L 1 AS 2826/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 15 AS 850/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 2826/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 17.05.2010 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Vergangenheit im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 09.02.2010 (Aktenzeichen 1 BVL 1/09, 1 BVL 3/09 und 1 BVL 4/09) im Streit.

Die 1952 geborene Klägerin bezieht gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und im vorliegenden Verfahren Bevollmächtigten N. (vgl. das Parallelverfahren beim Landessozialgericht Baden-Württemberg mit dem Aktenzeichen L 12 AS 2739/10) seit dem 01.01.2005 von dem Beklagten als Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II. Die Leistungen wurden unter anderem in Höhe von 90 % der Regelleistung nach § 20 SGB II für in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Erwachsene gegenüber der Klägerin und N. bewilligt. Bereits in einem früheren Verfahren hatten N. und die Klägerin erfolglos eine ihrer Ansicht nach zu geringe Regelleistung nach § 20 SGB II geltend gemacht (Aktenzeichen des Sozialgerichts [SG] Reutlingen S 12 AS 695/06, Urteil vom 04.06.2007; Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg [LSG] mit dem Aktenzeichen L 1 AS 3722/07 vom 16.03.2009).

Nach der mündlichen Verhandlung des BVerfG vom 20.10.2009 über die Normenkontrollverfahren betreffend die Höhe der Regelleistungen nach dem SGB II (Aktenzeichen 1 BVL 1/09 1 BVL 3/09 und 1 BVL 4/09) beantragte die Klägerin am 28.12.2009 bei dem Beklagten die Überprüfung sämtlicher Bewilligungsbescheide seit dem 01.01.2005. Sie begründete dies damit, dass das BVerfG demnächst die ihrer Ansicht nach rechtswidrig zu niedrige Festsetzung der Regelleistung beanstanden werde. Der Überprüfungsantrag beziehe sich auch auf zu niedrige Leistungen für Stromkosten, Warmwasserkosten und Mehrbedarf.

Der Beklagte hat mit Bescheid vom 12.01.2010 die rückwirkende Erhöhung der Regelleistung mit der Begründung abgelehnt, dass die vorausgegangenen Bewilligungsentscheidungen nicht zu beanstanden seien.

Der Widerspruch der Klägerin vom 05.02.2010 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2010 als unbegründet zurückgewiesen.

