L 6 VJ 4797/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 VJ 6337/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VJ 4797/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 15.08.2007 sowie der Bescheid des Beklagten vom 03.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2001 abgeändert. Es wird festgestellt, dass die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des von der Klägerin am 01.07.1993 erlittenen ersten Schubes der Encephalomyelitis disseminata ein Impfschaden im Sinne der sog. Kannversorgung sind.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin erstrebt die Feststellung, dass die bei ihr vorliegende Encephalomyelitis disseminata (ED) - auch Multiple Sklerose (MS) - ein Impfschaden ist.

Die im Jahre 1970 geborene Klägerin absolvierte von 1986 bis 1989 eine Ausbildung zur Arzthelferin und übte diesen Beruf bis 1993 aus. In der Folgezeit war sie im Marienhospital St. als Sekretärin tätig. Seit dem Jahre 2006 bezieht sie Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Am 25.06. und 23.07.1992 sowie am 25.06.1993 führte der Allgemeinarzt K., der damalige Arbeitgeber der Klägerin, bei ihr Impfungen gegen Frühsommermeningoencephalitis (FSME) mit dem Impfstoff "FSME-Immun" durch.

Nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen überwies der Allgemeinarzt K. die Klägerin, nachdem sie über Herzrasen und einen hohen Puls geklagt hatte, zu der Internistin Dr. F., die ausweislich ihres Arztbriefs vom 06.05.1993 paroxysmale Tachycardien diagnostizierte. Anamnestisch hatte die Klägerin seinerzeit angegeben, seit ca. drei Monaten auffällige Tachycardien, besonders nach sportlichen Betätigungen, bis zu einem Puls von 110 pro Minute zu haben. Die Ursache hierfür sah Dr. F. am ehesten in einem Trainingsmangel, weshalb sie sportliches Training empfahl. Am 02.07.1993 stellte sich die Klägerin bei dem Neurologen und Psychiater Dr. B. vor, der in seinem Kurzbericht an Dr. K. unter dem Untersuchungsdatum folgende anamnestische Angaben dokumentierte: "ca. 2 Wo progredient a.) Taubheit Handflächen/Sohlen b.) paroxysmale (!) Kribbelparästhesien Arm li ) Bein li () Bein re) distale Hälften, z.T. mit Schwächegefühl. Vor 1 Wo. 3. FSME Impfung. Kein Zeckenkontakt bekannt." Diagnostisch äußerte er den Verdacht auf eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems und empfahl weitere spezifische Abklärung. Am 16.07.1993 führte der Radiologe Dr. K. eine Kernspintomographie des Schädels durch und beschrieb ausweislich seines Arztbriefs vom 19.07.1993 vereinzelte Demyelinisationsherde rechts. Die von Dr. K. am 27.08.1993 durchgeführte Kernspintomographie der HWS ergab einen Entmarkungsherd in Höhe von C2 (Arztbrief vom 30.08.1993). Am 27.08.1993 wurde die Klägerin stationär in der Neurologischen Klinik des Bürgerhospitals St. aufgenommen und bis 15.09.1993 behandelt. Anamnestisch hatte die Klägerin ausweislich des Entlassungsberichts vom 05.11.1993 angegeben, Mitte Juni 1993 elektrisierende Parästhesien am linken Arm und linken Bein über eine bis eine halbe Minute Dauer für insgesamt etwa 14 Tage empfunden zu haben. Gegen Ende Juni 1993 habe sich die Symptomatik in Kribbelparästhesien in beiden Beinen geändert, die auf die Einnahme von Diclofenac gebessert worden seien. Anfang Juli habe sich ein Pelzigkeitsgefühl in beiden Händen und Füßen entwickelt. Ende Juli sei eine starke Gangunsicherheit und Unsicherheit beider Hände rechtsbetont sowie eine vermehrte Pelzigkeit der rechten Hand hinzugetreten. Nach weiteren Untersuchungen gingen die behandelnden Ärzte angesichts des ausgesprochen typischen Befundes von einem schweren ersten Schub einer ED aus, worauf eine medikamentöse Therapie durchgeführt wurde. In der Folgezeit wurde die Klägerin im Mai/Juni 1994 stationär in den Kliniken Sch. unter der Diagnose einer ED behandelt.

Am 27.03.2000 beantragte die Klägerin beim damaligen Versorgungsamt St. die Anerkennung einer ED als Impfschaden nach einer FSME-Impfung. Sie legte zahlreiche Arztbriefe und Befundunterlagen vor, u.a. auch das Antwortschreiben des Dr. H., P.-E.-Institut, Bundesamt für Sera und Impfstoffe, vom 16.03.1999 auf die Verdachtsfallmeldung einer unerwünschten Arzneimittelwirkung des die Klägerin behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. D. sowie die "Synopsis für MS-Patienten", die sie auf Veranlassung ihres Neurologen Dr. D. im Jahre 1999 niedergeschrieben hatte.

Das Versorgungsamt holte das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. vom 30.10.2000 zum Zusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der angeschuldigten FSME-Impfung ein. Unter Berücksichtigung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) hielt Dr. P. einen Zusammenhang zwischen der Impfung und der diagnostizierten Erkrankung für gegeben, aus wissenschaftlicher Sicht erachtete er einen Zusammenhang jedoch eher für nicht wahrscheinlich.

