vor dem 22. Juni 2000 bereits unanfechtbar entschieden war, jedoch nur für Zeiten vom 22. Juni 2000 an bis zum Ende der Leistungsdauer (Satz 3). Entscheidungen über die Ansprüche, die vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar geworden sind, sind nicht nach § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen (Satz 4 der Norm).

Diese Vorschrift ist hier anwendbar, denn die Beigeladene hat durch ihren Bescheid von September 1998 im Auftrag der Beklagten vor dem 22. Juni 2000 über das der Klägerin im streitigen Zeitraum zustehende Verletztengeld entschieden, wozu sie nach § 189 SGB VII i.V.m. Nr. 3 Satz 1 und Nr. 6 Satz 1 der Verwaltungsvereinbarung über die generelle Beauftragung der Krankenkassen zur Berechnung und Auszahlung des Verletztengeldes ([GeneralauftragVgVV], abgedruckt etwa bei Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, Stand Mai 2009, Anhang 5.1) ermächtigt war. Jedenfalls hat sie das Verletztengeld per Überweisungsträger an die Klägerin ausgezahlt und damit in anderer Weise im Auftrag der Beklagten nach den §§ 88, 89 SGB X einen Verwaltungsakt erlassen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 25. März 2003, a.a.O., m.w.N.). Dabei hat sie die der Klägerin zustehenden Ansprüche auf Urlaubs- bzw. Weihnachtsgeld nicht mit einbezogen und das ihr zustehende Verletztengeld ohne erkennbare Fehler entsprechend der Maßgabe des § 47 Abs. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VII i.V.m. § 47 Abs. 1 und 2 SGB V in der seinerzeit gültigen Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477) berechnet.

Dieser Bescheid ist auch bindend i.S.v. § 77 SGG geworden, weil ein Rechtsbehelf gegen ihn nicht fristgerecht erhoben wurde. Da der Verwaltungsakt nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, galt für die Widerspruchserhebung nach § 66 Abs. 2 SGG eine Frist von einem Jahr seit seiner Bekanntgabe. Zum Zeitpunkt der Erhebung des Widerspruchs durch die Klägerin am 12. Juni 2003 war die Jahresfrist verstrichen.

Das SG hat ihr jedoch zutreffend Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist gewährt. Nach § 67 Abs. 1 SGG, der nach § 84 Abs. 2 Satz 3 SGG auch im Widerspruchsverfahren gilt, ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Die Wiedereinsetzung ist gemäß § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb dieser Frist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 67 Abs. 2 Satz 3 SGG). Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist ist der Antrag unzulässig, außer wenn er vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war (§ 67 Abs. 3 SGG).

Die Klägerin war zunächst ohne Verschulden verhindert, die Widerspruchsfrist einzuhalten. Sie konnte aufgrund der Gemeinsamen Erklärung vom 28. Juli 1998 davon ausgehen, dass eine Widerspruchserhebung gegen die Verletztengeldbewilligung wegen der Nichtberücksichtigung der Einmalzahlungen nicht erforderlich war, wenngleich der Begriff Verletztengeld in dieser Erklärung keine ausdrückliche Erwähnung findet. Ferner konnte sie darauf vertrauen, dass eine Nachberechnung mit Überschussauskehrung – falls das BVerfG die gesetzliche Regelung für verfassungswidrig hielte – von Amts wegen erfolgt. Der Senat teilt nämlich die Ansicht des SG, dass auch die Unfallversicherungsträger die genannte Erklärung gegen sich gelten lassen müssen (ebenso Sächsisches LSG, Urteil vom 9. März 2006 – L 2 U 167/05 – juris).

