L 13 SB 248/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 SB 559/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 248/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. September 2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger die medizinischen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" – Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht – erfüllt.

Bei dem 1938 geborenen Kläger hatte der Beklagte im Mai 2001 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Auf den Antrag des Klägers von 22. Februar 2005 setzte der Beklagte mit Bescheid vom 24. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2006 den GdB auf 60 herauf, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" ab.

Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung eines höheren GdB und der medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" begehrt. Im Klageverfahren sind Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt worden.

Nachdem der Beklagte mit Bescheid vom 2. Februar 2007 bei dem Kläger mit Wirkung ab Februar 2006 einen GdB von 80 festgesetzt hatte, dem er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrund gelegt hatte:

a) Erkrankung der Prostata (60), b) seelisches Leiden (30), c) Sehbehinderung (30), d) degenerative Wirbelsäulenveränderungen, Neigung zu Muskelreizerscheinungen, Knieschmerzen (30), e) Schulter-Arm-Syndrom, beidseitig, rechts stärker als links (20), f) Herzrhythmusstörung, Neigung zu Herzschmerzen, chronische Bronchitis (30) g) chronisch-entzündliche Veränderungen der Nasennebenhöhle und der Ohrspeicheldrüse (10), h) Hörbehinderung (20),

hat der Kläger insoweit den Rechtsstreit nicht weiter verfolgt.

Mit Gerichtsbescheid vom 26. September 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Aus den ärztlichen Befundberichten ergebe sich, dass die Teilnahme des Klägers an öffentlichen Veranstaltungen nicht dauerhaft ausgeschlossen sei. Der HNO-Arzt Dr. S habe ausgeführt, dass die Hörbehinderung des Klägers durch Hörgeräteversorgung teilweise ausgleichbar sei. Aufgrund der Sehbehinderung bestehe nach dem Bericht des Augenarztes Dr. P keine Einschränkung des Klägers. Die von dem Kläger angeführte Blasenschwäche könne nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" begründen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seien Behinderte, die an Harninkontinenz litten, hierdurch nicht gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Die seelische Behinderung führe ebenfalls nicht zu einer Anerkennung des Merkzeichens "RF". Denn geistig-seelische Hindernisse allein bedingten dieses Merkzeichen nicht. Vielmehr müsse zu befürchten sein, dass der geistig oder seelisch behinderte Mensch die Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten störe. Dies sei bei dem Kläger nicht der Fall. Der Umstand, dass der Kläger sich nicht traue, allein seine Wohnung zu verlassen, rechtfertige die begehrte Feststellung nicht. Denn Schwerbehinderte seien vom öffentlichen Leben nicht ausgeschlossen, wenn sie mit Hilfe einer Begleitperson Veranstaltungen aufsuchen könnten.

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Arzt Dr. Sch gehört, der im Gutachten vom 19. September 2008 hinsichtlich der Sehfähigkeit des Klägers ausgeführt hat: Auf der Grundlage der Untersuchung des Klägers durch den Augenarzt Dr. C vom 15. November 1996, der eine funktionelle Einäugigkeit mit einem Visus von 1/50 für das rechte und von 0,8 für das linke Auge beschrieben habe, sei hinsichtlich der Sehschärfe ein Einzel-GdB von 30 festzusetzen. Allerdings ergebe sich aus dem perimetrischen Befund nach Goldmann III/4 vom selben Tag eine nicht allseitige, aber deutliche Einengung des Gesichtsfeldes für das noch funktionsfähige linke Auge, weshalb die das Sehorgan betreffenden Funktionsstörungen mit einem GdB von 50 zu bewerten seien.

Die den Kläger behandelnde Augenarztpraxis Dres. P, P und S hat dem Gutachter neben dem Befundbericht vom 21. August 2008, aus dem sich ein Visus links von 1,0 ergibt, einen Gesichtsfeldbefund vom 2. September 2008 übersandt, der den handschriftlichen Zusatz enthält: "diese Untersuchung ist nicht zu verwerten, Pat. hat nichts gesehen. Das kann nur falsch sein.". Nach Ansicht des Sachverständigen widerspreche dieser Befund der Visusbestimmung und dem Verhalten des Klägers während der Begutachtung, da er, wenn er korrekt wäre, einer fast vollständigen Erblindung des linken Auge entspräche.

Nach Auswertung der von dem Kläger eingereichten Gesichtsfeldbefunde vom 12. Dezember 2008, die offenbar von der Augenärztin Dr. M erhoben worden sind, und des Berichts der Augenklinik der C vom 8. Dezember 2009, wonach am 7. Januar 2009 der Visus rechts 0,1 und links 0,8 betragen habe, hat Dr. Sch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 18. Juni 2009 ausgeführt, für das linke Auge lasse sich ein fast vollständiger Ausfall erkennen. Da diese Untersuchungsergebnisse den augenärztlichen Befund vom 2. September 2008 bestätigen, sei dieser – entgegen seiner ursprünglichen Einschätzung – doch zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Funktionsbeeinträchtigungen des Sehorgans sei deshalb ein GdB von 70 anzusetzen.