Nach Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen, u.a. des Befundberichts von Dr. B. vom 05.03.2001, holte das Versorgungsamt die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. G. vom 23.03.2001 ein. Dieser führte aus, die Interpretation des Krankheitsverlaufs sei durch abweichende Daten des Erkrankungsbeginns erschwert. Soweit in den medizinischen Unterlagen der Zeitpunkt 1991 auftauche, beruhe dies mit Wahrscheinlichkeit auf einer Verwechslung. Als Beginnzeitpunkt sei das Jahr 1992 wenig wahrscheinlich, da typische Krankheitsanzeichen nach den beiden ersten Impfungen im Jahr 1992 nicht dokumentiert seien. Der Erkrankungsbeginn sei mit Wahrscheinlichkeit auf das Jahr 1993 festzulegen, wobei die dritte Impfung am 25.06.1993 nicht als Ursache aufgefasst werden könne, da nach den übereinstimmenden Ausführungen von Dr. B. und der Neurologischen Klinik im Bürgerhospital St. bereits Mitte Juni 1993, also zehn Tage vor der dritten Impfung erste spezifische Krankheitsanzeichen aufgetreten seien. Aufgrund der zeitlichen Abläufe und der fehlenden spezifischen Symptomatik könne ein Zusammenhang mit den beiden erstgenannten Impfungen nicht hergestellt werden.

Mit Bescheid vom 03.05.2001 lehnte das Versorgungsamt den Antrag der Klägerin gestützt auf die Ausführungen von Dr. G. mit der Begründung ab, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Impfungen vom 25.06. und 23.07.1992 sowie vom 25.06.1993 und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen liege nicht vor.

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin u. a. geltend, die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs werde durch die im "arznei-telegramm" dokumentierten zwölf Verdachtsfälle von anderen Patienten zum Thema "Impfung und MS" untermauert. Auch dort sei von einem Verdacht die Rede, obwohl die Folgen erst längere Zeit nach der Impfung aufgetreten seien. Ungeachtet dessen seien bei ihr erste Symptome der Erkrankung aber bereits im Juni 1992 aufgetreten, wie sich aus der von ihr bereits vorgelegten "Synopsis für MS-Patienten" ergebe. Zu Unrecht werde daher davon ausgegangen, dass nach den beiden ersten Impfungen keine Krankheitsanzeichen vorgelegen hätten. Diese seien lediglich durch ihren damaligen Chef, den Allgemeinarzt K., nicht dokumentiert worden. In der vorgelegten ausführlichen Schilderung des zeitlichen Ablaufs ihrer Erkrankung nach den FSME-Impfungen im Juni und Juli 1992 heißt es, zu Beginn der Symptomatik im Spätsommer/Herbst 1992 habe ein allgemeines nicht erklärbares Unwohlsein bestanden, bereits Ende August 1992 sei es zu Erschöpfungserscheinungen und Luftmangel, einer Hitzeempfindlichkeit, einem besonderen Engegefühl sowie zu starken Rückenschmerzen gekommen, die im Herbst 1992 und im Frühjahr/Sommer 1993 zu Besuchen bei dem Orthopäden Dr. C. geführt hätten. Wegen ihres Unwohlseins, das sie mit der Zeit eindeutig als Belastung empfunden habe, habe sie seinerzeit auch mehrfach mit dem Allgemeinarzt K. gesprochen, der jedoch keine Veranlassung gesehen habe, einen Neurologen hinzuzuziehen. Sie legte u. a. Arztbriefe von Dr. C. vom 25.02.1991 und 27.01.1992 sowie das von dessen Praxisnachfolger Ch. über die von 1991 bis 1993 gestellten Diagnosen ausgestellte Attest vom 29.06.2001 vor.

Das Versorgungsamt holte die versorgungsärztliche Stellungnahme der Med.Dir.’in Dr. K. vom 06.09.2001 ein. Darin heißt es, eine Änderung der Beurteilung ergebe sich nicht. Verschiedenen ärztlichen Unterlagen sei insbesondere zu entnehmen, dass Hinweise auf eine ED schon vor der dritten Impfung vorgelegen hätten. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2001 wies das damalige Landesversorgungsamt den Widerspruch daraufhin zurück.

Am 12.12.2001 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Stuttgart Klage und machte u. a. geltend, der Beklagte ignoriere weiterhin die im Widerspruchsverfahren beschriebenen, bereits nach den ersten beiden Impfungen im Jahr 1992 aufgetretenen typischen Krankheitsanzeichen. Dass diese in den Krankenunterlagen nicht dokumentiert seien, liege daran, dass sie von ihrem damaligen Arbeitgeber, dem Allgemeinarzt K., geimpft worden sei, jedoch nicht offiziell bei diesem in Behandlung gestanden habe. Die seinerzeitigen Symptome habe sie eher für ein orthopädisches Problem gehalten. Die fehlende Dokumentation dürfe nicht zu ihren Lasten gehen. Soweit im Widerspruchsbescheid ausgeführt werde, erste spezifische Krankheitsanzeichen hätten bereits ca. zehn Tage vor der dritten Impfung vorgelegen, so sei das vor der dritten Impfung beschriebene kurzzeitige Kribbeln gemessen am gesamten Krankheitsverlauf überbewertet worden. Wegen dieser von ihr selbst als sanfte Krankheitsanzeichen beschriebenen Symptomatik habe sie noch nicht einmal einen Arzt aufgesucht. Erst sechs Tage nach der dritten Impfung, d. h. am 01.07.1993 seien Symptome wie "Stromschläge" aufgetreten, die sie für kurze Zeit gehunfähig gemacht und derentwegen ihre Eltern sie ins Krankenhaus gebracht hätten. Soweit Dr. G. davon ausgehe, dass sie bereits zwei Wochen vor der Inanspruchnahme von Dr. B. an Missempfindungen und Schwächen an den Gliedmaßen gelitten habe, interpretiere er den Kurzbericht von Dr. B. vom 02.07.1993 falsch. Ähnlich ungenau seien auch die im Entlassungsbericht des Bürgerhospitals vom 05.11.1993 dokumentierten anamnestischen Angaben. Ganz offensichtlich sei kurz nach der dritten Impfung ein erster schwerer MS-Schub aufgetreten, der ohne diese dritte Impfung wahrscheinlich nicht erfolgt wäre. Damit sei die dritte Impfung aber entscheidend für den Ausbruch der Krankheit gewesen.

Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage seiner Verwaltungsakten und unter Aufrechterhaltung seines bisherigen Standpunktes entgegen. Zu dem Vorbringen der Klägerin legte der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. Sch. vom 05.06.2003 vor. Danach seien die von der Klägerin vorgebrachten "Befindlichkeitsstörungen" aus dem Jahr 1992 nicht im Zusammenhang mit der aufgetretenen MS zu sehen. Entsprechendes gelte für die schon seit Anfang 1991 behandlungsbedürftigen Wirbelsäulenbeschwerden. Anfang 1993 seien Herzrhythmusstörungen aufgetreten, die zu den weiteren Beschwerden, wie Engegefühl und verminderte Belastbarkeit geführt hätten. Deshalb habe die Klägerin auch im Mai 1993 Dr. F. aufgesucht. Ebenfalls im Mai 1993 seien die ersten für eine ED typischen neurologischen Symptome aufgetreten. Geradezu typisch für den Beginn einer ED seien die von der Klägerin für den Zeitpunkt nach dem Wochenende des 19./20.06.1993 beschriebenen Erscheinungen, die während der Arbeit aufgetreten seien (Kribbeln in Händen und auch etwas im linken Bein, nach wenigen Minuten verschwunden). Es sei also eindeutig unabhängig von den durchgeführten Impfungen zu der Entwicklung einer entzündlichen Erkrankung des Gehirns und des Rückenmarks gekommen, wie sich dies in den bildgebenden Verfahren im Juli/August 1993 dargestellt habe. Auch das akute Ereignis am 01.07.1993 könne in dieser Art der bereits bestehenden Erkrankung ohne Weiteres zugeordnet werden. Bei einer Impfschädigung hätte man eher eine langsam progrediente Symptomatik am peripheren Nervensystem erwartet.

In der nichtöffentlichen Sitzung vom 04.12.2002 hörte das Sozialgericht den Vater der Klägerin persönlich an. Darüber hinaus zog es von der D. einen Ausdruck aus deren Leistungskartei bei und holte die schriftliche sachverständige Zeugenaussagen von Dr. B. vom 27.01.2003, bei dem die Klägerin vom 02.07.1993 bis zum 20.02.1996 in Behandlung gestanden hatte, ein.

Ferner erhob das Sozialgericht das Gutachten des Chefarztes der Neurologischen Klinik im Städtischen Klinikum Pf., Prof. Dr. K., vom 27.02.2005. Dieser verneinte die Verursachung der MS durch die FSME-Impfung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Da bei der Klägerin der im Jahr 1993 aufgetretene Schub vor der dritten Impfung aufgetreten sei, sei eine Kausalität hoch unwahrscheinlich. Ein Zusammenhang zwischen den beiden ersten Impfungen ein Jahr zuvor sei wegen der langen zeitlichen Latenz ohnehin nicht gegeben. Selbst wenn die ersten Symptome frühestens eine Woche nach der dritten Impfung aufgetreten wären, sei die Wahrscheinlichkeit einer Kausalität äußert gering, da alternative Ursachen eine mindestens gleich hohe Wahrscheinlichkeit gehabt hätten. Anderweitige Infektionen seien zum damaligen Zeitpunkt nicht untersucht worden und könnten damit auch nicht ausgeschlossen werden. Eine "Medlinesuche" habe keinen Fall einer Publikation ergeben, in dem die Verursachung oder Auslösung eines Schubes der MS durch eine FSME-Impfung beschrieben worden sei. Auch sei ihm als Gutachter, der für das P.-E.-Institut bereits zahlreiche Gutachten zu Verdachtsfällen einer Impfkomplikation nach FSME-Impfung erstellt habe, kein Fall bekannt, bei dem die Verursachung oder Auslösung einer MS durch eine FSME-Impfung gesichert worden sei. Eine von Baumhackl und Kollegen 2003 publizierte Studie, bei der Patienten mit einer gesicherten MS dahingehend untersucht worden seien, ob eine Impfung gegen FSME einen Schub auslöse, habe als wesentliches Ergebnis gebracht, dass die FSME-Impfung in keinem Fall zu einer Schubauslösung geführt habe. Auch durch eine in den USA in den 90er Jahren durch eine große Gruppe von Experten erfolgte Überprüfung möglicher Nebenwirkungen nach Impfungen habe in keinem Fall eine Verursachung oder Auslösung eines Schubes einer MS nachgewiesen oder zumindest als klinisch wahrscheinlich eingestuft werden können.

Zu diesem Gutachten trug die Klägerin u. a. vor, der Sachverständige habe bei seiner Beurteilung unberücksichtigt gelassen, dass sich der heute produzierte Impfstoff "FSME-Immun Erwachsene" von dem in den Jahren 1992 und 1993 eingesetzten Impfstoff "FSME-Immun" wesentlich unterscheide.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) holte das Sozialgericht ferner das Gutachten des langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiters im P.-E.-Institut mit Zuständigkeit für Impfstoffe Dr. H. vom 28.11.2006 ein. Dieser ging bei der Klägerin von einer speziellen Form der MS aus, initial von einer akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM), die einen chronisch rezidivierenden Verlauf genommen und zu multiplen neurologischen Ausfallerscheinungen geführt habe. Seines Erachtens seien die Schäden bei der Klägerin im Wesentlichen und mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf die FSME-Impfung zurückzuführen. Dies begründete er mit Erfahrungsberichten über unerwünschte Arzneimittelwirkungen vor dem Hintergrund der Besonderheiten des bei der Klägerin zur Anwendung gelangten Impfstoffs "FSME-Immun" hinsichtlich des Herstellungsverfahrens und des dabei verwendeten quecksilberhaltigen Konservierungsmittel Thiomersal.

