L 10 B 2071/08 AS PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 95 AS 2330/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 B 2071/08 AS PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 09. September 2008 wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Sozialgerichts (SG) Berlin, mit dem der Antrag des Antragstellers vom 16. Januar 2008 abgelehnt worden ist, ihm für das am selben Tag anhängig gemachte einstweilige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten zu gewähren, ist zulässig; insbesondere ist sie unabhängig vom Beschwerdewert auch nach § 172 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da nach § 172 Abs 3 Nr 2 SGG Beschwerden gegen die Ablehnung von PKH nur ausgeschlossen sind, wenn das SG ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH verneint hat. Eine solche Situation ist aber hier nicht gegeben, weil das SG seine ablehnende Entscheidung (allein) damit begründet hatte, das einstweilige Rechtsschutzverfahren habe zu keinem Zeitpunkt Aussicht auf Erfolg gehabt. Der Senat hat bereits zu der bis zum 31. März 2008 geltenden Gesetzeslage die Auffassung vertreten, dass im PKH-Verfahren unabhängig vom Wert der Beschwer in der Hauptsache die Beschwerde zulässig ist (vgl ausführlich: Beschluss des Senats vom 14. Mai 2007 - L 10 B 217/07 AS PKH, juris). Hieran hält er - auch und gerade - nach der umfangreichen Änderung des § 172 SGG zum 01. April 2008 und unter Berücksichtigung des Gesetzgebungsprozesses fest. § 172 Abs 3 SGG enthält eine klare und eigenständige Regelung dazu, in welchen Fällen die grundsätzlich zulässige Beschwerde gegen Entscheidungen der Sozialgerichte ausgeschlossen ist – einschließlich besonderer Regelungen zum Beschwerdewert. Auch ein Rückgriff auf den Rechtsgedanken des § 127 Abs 2 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) bzw dessen entsprechende Anwendung iVm § 73a Abs 1 Satz 1 SGG (so aber Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. September 2009 – L 20 B 2247/08 AS PKH, juris, mit umfangreichen Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen) ist daher zur Überzeugung des Senats nicht möglich (so bereits Beschluss des Senats vom 28. August 2009 – L 10 AS 1286/09 B PKH, unveröffentlicht, und ua auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 31. März 2010 - L 19 AS 829/09 B PKH, 12. März 2010 - L 25 B 1612/08 AS PKH und 16. Juli 2009 – L 28 B 1379/08 AS PKH, jeweils juris). Nichts anderes ergibt sich für den vorliegenden Fall aus der durch die durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch vom 05. August 2010 (BGBl 1127) ab dem 11. August 2010 angefügte Regelung des § 172 Abs 3 Nr 1 2. Halbsatz SGG. Danach gilt nun zwar die vormals in § 172 Abs 3 Nr 1 SGG enthaltene und nunmehr zu § 172 Abs 3 Nr 1 1. Halbsatz SGG gewordene Regelung, wonach in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Beschwerde ausgeschlossen ist, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre, auch für Entscheidungen über einen Prozesskostenhilfeantrag im Rahmen dieser Verfahren. Zwar ist § 172 Abs 3 Nr 1 2. Halbsatz SGG ohne Übergangsregelung eingeführt worden, so dass nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts eine Änderung von Prozessrecht grundsätzlich auch anhängige Verfahren erfasst. Dieser allgemeine Grundsatz erfährt aber mit Rücksicht auf den Grundsatz der Rechtsmittelsicherheit eine einschränkende Konkretisierung. Fehlt es an einer gesetzlichen Übergangsregelung, kann eine nachträgliche Beschränkung von Rechtsmitteln nicht zum Fortfall der Statthaftigkeit eines bereits eingelegten Rechtsmittels führen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631, 2 BvR 1728/90, juris RdNr 42ff = BVerfGE 87, 48 (64)). Da die Beschwerde hier am 15. Oktober 2008 eingelegt worden ist und die Neuregelung erst danach in Kraft trat, bleibt die Beschwerde – unabhängig vom Beschwerdewert – zulässig.

