L 10 AS 1023/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 94 AS 14092/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 1023/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Mai 2010 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einst¬weiliger An¬ordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig ab dem Tage des Zugangs dieses Beschlusses als Telefax bei der Antragsgegnerin bis zum 31. Oktober 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (einschlie߬lich der Leistungen für Unterkunft und Heizung) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch im Umfang von insgesamt 876,42 Euro monatlich (Antragsteller zu 1) und Antragstellerin zu 2) jeweils 307,72 Euro, Antragstellerin zu 3) 142,60 Euro und Antragstellerin zu 4) 118,38 Euro) zu zahlen. Für den Monat September 2010 hat die Zahlung anteilig zu erfolgen. Die weiter gehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Den Antragstellern wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M K bewilligt; Monatsraten oder Beiträge aus dem Vermögen sind nicht zu zahlen. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die Kosten des einstweiligen Rechts¬schutz¬¬verfahrens zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

Den Eilanträgen der aus Bulgarien stammenden, sich nach Aktenlage seit Januar 2008 erlaubt in Deutschland aufhaltenden Antragsteller war in Anwendung des § 86b Abs 2 Sozialgerichts¬gesetz (SGG) allein deshalb in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben, weil der Senat die Sach- und Rechtslage im einstweiligen Verfahren nicht vollständig durchdringen kann und eine Folgenabwägung (Leistung/Nicht¬leistung) zu ihren Gunsten zu treffen ist. Die folgende Begründung ist an den Maßstäben ausgerichtet, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluss vom 12. Mai 2005 (1 BvR 569/05 - 3. Kammer des Ersten Senats – info also 2005, 166) entwickelt hat.

Nach § 86b Abs 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zu¬standes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung ((vorläufige und möglicherweise teilweise) Zuerkennung/aktuelle Versagung des Anspruchs) als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ge¬stützt werden, wobei Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausge¬staltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Haupt¬sache orientiert werden, ist das er¬kennen¬de Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechts¬lage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren die Bedeutung des Hauptsache¬ver¬fahrens übernimmt und eine end¬gültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Be¬teilig¬ten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeits¬suchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Haupt¬sache¬ver¬fahrens bei (teilweise) ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine voll¬ständige Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgen¬abwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetz¬licher Gewähr¬leistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeit¬wei¬lig andauert. Die Sicherung des Existenz¬minimums (verwirklicht durch Leistungen der Grund¬sicherung für Arbeits¬lose) ist eine grund¬gesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne, da die Sicherung eines menschen¬würdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates ist, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip folgt.

Davon ausgehend war der Senat gehalten, den Antragstellern für die Zukunft ergänzende Leis¬tun¬gen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit einem Abschlag (vgl auch dazu BVerfG aaO) bzgl der jeweiligen Regelleistung sowie die (vollständigen) Kosten der Unterkunft und Heizung vorläufig zu¬zusprechen. Dies beruht darauf, dass derzeit mit der Gewissheit, die für eine Entscheidung in der Hauptsache notwendig ist, nicht entschieden werden kann, dass für den Antragsteller zu 1) – zu den (von ihm abgeleiteten) Rechten der Antragssteller zu 2) bis 4) siehe unten – der Ausschlussgrund des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) greift. Bei dieser Sachlage ist die Folgenabwägung vorzunehmen, die zu dem aus dem Tenor ersichtlichen Ergebnis führt.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 SGB II erhalten Personen, die

1. das fünfzehnte Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben

(erwerbsfähige Hilfebedürftige – § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II). Dass der Antragsteller zu 1) die Alters¬vorgaben erfüllt, liegt auf der Hand. Er hat ferner glaubhaft gemacht, dass er sich – gemein¬sam mit den Antragstellern zu 2) bis 4) seit Januar 2008 gewöhnlich in Deutschland aufhält. Dies zeigt das Mietverhältnis und zum Aufenthalt seit diesem Zeitpunkt ist nachvoll¬ziehbar vor¬getragen.

Die Antragsteller haben ferner glaubhaft gemacht, dass sie hilfebedürftig sind. Es gibt keine An¬¬haltspunkte dafür, dass sie aktuell über Vermögen oder – abgesehen von staatlichen Leistun¬gen wie dem Kindergeld – weitere Einkünfte als die des Antragstellers zu 1) aus seiner Sam¬mel¬tätigkeit verfügen; diese reichen ausgehend von den glaubhaften Angaben des Antrag¬stellers zu 1) im Er¬örterungstermin nicht aus, um den Bedarf der Familie zu decken.

Der Antragsteller zu 1) ist auch erwerbsfähig iS von § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2 iVm § 8 SGB II. Er ist nicht aus gesundheitlichen Gründen in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt (§ 8 Abs 1 SGB II) und er ist auch iS von § 8 Abs 2 SGB II ("rechtlich") erwerbsfähig, da er über eine Arbeits¬be¬rechti¬gung/EU verfügt, die ihm unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt der Bundes¬repub¬lik gewährt.

Einem Leistungsanspruch des Antragstellers zu 1) steht nicht mit hinreichender Gewissheit die Rege¬lung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II entgegen. Da¬nach sind vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen Ausländer (und ihre Familienangehörigen), deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Zwar ist der Ausschlussgrund ausgehend von den Bedingungen, unter denen sich der Antragsteller zu 1) in der Bundesrepublik aufhält, anwend¬bar und seine Voraussetzungen sind erfüllt. Es spricht jedoch einiges dafür, dass § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II mit dem Recht der EU nicht vereinbar ist und auf Unionsbürger wie den Antragsteller zu 1) zumindest nicht einschränkungslos anwendbar ist.