Auf die hiergegen vom Beklagten mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. G. vom 02.01.2007 vorgebrachten Einwendungen hielt der Sachverständige Dr. H. mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 15.04.2007 an seiner Einschätzung fest. Dr. G. vertrat in der sodann vorgelegten ergänzenden Stellungnahme vom 04.06.2007 weiterhin die Auffassung, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung der Klägerin sei nicht wahrscheinlich.

Mit Urteil vom 15.08.2007 wies das Sozialgericht die Klage mit der Begründung ab, es liege die Prozesssituation eines "non liquet" vor, die verfahrensrechtlich zur Klageabweisung führe. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des den Bevollmächtigten der Klägerin am 12.09.2007 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Urteils verwiesen.

Am 04.10.2007 hat die Klägerin Berufung eingelegt.

Der Senat hat die ergänzende Stellungnahme von Dr. H. vom 04.09.2009 eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, eine Trennung der Krankheitsbilder von ADEM und MS sei nach seiner Auffassung derzeit nicht klar und eindeutig möglich. Zahlreiche Untersucher seien der Meinung, dass es sich bei diesen entzündlichen Gehirnerkrankungen um verschiedene Ausprägungen der gleichen Grunderkrankung handle. Sofern die Vorgeschichte von Dr. B. korrekt dokumentiert worden sei, sei der Beginn der neurologischen Erkrankung der Klägerin bereits auf eine Woche vor der dritten Impfung zu datieren. Soweit die spätere Angabe der Klägerin, vor der dritten Impfung habe sie nur ein leichtes und kurzzeitiges, mit den nach der Impfung aufgetretenen Missempfindungen auch nicht annähernd vergleichbares Kribbeln verspürt, zutreffe, müsse offen bleiben, ob dies tatsächlich bereits der Beginn der späteren neurologischen Erkrankung gewesen sei oder andere Ursachen gehabt habe. Ersterenfalls sei der Verlauf durch die Aktivierung des Immunsystems in Folge der Impfung sicherlich beeinflusst worden. Ob ohne die Impfung tatsächlich eine schwere Erkrankung entstanden wäre, müsse ungeklärt bleiben, da über "leichte" und abortive Verläufe einer ADEM keine Daten vorlägen.

Die Klägerin macht geltend, die eingetretene Schädigung sei mit Wahrscheinlichkeit auf die FSME-Impfung zurückzuführen; im Übrigen seien die Anforderungen für eine sogenannte "Kannversorgung" sogar geringer, nachdem insoweit schon eine wissenschaftlich diskutierte Möglichkeit, eine Arbeitshypothese, genüge. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts spreche mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem verbliebenen Schaden. Dr. H. habe dies in seinem Gutachten vom 15.04.2007 ausführlich und überzeugend herausgearbeitet. Demgegenüber könne das Gutachten von Prof. Dr. K. nicht überzeugen. Die von diesem herangezogene Studie von Baumhackl und Kollegen, nach der eine Impfung in keinem Fall zu einer Schubauslösung geführt habe, betreffe nicht den bei ihr eingesetzten Impfstoff. Die erwähnte, aus den USA stammende Studie könne für die hier zu beurteilende Impfung gegen FSME nicht herangezogen werden, da dort derartige Impfungen nicht verabreicht würden und die Studie zu der Impfung mit "FSME-Immun" daher keinerlei Aussage enthalten könne. Prof. Dr. K. sei im Rahmen seiner Beurteilung auch von falschen Voraussetzungen ausgegangen, indem er zugrunde gelegt habe, dass der erste Schub der Erkrankung bereits vor der dritten Impfung zu verzeichnen gewesen sei. Insoweit habe sie jedoch ausdrücklich dargelegt, dass der erste Schub, dessentwegen sie am Folgetage Dr. B. aufgesucht habe, nicht vor, sondern 6 Tage nach der dritten Impfung aufgetreten sei. Soweit Prof. Dr. K. im Übrigen die erforderliche Wahrscheinlichkeit mit der Begründung verneint habe, alternative Ursachen, wie bspw. anderweitige Infektionen, seien zumindest gleich wahrscheinlich, lege er einen unzutreffenden Beurteilungsmaßstab an, weil aus dem Umstand, dass alternative Ursachen nicht untersucht worden seien, nicht auf das Vorliegen einer konkurrierenden Kausalität geschlossen werden könne.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 15.08.2007 sowie den Bescheid des Beklagten vom 03.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2001 aufzuheben und festzustellen, dass die bei ihr vorliegende Encephalomyelitis disseminata ein Impfschaden ist.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung legt er die weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. G. vom 10.01.2008 und vom 21.09.2009 vor. Darin ist im Wesentlichen ausgeführt, es bestehe die bloße Möglichkeit, nicht aber die erforderliche Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem verwendeten Impfstoff und Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Zwar sei dem genannten Sachverständigen darin zuzustimmen, dass eine Trennung der Krankheitsbilder von (multiphasischer) ADEM und MS nicht immer klar und eindeutig möglich sei. Vorliegend sprächen jedoch die dokumentierten Symptome und Befunde mit größerer Wahrscheinlichkeit für den typischen Beginn (und Verlauf) einer MS.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten des Senats und des Sozialgerichts Stuttgart sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten aus dem vorliegenden Impfschadensverfahren und dem Schwerbehindertenverfahren der Klägerin verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin erstrebt im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß den §§ 54 Abs. 1 und 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG neben der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils sowie des Bescheides vom 03.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.11.2001 die Feststellung einer Enzephalomyelitis disseminata als Impfschaden. Eine Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Leistungen begehrt sie bei sachdienlicher Auslegung ihres Klage- und Berufungsbegehrens (§ 123 SGG) daneben nicht. Weder hat sie nämlich selbst konkrete Entschädigungsleistungen geltend gemacht noch hat der Beklagte über solche konkreten Leistungen entschieden, so dass eine Leistungsklage nicht statthaft wäre (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R, Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Auflage, Seite 162-165).