Die Beschwerde ist aber nicht begründet, da zum maßgeblichen Zeitpunkt keine hinreichende Erfolgsaussicht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren mehr bestanden hat (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 121 Abs 2 Satz 1 1. Alt ZPO).

Eine hinreichende Aussicht auf Erfolg ist gegeben, wenn bei summarischer Prüfung des Sach- und Streitstandes eine "reale Chance zum Obsiegen" besteht, während sie bei einer "nur entfernten Erfolgschance" abzulehnen ist. Auch bei nur teilweise zu bejahender Erfolgsaussicht ist in gerichtskostenfreien Verfahren (§ 183 SGG) – wie dem vorliegenden - PKH unbeschränkt zu bewilligen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, RdNr 7a zu § 73a; Knittel in Hennig ua, SGG, RdNr 13 zu § 73a).

Dabei war das Begehren des Antragstellers bei verständiger Würdigung seines Vorbringens (§ 123 SGG) als ein Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 27. September 2007 (Bl 280 Verwaltungsakte (VA)) gegen die im Bescheid vom 19. September 2007 (Bl 248 VA) verfügte Erstattungsverpflichtung vom 369,73 EUR anzusehen. Denn dieser Widerspruch hatte aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs 1 Satz 1 SGG), weil keiner der in § 86a Abs 2 SGG genannten Ausnahmetatbestände vorlag. Weder entfiel die aufschiebende Wirkung gemäß § 86a Abs 2 Nr 4 SGG wegen einer anderweitigen bundesgesetzlichen Regelung, da § 39 Nr 1 SGB II in seiner hier noch anwendbaren Ursprungsfassung auf Erstattungsverwaltungsakte keine Anwendung findet (vgl hierzu nur Beschluss des Senats vom 12. Juli 2006 – L 10 B 345/06 AS ER, L 10 B 346/06 AS PKH, juris RdNr 6 unter Darlegung des Streitstandes) noch hatte die Antragsgegnerin – was sonst noch allein noch in Betracht zu ziehen wäre – gemäß § 86a Abs 2 Nr 5 SGB II die sofortige Vollziehung des Erstattungsverwaltungsakts angeordnet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wurde aber im vorliegenden Fall von der Antragsgegnerin (zunächst) missachtet (so genannter faktischer Vollzug), da sie das Hauptzollamt mit der Durchführung der Vollstreckung beauftragt und dieses daraufhin am 14. Januar 2008 unter Vorlage einer vom 11. Januar 2008 (Bl 72 Gerichtsakte (GA)) datierenden Zahlungsaufforderung in der Wohnung des Antragstellers die Zwangsvollstreckung versucht hatte, die aber fruchtlos geblieben war (vgl zur Befugnis zur (deklaratorischen) gerichtlichen Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs: Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl, RdNr 15 zu § 86b mwN).

Dass das einstweilige Rechtschutzverfahren vor dem SG, für das die Bewilligung von PKH unter Beiordnung der Verfahrensbevollmächtigten begehrt wird, schon beendet ist, wobei insoweit unentschieden bleiben kann, ob die Verfahrensbeendigung am 04. Februar 2008 (Schriftsatz des Antragstellers vom selben Tage; Bl 82 GA) durch ein angenommenes Anerkenntnis (§ 101 Abs 2 SGG) oder durch eine als Rücknahme des Eilantrages zu wertende einseitig gebliebene Erledigungserklärung des Antragstellers (vgl dazu Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 29. Dezember 2005 - B 7a AL 192/05 B, juris) herbeigeführt worden ist, mithin eine Erfolgsaussicht aktuell nicht mehr besteht, steht der Begründetheit der Beschwerde nicht entgegen. Denn eine (rückwirkende) Bewilligung kommt in Betracht, sofern in dem beendeten Verfahren bereits ein Rechtsanwalt tätig geworden ist (denn in dessen Beiordnung und der damit verbundenen Freistellung des Unbemittelten von dessen Vergütungsansprüchen liegt in einem gerichtskostenfreien und ohne Anwaltszwang ausgestalteten sozialgerichtlichen Verfahren – wie dem vorliegenden - die praktische Bedeutung der Bewilligung von PKH (vgl BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2001 - 1 BvR 391/01, NZS 2002, 420, 420)), ein formgerechter und damit bewilligungsreifer Antrag auf PKH (dh ein Antrag in der in § 117 Abs 1 ZPO vorgegebenen Form nebst der gemäß § 117 Abs 2 ZPO erforderlichen Erklärung samt der nötigen Belege) vorgelegen hat und eine Entscheidung vor der Erledigung der "Hauptsache" aber unterblieben ist.