Von dem Kläger ist schließlich der Befundbericht der Augenärztin Dr. M vom 16. März 2010 vorgelegt worden, in dem der Visus am 12. Dezember 2008 rechts mit Wahrnehmung von Lichtschein und Fingerzählen und links mit 0,05 sowie am 16. März 2010 rechts mit Wahrnehmung von Lichtschein und links mit 0,1 angegeben worden ist.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. September 2007 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 24. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Februar 2006 in der Fassung des Bescheides vom 2. Februar 2007 zu verpflichten, bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" – Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht – festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung unter Berufung auf diverse versorgungsärztliche Stellungnahmen für zutreffend. Die Augenärztin Dr. L hat unter dem 14. Oktober 2009 ausgeführt, dass der Gutachter Dr. Sch in seiner ergänzenden Stellungnahme das rechte mit dem linken Auge verwechselt habe. Tatsächlich sei festzustellen, dass die Gesichtsfeldbefunde vom 12. Dezember 2008 nicht mit den Befunden vom 2. September 2008 in Übereinstimmung zu bringen seien. Weiter weist sie in ihrer Stellungnahme vom 23. April 2010 darauf hin, dass die Schwankungen des Visus in den vorgelegten Befunden vom 12. Dezember 2008, 7. Januar 2009 und 16. März 2010 nicht physiologisch seien.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Er hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihm die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erforderlichen Nachteilsausgleichs "RF" vorliegen (vgl. § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch - SGB IX -).

Abzustellen ist auf die Vorschriften des am 1. April 2005 in Kraft getretenen Achten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 27. Januar 2005 (GVBl. S. 82), welches die bis dahin geltende Berliner Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 2. Januar 1992 (GVBl. S. 3) aufhob. Spätere Änderungen, zuletzt im Zwölften Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 2. April 2009 (GVBl. S. 138), haben die hier maßgeblichen Voraussetzungen unberührt gelassen.

Nach Art. 5 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags werden auf Antrag folgende natürliche Personen und deren Ehegatten im ausschließlich privaten Bereich von der Rundfunkgebührenpflicht befreit:

behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Nach Nr. 33 Abs. 2 lit. c (S. 141) der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen und im Zeitpunkt der Antragstellung durch den Kläger (noch) geltenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" in der Fassung des Jahres 2005 (AHP 2005) gehören hierzu:

- behinderte Menschen, bei denen schwere Bewegungsstörungen – auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) – bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können, - behinderte Menschen, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken (z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können), - behinderte Menschen mit – nicht nur vorübergehend – ansteckungsfähiger Lungentuberkulose, - behinderte Menschen nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden, - geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern, also nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen kann nur dann bejaht werden, wenn der Schwerbehinderte in einem derartigen Maße eingeschränkt ist, dass er praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und an das Haus gebunden ist. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der auch aus anderen Gründen problematische Nachteilsausgleich "RF" (vgl. insbesondere BSG, Urteile vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, in: Breith 1994, S. 230, und vom 16. März 1994, 9 RVs 3/93, bei Juris, das die Auffassung vertritt, es erscheine wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller Haushalte in Deutschland mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmend zweifelhaft, dass durch den Nachteilsausgleich "RF" tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen werde) nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.

Zwar wurde dem Kläger ein GdB von 80 zuerkannt. Bei ihm bestehen jedoch keine Leiden im Sinne des Art. 5 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags, die ihn ständig daran hinderten, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dies hat das Sozialgericht Berlin ausführlich dargelegt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheides und sieht nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Von der Rundfunkgebührenpflicht befreit sind nach Art. 5 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7a des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags auch:

blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung.

Ein GdB von 60 für die Funktionsbehinderungen des Sehorgans lässt sich für den Kläger nicht feststellen. Ausweislich des Untersuchungsbefundes des Augenarztes Dr. C vom 15. November 1996 bestand ein Visus rechts von 1/50 für das rechte und links von 0,8. Für die Sehschärfe ist nach der maßgeblichen Tabelle der DOG in Nr. 26.4 (S. 52) der AHP 2008 ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen, der nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch im Gutachten vom 19. September 2008 auf der Grundlage des perimetrischen Befundes nach Goldmann III/4 vom 15. November 1996 im Hinblick auf die nicht allseitige, aber deutliche Einengung des Gesichtsfeldes für das noch funktionsfähige linke Auge auf 50 heraufzusetzen ist.

Die späteren augenärztlichen Befunde rechtfertigen es nicht, dass der das Sehorgan betreffende GdB auf 60 festzusetzen wäre.

Hinsichtlich der Sehschärfebestimmungen ergaben sich bei den Untersuchungen vom

- 21. August 2008: ein Visus rechts mit Wahrnehmung von Handbewegung, links von 1,0; - 12. Dezember 2008: ein Visus rechts mit Wahrnehmung von Lichtschein und Fähigkeit, Finger zu zählen, links von 0,05; - 7. Januar 2009: ein Visus rechts von 0,1 und links von 0,8; - 16. März 2010: ein Visus rechts mit Wahrnehmung von Lichtschein und links von 0,1.

Diese Abweichungen sind, worauf die Augenärztin Dr. L in ihren versorgungsärztlichen Stellungnahmen hingewiesen hat, physiologisch nicht zu erklären, weshalb auf der Grundlage dieser Befunde eine gerichtliche Überzeugung nicht gebildet werden kann.

Die in der Augenarztpraxis Dres. P, P und S vorgenommene Gesichtsfelduntersuchung vom 2. September 2008 ist nicht zu verwerten. Deren Ergebnis würde bedeuten, dass der Kläger auf dem linken Auge überhaupt nichts sähe, was tatsächlich nicht der Fall ist. Entgegen der Auffassung des Gutachters Dr. Sch in dessen ergänzender Stellungnahme vom 18. Juni 2009 wird der genannte Befund auch nicht durch die Gesichtsfeldbestimmung vom 12. Dezember 2008 gestützt. Die Annahme, dass sich für das linke Auge ein fast vollständiger Ausfall erkennen lasse, trifft nicht zu. Ein derartiger Ausfall ist nur für das rechte Auge ("OD" = oculus dexter) dokumentiert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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