Die so gefasste Berufung ist zulässig, jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage zur Gänze abgewiesen. Zwar lässt sich die Entstehung der bei der Klägerin vorliegenden ED weder auf die am 25.06. und 23.07.1992 durchgeführten Impfungen (1.) noch auf die Impfung vom 25.06.1993 (2.) zurückführen. Auch ist nicht wahrscheinlich, dass die Impfung vom 25.06.1993 zu einer Verschlimmerung der Erkrankung geführt hat, jedoch hat die Klägerin im Wege der sog. Kannversorgung Anspruch auf Feststellung, dass die Folgen des von ihr am 01.07.1993 erlittenen ersten Schubes der ED ein Impfschaden sind (3.). Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind abzuändern, soweit sie der danach auszusprechenden Feststellung entgegenstehen. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.

Rechtliche Grundlage des Begehrens der Klägerin ist angesichts der Antragstellung am 27.03.2000 zunächst das bis zum 31.12.2000 geltende Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengesetz - BSeuchG) und für die Zeit ab dem 01.01.2001 das an diesem Tage - ohne Übergangsregelung für Impfschäden und hierauf beruhende Entschädigungsansprüche - in Kraft getretene Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG). Nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelungen der §§ 51 Abs. 1, 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG und der §§ 60 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung u. a. durch eine von einer zuständigen (Landes-)Behörde öffentlich empfohlene Impfung.

Die Impfung, der über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende Gesundheitsschadens und der verbliebene Schaden (anhaltende Gesundheitsstörung) müssen voll bewiesen sein. Der Vollbeweis setzt voraus, dass die Tatbestandsmerkmale mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, die ernste, vernünftige Zweifel ausschließt, erwiesen sind (BSG, Urteil vom 19.03.1986 - 9a RVi 2/84 = SozR 3850 § 51 Nr. 9).

Dies ist hier der Fall. So wurden bei der Klägerin am 25.06. und 23.07.1992 sowie am 25.06.1993 öffentlich empfohlene Impfungen gegen FSME mit dem Impfstoff "FSME-Immun" durchgeführt. Auch kam es bei ihr am 01.07.1993, also sechs Tage nach der letzten Impfung vom 25.06.1993, zu Sensibilitäts- und Gangstörungen, in deren Folge als verbliebener Schaden eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems diagnostiziert wurde, und sind damit über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende und verbliebene Gesundheitsstörungen eingetreten. Dabei geht der Senat vom diagnostisch gesicherten Eintritt und fortbestehenden Vorliegen einer ED (=MS) aus. Die Richtigkeit der erstmals vom Sachverständigen Dr. H. im Gutachten vom 28.11.2006 vertretenen Auffassung, bei der Klägerin habe initial eine ADEM als spezielle Unterform der MS vorgelegen, lässt sich angesichts der schwierigen Differenzialdiagnose sowie der fehlenden klaren und definierten Begriffsbestimmung (vgl. die ergänzende sachverständige Stellungnahme von Dr. H. vom 04.09.2009 sowie die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr G. vom 21.09.2009) nicht erweisen (vgl. hierzu auch die Einwendungen von Dr. G. in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 02.01. und 04.06.2007); demgemäß hat Dr. H. in der ergänzenden sachverständigen Stellungnahme vom 04.09.2009 die genaue diagnostische Einstufung auch offen gelassen und von einer "ADEM / ED - Erkrankung" gesprochen.

Für den Ursachenzusammenhang zwischen der Impfung und der Schädigung und dem verbleibenden Gesundheitsschaden genügt der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit (vgl. § 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG, § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlich ist ein ursächlicher Zusammenhang, wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den behaupteten ursächlichen Zusammenhang spricht bzw. wenn nach sachgerechter Abwägung den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt. Somit ist die erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht schon dann zu bejahen, wenn ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden kann oder nur möglich ist; auch die "gute Möglichkeit" genügt insoweit nicht (BSG a.a.O.). Ist ein Sachverhalt nicht beweisbar oder ein Kausalzusammenhang nicht wahrscheinlich zu machen, so hat nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast) der Beteiligte die Folgen zu tragen, der aus dem nicht festgestellten Sachverhalt bzw. dem nicht wahrscheinlich gemachten Zusammenhang Rechte für sich herleitet.

Ist allerdings die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges des Gesundheitsschadens mit der Impfung nur deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit - auch allgemein erteilter - Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Impfung anerkannt werden (sog. Kannversorgung; vgl. § 52 Abs. 2 BSeuchG, § 61 Satz 2 IfSG), wobei die Zustimmung durch eine gegenüber dem entsprechenden Land ergangene rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ersetzt werden kann (vgl. zu einer Verurteilung zur Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung BSG, Beschluss vom 28.10.1994 - 9 RV 17/94 - zit. nach juris).