Die Klägerin hat am 15.03.2010 Klage zum SG erhoben. Zwischenzeitlich habe das BVerfG mit seinem Urteil vom 09.02.2010 (zu den o.g. Aktenzeichen 1 BVL 1/09, 1 BVL 3/09 und 1 BVL 4/09) sowohl die Regelsatzhöhe für Erwachsene als auch die pauschalierten Abzüge von 10 % aufgrund des Vorliegens einer Bedarfsgemeinschaft zwischen Erwachsenen für verfassungswidrig erklärt. Zwar sei der Gesetzgeber nicht zu einer rückwirkenden Korrektur der Leistungen verpflichtet worden; damit seien jedoch nicht bereits anhängig gemachte Verfahren und Klagen gemeint gewesen. Die Klägerin hat weiter ausgeführt, dass sie nicht erst mit dem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, sondern bereits mit der Klage im Januar 2006 zum Ausdruck gebracht habe, dass sie die Regelsatzhöhe allgemein sowie die auf 90 % des Regelsatzes pauschalierten Leistungen für erwachsene Mitglieder von Bedarfsgemeinschaften für verfassungswidrig halte.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.05.2010 als unbegründet abgewiesen. Der Beklagte habe eine Korrektur seiner in der Vergangenheit liegenden Leistungen nach dem SGB II nach § 44 SGB X zu Recht abgelehnt. Das Vorliegen der Rücknahmevoraussetzungen des § 44 SGB X bestimme sich nach den allgemeinen Verfahrens- und Beweislastregeln, wonach die Feststellungslast nach § 44 SGB X bei dem Antragsteller liege (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 10.12.1985 - 10 RKG 14/85 -). Hinsichtlich des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft zwischen der Klägerin und N. und der daraus folgenden Kürzung der Regelleistung um 10 % gemäß § 20 Abs. 3 SGB II sei eine wesentliche Änderung des Sachverhalts nicht ersichtlich. Für die Klägerin und N. gelte weiterhin die gesetzliche Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3 a Nr. 1 SGB II mit der Folge, dass von einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft im Sinne einer Bedarfsgemeinschaft auszugehen sei (unter Berufung auf das Urteil des SG vom 04.06.2007 - S 12 AS 695/06 -). Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 09.02.2010. Das BVerfG habe bei der Beanstandung der Höhe der Regelleistung ausdrücklich nur das gewählte Verfahren zur Bestimmung der Höhe der Regelleistung gerügt, nicht jedoch die Höhe der Regelleistung an sich. Das BVerfG habe eine Regelung durch den Gesetzgeber spätestens bis zum 31.12.2010 verlangt und hierbei auch bestimmt, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet sei, den mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtszustand rückwirkend zu beseitigen. Hierbei habe das BVerfG auch bereits anhängige bzw. früher anhängig gemachte Verfahren nicht davon ausgenommen, dass eine Neuregelung erst ab dem 01.01.2011 zu erfolgen hat. Diese Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 ergebe sich auch aus dem Beschluss des BVerfG vom 24.03.2010 (Aktenzeichen 1 BVL 395/09); in diesem Beschluss sei auch klargestellt worden, dass die Härtefallregelung in der Entscheidung des BVerfG vom 09.02.2010 erst ab der Verkündung dieses Urteils und ebenfalls nicht für Zeiträume in der Vergangenheit gelte.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat N. als Bevollmächtigter der Klägerin am 07.06.2010 beim SG Berufung eingelegt. In der Sache wiederholt N. für die Klägerin den bisherigen Vortrag, wonach aufgrund der Feststellung des BVerfG auch eine rückwirkende Korrektur der nach dem SGB II bewilligten Leistungen zu erfolgen habe. Dies wird damit begründet, dass das BVerfG seine Feststellungen auf Verfassungsrecht gestützt habe, welches auch zum Zeitpunkt vor der Entscheidung des BVerfG Geltung beanspruche. Jedenfalls in den Fällen, in denen bereits vor der Entscheidung des BVerfG Widerspruchs- und Klageverfahren durchgeführt worden seien, müsse eine Korrektur der zu geringen Regelleistung auch für die Vergangenheit möglich sein. Außerdem habe der Beklagte bisher nicht begründet, weswegen die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) nicht in vollem Umfang von 192,35 EUR, sondern lediglich in Höhe von 176,01 EUR ausgezahlt worden seien.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des SG Reutlingen vom 17.05.2010 und den Bescheid des Beklagten vom 12.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sämtliche seit 2005 erlassenen Bewilligungsbescheide nach dem SGB II abzuändern und der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II mindestens in der jeweils vollen Höhe des Regelsatzes zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für rechtmäßig. Außerdem sei die Berufung wegen des bereits seit 09.06.2010 anhängigen Berufungsverfahrens des Bevollmächtigten N. der Klägerin unzulässig, da dieser mit der Klägerin in einer Bedarfsgemeinschaft lebe. Eine Überprüfung der Höhe der Kosten der Unterkunft im vorliegenden Verfahren komme nicht in Betracht, da sowohl im Antrags- und Widerspruchsverfahren als auch im Klageverfahren ausdrücklich nur die Höhe der Regelleistung gerügt worden sei.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorschlags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Ein Anspruch der Klägerin auf die Bewilligung höherer Leistungen nach § 20 SGB II besteht derzeit nicht.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

Damit sind in zeitlicher Hinsicht Streitgegenstand aufgrund des Antrags der Klägerin nach § 44 SGB X alle Bescheide über die Bewilligung der Regelleistung nach § 20 SGB II ab dem 01.01.2005. Gegen diese Bescheide wehrt sich die Klägerin mit einer zulässigen kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG).

In sachlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand dadurch eingeschränkt, dass lediglich die Höhe der Regelleistung nach § 20 SGB II und nicht die Höhe der KdU einer Prüfung zu unterziehen war. Die Klägerin hat insoweit zumindest im Klage- und Berufungsverfahren über ihren Bevollmächtigten ihren Antrag entsprechend eingeschränkt, und es liegt insoweit ein abgrenzbarer Streitgegenstand gegenüber den im Wesentlichen in voller Höhe gewährten KdU der Klägerin vor. Nur hierüber hat im Übrigen auch das SG entsprechend den Anträgen der Klägerin entschieden. Diese Beschränkung des Streitgegenstandes ist zulässig, weil es sich bei der Entscheidung über Unterkunfts- und Heizungskosten um eine abtrennbare Verfügung (Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X) des Gesamtbescheides handelt und damit das Gericht bei entsprechendem Antrag nicht auch hierüber, sondern lediglich über die Regelleistung des Alg-II-Anspruchs befinden muss (vgl. BSGE 97, 217 = BSG SozR 4-4200 § 22 Nr. 1). Auf die vom Klägerbevollmächtigten erstmalig im Berufungsverfahren aufgeworfene Frage, ob die KdU zu Unrecht von dem Beklagten monatlich um 16,34 EUR gekürzt worden sind, kommt es daher vorliegend nicht an, weil die Höhe der KdU nicht Gegenstand des Verfahrens geworden ist.

In persönlicher Hinsicht ist der Streitgegenstand dadurch eingeschränkt, dass es ausschließlich um die der Klägerin nach § 20 SGB II zustehenden Ansprüche und nicht um diejenigen ihres Bevollmächtigten N. geht, mit dem sie eine Bedarfsgemeinschaft bildet. Denn jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist Inhaber eigener Ansprüche nach dem SGB II. Nach einer Übergangszeit bis zum 30.06.2007 ist ohne besondere Anhaltspunkte grundsätzlich nicht mehr davon auszugehen ist, dass ein Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft für alle anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Anträge stellt oder Rechtsbehelfe einlegt (vgl. BSG, Urteile vom 07.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - und - B 7b AS 8/06 R -). Die Beklagte hat dementsprechend sowohl gegenüber der Klägerin als auch gegenüber N. in zwei getrennten Bescheiden und Widerspruchsbescheiden entschieden. Da es vorliegend allein um Ansprüche der Klägerin nach dem SGB II geht, wird die Zulässigkeit des vorliegenden Verfahrens der Klägerin nicht davon berührt, dass ihr Bevollmächtigter und Partner in einer Bedarfsgemeinschaft N. unter dem Aktenzeichen L 12 AS 2739/10 ein früher anhängig gewordenes Berufungsverfahren beim Landessozialgericht betreibt.

Der Klägerin ist, wie der Beklagte in dem ebenfalls angefochtenen Bescheid vom 12.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2010 zu Recht festgestellt hat, die Regelleistung nach § 20 SGB II in der jeweils gesetzlich festgeschriebenen Höhe bewilligt worden. Eine Korrektur dieser Entscheidungen für die Vergangenheit ist auch nicht aufgrund des bereits im Jahre 2006 durchgeführten Verfahrens der Klägerin betreffend die Höhe ihrer Regelleistung veranlasst. Wie das SG zutreffend ausführt, ist nach den Entscheidungen des BVerfG vom 09.02.2010 und vom 24.03.2010 eine Korrektur der Höhe der Regelleistung nach § 20 SGB II für die Vergangenheit weder zulässig noch veranlasst. Zur Vermeidung weiterer Wiederholungen wird insoweit auf die Ausführungen in dem angefochtenen Gerichtsbescheid des SG nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen, denen der Senat sich ausdrücklich anschließt.

Das BVerfG hat in den angegebenen Entscheidungen klargestellt, dass von Verfassungs wegen eine Neuregelung nicht vor dem 01.01.2011 zu erfolgen hat. Von einer rückwirkenden Übergangsregelung hat das Bundesverfassungsgericht ebenso abgesehen wie von einer Verpflichtung des Gesetzgebers, auch für zurückliegende Leistungszeiträume eine Öffnungsklausel zu schaffen (vgl. BVerfG vom 24.03.2010, a.a.O.). Sofern nach Härtefallgesichtspunkten eine höhere Gewährung von Leistungen seit der Verkündung des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010 möglich ist, sind fehlt es hierfür bereits an einem entsprechenden Antrag. Unabhängig hiervon sind entsprechende Anhaltspunkte hierfür bei der Klägerin weder vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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