Sind diese Voraussetzungen – so wie hier – gegeben, kommt es im Weiteren grds darauf an, ob im Zeitpunkt der Entscheidungsreife eine hinreichende Erfolgsaussicht für die beabsichtigte Rechtsverfolgung (noch) bejaht werden kann (anders nur für den Fall, dass während der Dauer des Bewilligungsverfahrens eine Rechtsfrage zu Lasten des PKH-Antragstellers höchstrichterlich entschieden wird: dann ist auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen, so Beschluss des Senats vom 19. Mai 2008 - L 10 B 184/08 AS PKH, juris RdNr 7 mwN). Entscheidungsreife umschreibt den Zeitpunkt, zu dem die erforderlichen Entscheidungsgrundlagen vorliegen und das Gericht über das PKH-Gesuch entscheiden könnte und müsste. Sie tritt regelmäßig erst dann ein, wenn ein bewilligungsreifer Antrag vorliegt und dem Gegner eine angemessene Zeit zur Stellungnahme (§ 118 Abs 1 Satz 1 ZPO) gegeben worden ist und ggf das Gericht im gesonderten Verfahren nach § 118 Abs 2 ZPO den Beteiligten Gelegenheit gegeben hat, ihre tatsächlichen Behauptungen glaubhaft zu machen. Wegen des verfassungsrechtlich (Art 103 Abs 1 Grundgesetz) garantierten Grundsatzes des rechtlichen Gehörs kann nur in besonderen Ausnahmefällen (§ 118 Abs 1 Satz 1 ZPO: "aus besonderen Gründen unzweckmäßig") von der Anhörung des Gegners abgesehen werden. Grds wird aber die Anhörung des Gegners im sozialgerichtlichen Verfahren schon deshalb unverzichtbar sein, da ohne dessen Äußerung (und ggf dessen Akten) eine Beurteilung der Erfolgsaussichten ausschließlich auf die Angaben des PKH-Antragstellers gestützt werden könnte und dieser damit durch unzutreffende oder beschönigende Angaben die Gewährung von PKH und damit eine unberechtigte Prozessfinanzierung auf Staatskosten erreichen könnte, was nach Sinn und Zweck der Regelungen zur PKH zu vermeiden ist. Die Dauer der Frist ist so zu bemessen, dass dem Gegner unter zumutbaren Umständen eine Äußerung (und ggf die Aktenvorlage) möglich ist. Diese Dauer hängt von den Umständen des Einzelfalls und der Dringlichkeit des Rechtsschutzbegehrens ab, wird also in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes knapper zu bemessen sein als im entsprechenden Hauptsacheverfahren. Verzögert sich die Entscheidung des Gerichts, weil der Gegner seine Stellungnahme nicht zeitgerecht abgibt (und/oder ggf die Akten nur verzögert vorlegt), wird durch diese von ihm zu vertretende Verzögerung der Zeitpunkt der Entscheidungsreife nicht weiter hinausgeschoben. Die wegen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs zur gewährende Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 118 Abs 1 Satz 1 ZPO) setzt keine tatsächlich erfolgte Äußerung voraus. Eine vom Gegner wegen verspäteter Reaktion eingetretene Verzögerung führt nicht zu einem späteren Eintritt der Entscheidungsreife, da sein Verhalten auf die Gewährung von PKH keinen Einfluss hat. Zwischenzeitlich eintretende Ereignisse, wie zB die Erledigung der Hauptsache, können in einem derartigen Fall, in dem der Gegner die Ursache für die Verzögerung gesetzt hat, daher nicht zu Lasten des PKH-Antragstellers Berücksichtigung finden (vgl zum Ganzen der teilweise wörtlich wiedergegebene Beschluss des Bayerischen LSG vom 19. März 2009 – L 7 AS 64/09 B PKH, juris RdNr 14ff mwN).