Nach Teil C Nr. 4 Buchst. b) der am 01.01.2009 in Kraft getretenen "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" - VG (Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG [Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - vom 10.12.2008, BGBl. I, S. 2412]) - setzt die sog. Kannversorgung voraus, dass über die Ätiologie und Pathogenese des Leidens keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Auffassung herrscht. Eine von der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung abweichende persönliche Ansicht einer sachverständigen Person erfüllt nicht den Tatbestand einer Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft. Wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrungen darf die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können. Ein ursächlicher Einfluss der im Einzelfall vorliegenden Umstände muss in den wissenschaftlichen Arbeitshypothesen als theoretisch begründet in Erwägung gezogen werden. Ist die ursächliche Bedeutung bestimmter Einflüsse trotz mangelnder Kenntnis der Ätiologie und Pathogenese wissenschaftlich nicht umstritten, so muss gutachterlich beurteilt werden, ob der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist. Zwischen der Einwirkung der wissenschaftlich in ihrer ursächlichen Bedeutung umstrittenen Umstände und der Manifestation des Leidens oder der Verschlimmerung des Krankheitsbildes muss eine zeitliche Verbindung gewahrt sein, die mit den allgemeinen Erfahrungen über biologische Verläufe und den in den wissenschaftlichen Theorien vertretenen Auffassungen über Art und Wesen des Leidens in Einklang steht.

Bei der multiplen Sklerose (MS) besteht in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit darüber, ob es sich um eine Infektionskrankheit oder um ein neuro-allergisches, auf einer Autoimmunreaktion beruhendes Krankheitsgeschehen handelt, wobei auch die Bedeutung endogener Faktoren noch umstritten ist (vgl. hierzu Nr. 64 der derzeit noch dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechenden [so auch Hess. LSG, Urteil vom 29.04.2009 - L 4 VS 1/05 -], bis zum Inkrafttreten der VG am 01.01.2009 anzuwendenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht [Teil 2 SGB IX]" 2008 - AHP -; vgl. auch die vom Sozialgericht eingeholten schriftliche Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. vom 27.02.2005 und Dr. H. vom 28.11.2006).

In seltenen Einzelfällen kann trotzdem ein Zusammenhang der MS mit einer Schädigung wahrscheinlich sein, zum Beispiel, wenn der Schub des Leidens in augenfälliger zeitlicher Verbindung mit außergewöhnlich massiven Belastungsfaktoren auftritt und dann bei jeder der genannten wissenschaftlichen Hypothesen die gleiche Beurteilung abzugeben wäre (vgl. auch hierzu Nr. 64 der AHP).

Sonst ist eine Kannversorgung in Betracht zu ziehen, wobei unter Berücksichtigung der verschiedenen wissenschaftlichen Hypothesen ungewiss ist, ob folgende exogene Faktoren für die Entstehung und den weiteren Verlauf der MS von ursächlicher Bedeutung sind: a) Körperliche Belastungen oder Witterungseinflüsse, die nach Art, Dauer und Schwere geeignet sind, die Resistenz herabzusetzen, b) Krankheiten, bei denen eine toxische Schädigung oder eine erhebliche Herabsetzung der Resistenz in Frage kommt, c) Elektrotraumen (mit Stromverlaufsrichtung über das Rückenmark). Haben solche Umstände als Schädigungstatbestände vorgelegen, sind die Voraussetzungen für eine Kannversorgung dann als gegeben anzusehen, wenn die Erstsymptome der MS während der Einwirkung der genannten Faktoren oder mehrere Monate (bis zu 8 Monaten) danach oder in der Reparationsphase (bis zu 2 Jahren) im Anschluss an eine unter extremen Lebensbedingungen verlaufene Kriegsgefangenschaft aufgetreten sind. Außerdem sind die Voraussetzungen für eine Kannversorgung als erfüllt anzusehen, wenn die MS in enger zeitlicher Verbindung mit langdauernden konsumierenden Krankheiten, die selbst Schädigungsfolge sind, aufgetreten ist. Eine enge zeitliche Verbindung ist ebenfalls zu fordern, wenn eine ausgeprägte Impfreaktion ursächlich in Betracht kommt (vgl. auch hierzu Nr. 64 der AHP).

1. In Anwendung dieser Grundsätze ist zunächst weder wahrscheinlich noch im Sinne der sog. Kannversorgung nur wegen in der medizinischen Wissenschaft bestehender Ungewissheit über die Ursache der Erkrankung der Klägerin nicht wahrscheinlich, dass die Erkrankung auf die am 25.06. und 23.07.1992 durchgeführten Impfungen zurückzuführen ist. Eine auch nur theoretische Begründung für eine solche kausale Verknüpfung hat keiner der beteiligten Ärzte abgegeben (und Prof. Dr. K. im erstinstanzlich eingeholten Gutachten vom 27.02.2005 sogar verneint). Für eine solche besteht auch im Übrigen kein Anhalt. Denn typische Krankheitsanzeichen nach den beiden ersten Impfungen im Jahr 1992 sind nicht dokumentiert (vgl. hierzu die versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. G. vom 23.03.2001 und von Dr. Sch. vom 05.06.2003) und ebenfalls von keinem der beteiligten Ärzte mitgeteilt worden, so dass es an einer - wie ausgeführt - nach Teil C Nr. 4 Buchst. b) der VG und Nr. 64 der AHP erforderlichen engen zeitlichen Verbindung zwischen den Impfungen und dem Auftreten der Erkrankung fehlt. Dies geht nach den oben gleichfalls dargelegten Grundsätzen zu Lasten der insoweit materiell beweispflichtigen Klägerin.

2. Die Entstehung der Erkrankung der Klägerin lässt sich im Ergebnis aber auch nicht ursächlich auf die letzte Impfung vom 25.06.1993 zurückführen.