Entsprechende Verlautbarungen der Spitzenorganisation werden regelmäßig als solche der einzelnen Versicherungsträger wahrgenommen, was so zumindest in Kauf genommen wird. Die konkret zuständigen Versicherungsträger und ihre im Rahmen der jeweiligen Aufgabenzuweisung tätigen Spitzenorganisationen bilden für den Außenstehenden gleichsam eine Funktionseinheit. Hier handelte es sich um eine "Gemeinsame Erklärung des DGB, der DAG, der BDA und der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung". Die gesetzliche Unfallversicherung zählt zur Sozialversicherung. Die Formulierung "Zur Vermeidung von Verwaltungsaufwand bitten der DGB, die DAG, die BDA und die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung, von weiteren Widersprüchen und Erstattungsanträgen abzusehen." ist als entsprechende Aufforderung der Sozialversicherungsträger zu verstehen. Indem im letzten Absatz der Erklärung ausdrücklich nur "Rechtsstreitigkeiten gegen die Arbeitsämter wegen der Nichtberücksichtigung von Einmalzahlungen bei der Berechnung von Arbeitslosengeld und anderen Entgeltersatzleistungen" von dieser Aufforderung ausgenommen worden sind, und zuvor noch die Rede von Krankengeld, Übergangsgeld oder Arbeitslosengeld war, konnte dies vom Empfängerhorizont so gedeutet werden, dass sie für die übrigen Sozialversicherungsträger Anwendung finden soll.

Die Argumente der Beklagten, die Erklärung habe schon deshalb keinen Bezug zur Unfallversicherung, weil die Versicherten insoweit nicht beitragspflichtig sind bzw. die gesetzliche Unfallversicherung sei im Hinblick auf Einmalzahlungen nicht Verfahrensgegenstand vor dem BVerfG gewesen, verfangen dagegen nicht. Denn die verfassungsrechtlichen Bedenken, die Anlass der Erklärung waren, bezogen sich nicht auf die Einbeziehung der Einmalzahlungen in die Beitragspflicht als solche, sondern darauf, dass einerseits Beiträge erhoben wurden, andererseits das betreffende Arbeitsentgelt aber bei der Bemessung der Lohnersatzleistungen unberücksichtigt blieb. Beitrags- und Leistungsseite waren also miteinander verwoben, so dass sich die von den Spitzenorganisationen angekündigte Bereinigung für die betroffenen Versicherten zwangsläufig auf beide Aspekte beziehen musste. Dies spiegelt sich auch im Beschluss des BVerfG vom 24. Mai 2000 (a.a.O.) wieder, in dem entscheidungserheblich auf die grundsätzliche Bemessung der Lohnersatzleistungen nach dem bisherigen beitragspflichtigen Arbeitsentgelt abgestellt wurde. Insoweit nimmt für das Verletztengeld § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 1a Satz 1 SGB VII ausdrücklich auf § 47 Abs. 1 und 2 SGB V Bezug und hat die enge rechtliche Verknüpfung zwischen ihm und der Krankengeldgewährung überdies in der GeneralauftragVgVV Gestalt gefunden. Nach Nr. 3 Satz 1 und 2 GeneralauftragVgVV entscheidet die Krankenkasse über die Berechnung und Zahlung des Verletztengeldes und verfährt dabei entsprechend den für das Krankengeld geltenden Grundsätzen. Die von ihr vorgenommene Berechnung einschließlich der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen und die Grundlagen für die Zahlung werden vom Unfallversicherungsträger im Verhältnis zur Krankenkasse als bindend anerkannt (Nr. 4 Satz 1 GeneralauftragVgVV). Gerade diese gesetzliche Konstruktion und die auf die Krankenkassen im Wege der Delegation übertragene Abwicklung der Verletztengeldgewährung begründet die rechtliche Zurechnung des von der Erklärung vom 28. Juli 1998 auch im Hinblick auf die Unfallversicherungsträger gesetzten Rechtsscheins.