Geht es hingegen um die Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem die PKH bewilligt wird, bleibt die nicht vom PKH-Antragsteller beeinflussbare Zeit, bis die notwendigen Ermittlungen abgeschlossen sind und der Gegner gehört wurde, außer Betracht (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08. Oktober 2008 – L 19 B 11/08 AL, juris RdNr 17 und Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Juni 2010 – OVG 10 M 8.10, juris RdNr 9f mwN).

Im vorliegenden Fall ist der für die Beurteilung der Erfolgsaussicht maßgebende Zeitpunkt der Entscheidungsreife am 18. Januar 2008 mit der hier zwei Tage nach Eingang des einstweiligen Rechtsschutzantrags beim SG und damit jedenfalls in angemessener Frist eingegangenen Stellungnahme der Antragsgegnerin (Schriftsatz vom selben Tag (Bl 75 GA)) eingetreten. Zeitgleich konnte von einer Zulässigkeit des Eilantrags nicht mehr ausgegangen werden. Denn mit der Stellungnahme hatte die Antragsgegnerin mitgeteilt, dass "die sofortige Vollziehbarkeit des Widerspruchs vom 27.09.2007 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahren ausgesetzt worden" sei. Zwar setzt eine solche Aussetzungsentscheidung nach § 86a Abs 3 Satz 1 SGG voraus, dass dem Widerspruch – anders als im vorliegenden Fall – gemäß § 86a Abs 2 SGG gerade keine aufschiebende Wirkung zukommt. Dennoch hat die Antragsgegnerin im Ergebnis mit dieser Erklärung und der damit verbundenen so genannten "Ruhendstellung" der Forderung dem einstweiligen Rechtsschutzbegehren des Antragstellers Rechnung getragen, nämlich von weiteren Vollziehungsmaßnahmen - wie etwa der Aufforderung zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung - verschont zu bleiben. Andere Folgen hätte nämlich auch nicht die "richtige" Erklärung gehabt, von nun an die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs zu beachten. In dieser Situation bedurfte es der beantragten (ohnehin nur deklaratorisch wirkenden) gerichtlichen Anordnung nicht mehr, so dass dem Antragsteller von nun an das (allgemeine) Rechtsschutzbedürfnis für den gestellten Antrag fehlte (vgl Keller, aaO, RdNr 16 zu Vor § 51 mwN).

Ob dem Antragsteller – so die Auffassung des SG und der Antragsgegnerin, die insoweit ua darauf abgestellt haben, der Antragsteller habe ohne Weiteres durch eine entsprechende Mitteilung gegenüber der Antragsgegnerin die Möglichkeit gehabt, die "Ruhendstellung" der Forderung zu erreichen – bereits zum Zeitpunkt der Stellung des Eilantrags das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen war, kann nach dem bisher Gesagten mangels Entscheidungserheblichkeit für die Frage, ob PKH zu bewilligen war, offen bleiben. Von Bedeutung ist die Beurteilung dieser Frage für die Kostenentscheidung. Denn unterstellt, das Rechtsschutzbedürfnis hätte zum Zeitpunkt der Stellung des Eilantrags noch bestanden, wäre es nahe liegend gewesen, der Antragsgegnerin jedenfalls zum Teil die außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen. Derartige Überlegungen haben aber keine Auswirkungen auf die Bewilligung der PKH, denn diese ist kein Korrektiv für rechtlich unzutreffende, aber nicht beschwerdefähige Kostengrundentscheidungen des SG (vgl Bayrisches LSG, aaO, RdNr 22).

Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich. Gerichtskosten werden nicht erhoben und außergerichtliche Kosten werden nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs 4 ZPO nicht erstattet.

Der Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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