Dieser Beurteilung legt der Senat die eigenen Angaben der Klägerin in ihrem an den behandelnden Neurologen und Psychiater Dr. D. gerichteten und im Rahmen des Schwerbehindertenverfahrens vorgelegten Schreiben vom 13.05.1999 zu Grunde. Danach bestanden schon ab April 1993 leichtere Sensibilitätsstörungen, Kribbeln in den Händen und Füßen und vorübergehende Taubheitsempfindungen. Dieser Sachverhalt wird durch die Angaben der Klägerin im Rahmen der Untersuchung durch Dr. P. am 26.10.2000, wonach sie schon im Mai 1993 Kribbelparästhesien etc. und "Stromschläge" empfunden hatte und in der von ihr gefertigten Schilderung des zeitlichen Ablaufs ihrer Erkrankung (Anlage 3 zur Begründung des Widerspruchs gegen die ablehnende Entscheidung des Versorgungsamtes), wo von Kribbeln in Händen und auch etwas im linken Bein nach einer am 19./20.06.1993 durchgeführten sehr heißen Wochenendfahrt in das S. berichtet wird, bestätigt.

Dem entsprechen im Wesentlichen die anamnestischen Aufzeichnungen des Neurologen und Psychiaters Dr. B. im Kurzbericht an den Allgemeinarzt K. vom 02.07.1993 über eine seit ca. zwei Wochen progrediente (sich verschlimmernde) Taubheit an Handflächen und Sohlen sowie das Auftreten paroxysmaler (anfallsartiger) Kribbelparästhesien (kribbelnder Missempfindungen) am linken Arm sowie am linken und rechten Bein, z.T. mit Schwächegefühl. Dabei stimmen die Aufzeichnungen nicht nur inhaltlich mit den oben angeführten Angaben der Klägerin über bereits vor der dritten Impfung eingetretene Taubheits- und kribbelnde Missempfindungen überein, sondern knüpfen sie auch mit Blick auf den genannten Zeitraum von ca. zwei Wochen an die von der Klägerin berichtete Wochenendfahrt vom 19./20.06.1993 an. Dass sich ihr Gesundheitszustand in dem genannten Zweiwochenzeitraum verschlechtert hat, bestreitet die Klägerin in der Sache selbst nicht. Vielmehr macht sie - für das Gericht überzeugend - gerade geltend, dass am 01.07.1993 eine entscheidende Verschlimmerung eingetreten ist.

Mit den angeführten Angaben der Klägerin und den Aufzeichnungen von Dr. B. stimmt schließlich auch die im Entlassungsbericht der Neurologischen Klinik des Bürgerhospitals St. vom 05.11.1993 mitgeteilte Anamnese überein, wonach die Klägerin Mitte Juni 1993 elektrisierende Parästhesien am linken Arm und linken Bein über eine bis eine halbe Minute Dauer für insgesamt etwa 14 Tage empfand und sich die Symptomatik gegen Ende Juni 1993 in Kribbelparästhesien in beiden Beinen geändert hat.

Ausgehend von den nach alledem bereits vor der Impfung am 25.06.1993 aufgetretenen Sensibilitätsstörungen, Kribbelparästhesien und Taubheitsgefühlen ist es zunächst nicht wahrscheinlich, dass die ED der Klägerin durch die besagte Impfung ausgelöst wurde. Denn bei den genannten Missempfindungen handelt es sich um die ersten für eine ED typischen Symptome (vgl. die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Sch. vom 05.06.2003). Demgemäß hat auch Dr. H. in der ergänzenden sachverständigen Stellungnahme vom 04.09.2009 eingeräumt, dass bei - wie oben dargelegt - korrekter Dokumentation der Vorgeschichte durch Dr. B. der Beginn der neurologischen Erkrankung der Klägerin bereits auf eine Woche vor der dritten Impfung zu datieren ist.

Eine Verursachung der ED im Sinne der Kannversorgung scheidet ebenfalls aus. Nachdem der Beginn der neurologischen Erkrankung der Klägerin wie ausgeführt bereits auf eine Woche vor der dritten Impfung zu datieren ist (vgl.die ergänzende sachverständige Stellungnahme von Dr. H. vom 04.09.2009), ist nämlich die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges des Gesundheitsschadens mit der Impfung nicht nur wegen einer Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft über die Ursache des festgestellten Leidens, sondern deshalb nicht gegeben, weil diese bereits vor der Impfung durch die ersten typischen Symptome manifestiert hatte.

3. Eine Verschlimmerung der Erkrankung der Klägerin durch die Impfung vom 25.06.1993 lässt sich lediglich im Wege der Kannversorgung und mit Blick auf den am 01.07.1993 erlittenen erste Schub der ED feststellen.

Im Rechtssinne wahrscheinlich ist eine Verschlimmerung der Erkrankung der Klägerin durch die in Rede stehende Impfung nicht. Soweit Dr. H. in der ergänzenden sachverständigen Stellungnahme vom 04.09.2009 ausgeführt hat, der Verlauf der ED sei durch die Aktivierung des Immunsystems in Folge der Impfung sicherlich beeinflusst worden, gibt dies für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer durch die Impfung verursachten Verschlimmerung nichts her. Die Frage, ob ohne die Impfung eine schwere Erkrankung entstanden wäre, hat der Sachverständige in Ermangelung verfügbarer Daten offen gelassen.

Allerdings ist es im Sinne der sog. Kannversorgung nur wegen der in der medizinischen Wissenschaft bestehenden Ungewissheit über die Ätiologie und Pathogenese der ED (vgl. Nr. 64 der AHP) nicht wahrscheinlich, dass der erste Schub der ED auf die die am 25.06.1993 durchgeführte Impfung zurückzuführen ist.