Ein Schuldvorwurf gegenüber der Klägerin lässt sich entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht aus ihrem allgemeinen Schreiben vom 21. August 1998 herleiten. Hierin wurde die Klägerin – wie alle übrigen Versicherten auch – zwar vorab auf bestimmte Besonderheiten unfallversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche hingewiesen. Die erste unmittelbare Berührung mit der Leistung des Verletztengeldes fand aber in dem Überweisungsträger der Beigeladenen ihren Ausdruck, der lediglich auf "Zahlung vom ... bis ... " lautete. Dass hierin zusätzlich der nach Nr. 6 Satz 4 GeneralauftragVgVV geforderte Hinweis angebracht war, die Zahlung erfolge im Auftrag der Beklagten, kann nach der Auskunft der Beigeladenen vom 19. August 2003 ausgeschlossen werden. Ebenso ist nicht ersichtlich, dass deren Bescheid von September 1998 überhaupt im Namen der Beklagten erlassen wurde (so die Forderung in Nr. 6 Satz 1 GeneralauftragVgVV). Diese Unklarheiten zwischen den einzelnen Mitteilungen an die Klägerin gehen zu Lasten der Beklagten. Denn dieser war es jederzeit unschwer möglich, durch eine kurze Mitteilung an die Klägerin oder eine öffentliche Verlautbarung für Klarheit zu sorgen, zumal sich ihr Spitzenverband in verschiedenen Rundschreiben an die Unfallversicherungsträger von der Gemeinsamen Erklärung vom 28. Juli 1998 distanziert hatte. Nichts anderes gilt auch angesichts der von der Klägerin am 12. Juni 2003 beantragten Nachberechnung "des Krankengeldes für die Zahlung des Verletztengeldes”. Gerade diese Formulierung der Klägerin deutet auf das Verständnis einer Gleichartigkeit der Leistungen hin. Überdies wandte sie sich mit ihrem Antrag direkt an die Beigeladene, was ebenso dafür spricht, dass die Klägerin die ihr gewährte Leistung letztlich doch als eine solche der Beigeladenen wahrnahm, im Hinblick auf Kranken- und Verletztengeld jedenfalls über keine näheren Kenntnisse oder gar bestimmtes Sonderwissen verfügte. Auch hierin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von demjenigen Fall, der dem Urteil des LSG Mecklenburg Vorpommern vom 23. Februar 2006 zugrunde lag, zumal sich der insoweit betroffene Kläger auch gar nicht auf die Gemeinsame Erklärung vom 28. Juli 1998 berufen hatte.

Davon, dass die Klägerin gerade durch die Gemeinsame Erklärung sowie weitere Verlautbarungen der Beigeladenen in ihrem Mitgliederjournal von der Anfechtung des Verletztengeldbescheides abgehalten worden ist, ist entsprechend ihrem nicht bestrittenen Vortrag auszugehen. Fehlende Kausalität könnte ihr nur entgegengehalten werden, wenn sich nachweisen ließe, dass der Verzicht auf die Anfechtung in ihrem konkreten Fall nicht durch die Presseerklärung veranlasst war (vgl. (BSG, Urteil vom 25. März 2003, a.a.O.). Für einen solchen – durch die Beklagte zu beweisenden – Umstand gibt es keine Anhaltspunkte.

Daneben liegen auch die Voraussetzungen des § 67 Abs. 2 SGG vor. Die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG endete mit Ablauf des Monats September 1999. Die Klägerin hat die versäumte Rechtshandlung in Übereinstimmung mit § 67 Abs. 2 Satz 3 SGG unverzüglich nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt. Die durch die Gemeinsame Erklärung vom 28. Juli 1998 begründete Erwartung, ein Widerspruch sei nicht nötig, die Sozialversicherungsträger würden ihr Verhalten an der Beurteilung des BVerfG ausrichten und gegebenenfalls von Amts wegen zu Unrecht gezahlte Beiträge erstatten bzw. zu niedrig berechnete Leistungen nachzahlen, hätte grundsätzlich bis zur Bekanntgabe des angefochtenen Bescheides der Beklagten vom 27. Juni 2003 bestanden (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 2003, a.a.O.). Dadurch, dass sie nach Veröffentlichung und Kenntnisnahme von diesem Urteil zugleich mit dem Nachberechnungsantrag vom 12. Juni 2003 Widerspruch erhoben und Wiedereinsetzung begehrt hat, kann der Klägerin kein Nachteil erwachsen. Da der Bescheid der Beigeladenen bei Veröffentlichung der Gemeinsamen Erklärung vom 28. Juli 1998 noch nicht erteilt war, ist eine Wiedereinsetzung insbesondere auch nicht wegen bereits zuvor eingetretener Bestandskraft ausgeschlossen.