Was die Kannversorgung betrifft, hat Dr. H. in der ergänzenden sachverständigen Stellungnahme vom 04.09.2009 i. V. mit den Ausführungen im Gutachten vom 28.11.2006 einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem initialen Verlauf der ED der Klägerin schlüssig dargelegt. Dabei hat er auf die gerade für den bei der Klägerin verwendeten Impfstoff "FSME-Immun" in der Datenbank des P.-E.-Instituts vorhandene relativ hohe Zahl von Meldungen über neurologische Störungen, darunter auch Fälle postvakzinal beobachteter Enciphalitiden, die nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit "wahrscheinlicher Kausalzusammenhang" bewertet wurden, sowie auf die Besonderheiten des Herstellungsverfahrens des besagten Impfstoffs in Maushirnen und das zudem verwendete quecksilberhaltige Konservierungsmittel Thiomersal verwiesen. Denn die Virusanzucht in Maushirnzellen hatte das Problem, dass beim "Ernten" der Viren die Maushirnzellen zerstört werden mussten und sich somit Spuren der zerstörten neuronalen Strukturen im Endprodukt wiederfanden, wobei der in ähnlicher Weise hergestellte historische Tollwutimpfstoff bei 0,1% der Impflinge eine disseminierte Encephalomyelitis erzeugt hatte. Hinzu kommt, dass die Triggerwirkung von Quecksilberverbindungen und speziell auch von Thiomersal auf die Entstehung von Autoimmunerkrankungen seit längerem bekannt und auch experimentell bestätigt ist. Dass die beim P.-E.-Institut geführten Expertengespräche letztlich keine abschließende Klärung ergeben haben, ist gerade vor dem Hintergrund des Umstandes nicht verwunderlich, dass ein Beweis für einen kausalen Zusammenhang nicht erbracht werden konnte, weil in keinem der diskutierten Fälle definitiv alle alternativen infektiösen Ursachen serologisch hatten ausgeschlossen werden können. Allerdings haben die Experten des P.-E.-Instituts und die eingeladenen unabhängigen Experten eine Reihe von Fällen von gleichwohl als durch die Impfung bedingt betrachtet.

Angesichts der für das Gericht schlüssigen und auch zumindest einen eingeschränkten Personenkreis der Fachmediziner überzeugenden Ausführungen zum Vorliegen eines Ursachenzusammenhangs (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 29.04.2009 - L 4 VS 1/05 - a. a. O.) sowie der darüber hinaus bestehenden engen zeitlichen Verbindung (vgl. Teil C Nr. 4 Buchst. b) der VG und Nr. 64 der AHP) zwischen der Impfung vom 25.06.1993 und dem als erstem Schub der ED anzusehenden (vgl. hierzu den Entlassungsbericht der Neurologischen Klinik des Bürgerhospitals St. vom 05.11.1993 sowie das schriftliche Sachverständigengutachten von Prof. Dr. K. vom 27.02.2005) "Zusammenbruch" der Klägerin am 01.07.1993 liegt eine für die Kannversorgung ausreichende "gute Möglichkeit" (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 - SozR 3-3200 § 81 Nr. 13) des Zusammenhangs vor.

Da keine anderen möglichen Ursachen der bei der Klägerin aufgetretenen Verschlimmerung im Sinne von zeitlich koinzidenten Infektionen oder stärkeren Einflüssen auf das Immunsystem festzustellen sind und sich der ursächliche Zusammenhang der bei der Klägerin erfolgten Impfung mit "FSME-Immun" pathophysiologisch gut erklären lässt, sind die Voraussetzungen der Kannversorgung erfüllt.

Wesentliche, dieser Beurteilung entgegenstehende Gesichtspunkte lassen sich dem Gutachten des Prof. Dr. K. nicht entnehmen. Denn das Gutachten leidet an dem Mangel, dass sich der Sachverständige nicht mit dem bei der Klägerin eingesetzten Impfstoff "FSME-Immun" bzw. dessen unter Experten durchaus bekannten Sicherheitsproblemen auseinander gesetzt hat, obwohl für diesen Impfstoff bereits im Jahr 1993 wissenschaftlicher Kenntnisstand gewesen ist, dass nach seiner Anwendung in seltenen Fällen demyelenisierende Erkrankungen auftreten können. Prof. Dr. K. hat zur Stützung seiner Auffassung vielmehr die Studie von Baumhackl und Kollegen 2003 herangezogen, die mit einem komplett veränderten Impfstoff durchgeführt worden war und daher keinen Beitrag zu der vorliegend zu beurteilenden Kausalitätsfrage leisten kann.

Ein zweiter Schub im Oktober 1993 (vgl. hierzu die Ausführungen im Arztbrief des die Klägerin ab März 1999 behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. D. vom 04.03.1999 sowie die im Entlassungsbericht der Kliniken Sch., G., vom 30.06.1994 wiedergegebenen Angaben der Klägerin) ist nicht nachgewiesen; im Gegenteil ergibt sich aus der vom Sozialgericht eingeholten schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage des die Klägerin nach Ausbruch der Erkrankung bis ins Jahr 1996 behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. B. vom 27.01.2003 eine nach der Entlassung aus dem Bürgerhospitals St. am 15.09.1993 zunächst gleichbleibende und ab Ende Oktober 1993 bis in das Jahr 1994 eine langsame aber stetige Besserung der Beschwerdesymptomatik. Der im Jahre 1999 aufgetretene Schub stand auch nach Einschätzung des die Klägerin zu jener Zeit behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. D. in Zusammenhang mit dem kurz zuvor erlittenen HWS-Schleudertrauma im Sinne einer Belastungsredaktion (vgl. auch hierzu den Arztbrief vom 04.03.1999).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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