Die Wiedereinsetzung scheitert auch nicht an der Ausschlussregelung des § 67 Abs. 3 SGG. Denn zwar war am 12. Juni 2003 seit dem Ende der Rechtsbehelfsfrist im September 1999 mehr als ein Jahr vergangen. Diese Regelung ist jedoch deshalb nicht anwendbar, weil ein Wiedereinsetzungsantrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Als höhere Gewalt im Sinne der Norm ist nicht nur ein von außen kommendes nicht beeinflussbares Ereignis, sondern jedes Geschehen zu verstehen, dass auch durch die größtmögliche, von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Unabwendbarkeit in dieser Hinsicht liegt etwa vor, wenn sie durch eine falsche oder irreführende Auskunft oder Belehrung oder sonst durch ein rechts- oder treuwidriges Verhalten der Behörde verursacht wird. Entsprechendes muss auch angesichts der Gemeinsamen Erklärung vom 28. Juli 1998 gelten, wobei es anders als beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch bei der Frage der höheren Gewalt nicht um die objektive Zurechenbarkeit derartiger Äußerungen, sondern allein um die subjektive Sicht des Versicherten geht. Wird der in der Erklärung enthaltenen Ankündigung durch die spätere gesetzgeberische Entscheidung die Grundlage entzogen, erweist sich das Verwaltungshandeln rückschauend betrachtet als rechtswidrig. Wurden also die Versicherten zur Vermeidung des Verwaltungsaufwandes ausdrücklich von weiteren Widersprüchen und Erstattungsanträgen abgehalten, konnte von ihnen nicht gleichzeitig erwartet werden, trotzdem die nach der Erklärung unnötigen und unerwünschten Rechtsbehelfe zu ergreifen (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 25. März 2003, a.a.O.).

Einer Wiedereinsetzung steht schließlich nicht entgegen, dass der Verletztengeldanspruch vorliegend nicht über den 22. Juni 2000 hinaus angedauert, sondern bereits am 2. Februar 1999 geendet hatte. Zwar könnte aus § 47 Abs. 1a Sätze 3 und 4 SGB VII abgeleitet werden, der Gesetzgeber habe mit dem angeordneten Ausschluss von § 44 Abs. 1 SGB X zu erkennen gegeben, dass es für die Vergangenheit mit der Nichtberücksichtigung der Einmalzahlungen sein Bewenden haben solle. Diesem Verständnis folgt der Senat im Anschluss an die Entscheidung des BSG vom 25. März 2003 (a.a.O.), die zur wortgleichen Regelung des § 47a SGB V ergangen ist, jedoch nicht. Der Gesetzgeber mag von Verfassung wegen zwar nicht gehindert sein, den in § 44 Abs. 1 SGB X normierten Anspruch einzuschränken oder ganz zu streichen. Dies gilt aber nicht gleichermaßen beim Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Denn der Anspruch des Bürgers auf effektiven Rechtsschutz hat nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz Verfassungsrang. Insbesondere darf dem Rechtssuchenden die Nichteinhaltung von Verfahrensfristen nicht entgegengehalten werden, wenn er die Fristversäumnis auch bei Anwendung der ihm zumutbaren Sorgfalt nicht vermeiden konnte. Das gilt erst recht in Fällen höherer Gewalt oder bei anderen unabwendbaren Ereignissen. Demnach haben Versicherte, deren Leistungsanspruch nicht über den 22. Juni 2000 hinaus reichte, zwar keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. Haben sie einen Leistungsbescheid im Vertrauen auf die Gemeinsame Erklärung vom 28. Juli 1998 aber zunächst nicht angefochten, die erforderliche Rechtshandlung dann nachgeholt und ist ihnen – wie hier der Klägerin – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, kann ihnen § 47 Abs. 1a Satz 3 SGB VII nicht entgegen gehalten werden.

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Insbesondere hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG (mehr). Denn es handelt sich um eine Einzelfallproblematik auslaufenden Rechts, bei der angesichts der Mitteilung der Beklagten vom 30. März 2007 – und der seither verstrichenen Zeit – keine nennenswerte Zahl vergleichbarer Streitigkeiten ersichtlich ist, die einer Entscheidung bedürften (vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 29. April 2005 – B 11a/11 AL 283/04 B – juris).
Rechtskraft
Aus
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