Gemäß § 2 Abs 2 Nr 1 2. Alt des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbür¬gern (FreizügG/EU) sind Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, die sich zur Arbeitssuche in der Bun¬desrepublik Deutschland aufhalten wollen. Dabei gewährt das FreizügG/EU sogar ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bei Arbeitsuche und verzichtet im Gegensatz zu Art 14 Abs 4 b Unionsbürger¬richtlinie (ABl der EU Nr L 158 vom 30. April 2004 S 77, berichtigt in ABl Nr L 229 vom 29. Juni 2004 S 35) auf die Anforderung der "begründeten Erfolgsaussicht" der Ar¬beitssuche. Ein Wegfall des Aufenthaltsrechts iS des § 2 Abs 2 Nr 1 2. Alt. FreizügG/EU kommt danach nur dann in Be¬tracht, wenn aufgrund objektiver Umstände davon auszugehen ist, dass der Unionsbürger in Wirk¬lichkeit keinerlei ernsthafte Absichten verfolgt, eine Be¬schäf¬tigung aufzunehmen (vgl Bayrischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16. Januar 2009 – 19 C 08.3271, juris RdNr 6 f mwN). Der Antragsteller zu 1) ist nach seinem glaub¬haften Vortrag um die Aufnahme einer Beschäftigung be¬müht und hat mit der Einholung der Arbeitsberechtigung/EU die entsprechende Voraussetzung ge¬schaffen.

Ihm steht auch kein die Anwendbarkeit des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ausschließendes Auf¬enthalts¬recht zu, da er weder aktuell als Arbeitnehmer beschäftigt oder als Selbständiger tätig ist, noch dies in der Vergangenheit zeitnah und in einem Umfang war, dass die Beschäftigung oder Tätigkeit noch ein Aufenthaltsrecht vermitteln könnte. Falls der Antragsteller zu 1) durch die ca 1 ½ Monate dauernde Beschäftigung bei der Fa E bis zum 20. Juli 2008 ein Auf¬ent¬halts¬recht als Arbeit¬nehmer erworben haben sollte (§ 2 Abs 2 Nr 1 1. Alt. FreizügG/EU, vgl zu den Anforderungen, die an die Erlangung des Arbeitnehmerstatus zu stellen sind, Senats¬be¬schluss vom 08. Juni 2009 – L 10 AS 617/09 B ER, juris RdNr 4 f mwN), kann dieses – da die Beschäftigung weniger als ein Jahr andauerte – höchstens für die Dauer von sechs Monaten fortbe¬standen haben (§ 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU) und ist damit jedenfalls Anfang 2009 erloschen. Für den Antragsteller zu 1) ergibt sich auch aus seiner selbständigen Tätigkeit als Schrottsammler- und händler ab September 2008 kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU. Falls der Antragsteller zu 1) auf¬grund dieser Tätigkeit niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger iS der Bestimmung gewesen sein sollte, hat er diesen Status mit Ende der Tätigkeit – insoweit hat er sich im Erörterungstermin glaubhaft dahingehend eingelassen, dass die Tätigkeit nicht über die Gewerbeabmeldung in Juni 2009 hinaus fortgesetzt worden ist – eingebüßt. Die Voraus¬setzungen für den Fortbestand eines damals möglicher¬weise begründet gewesenen Aufenthalts¬rechts nach § 2 Abs 3 Satz 1 FreizügG/EU haben nicht vor¬gelegen, da die Tätigkeit nicht ge¬sund¬heitsbedingt aufgegeben wurde (Satz 1 Nr 1) und vor ihrem Ende – auf das der Antrag¬steller zu 1) keinen Einfluss gehabt haben dürfte – nicht die Dauer von einem Jahr gehabt hatte (Satz 1 Nr 2). Der Fortdauertatbestand nach Abs 3 Satz 2 betrifft nur kurz¬fristige abhängige Be¬¬schäftigungen; er wäre auch bei einer Übertragung auf selbständige Tätigkei¬ten von seiner zeitlichen Reichweite – ein halbes Jahr – nicht ausreichend, für den Antragsteller zu 1) ein von der Arbeitssuche unabhängiges Aufenthaltsrecht zu begründen.

Aufgrund seiner aktuellen Tätigkeit als Pfandflaschensammler – was die Angaben dazu angeht, war der Antragsteller zu 1) nach seinem Aussageverhalten glaubwürdig und seine Bekundung auch in Ansehung der Plausibilität des geschilderten Sachverhaltes glaubhaft – vermag der Senat den Antragsteller zu 1) nicht als "niedergelassenen selbständig Erwerbstätigen" iSv § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU anzusehen. Dies liegt nicht im Umfang und in der wirtschaftlichen Bedeutung dieser Tätigkeit begründet, die zum Lebensunterhalt der Familie oder auch nur des Antragstellers zu 1) nicht ausreicht, denn insoweit dürften rechtlich – wie bei abhängiger Be¬schäftigung (dazu aus¬führlich Senatsbeschluss vom 08. Juli 2009 aaO, juris RdNr 4) – nur relativ geringe Ansprüche zu stellen sein (von der Gleichbehandlung abhängiger Beschäf¬ti¬gung und selbständiger Tätigkeit insoweit ausgehend: Oberverwaltungsgericht (OVG) der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 21. Juni 2010 – 1 B 137/10, juris RdNr 11, vgl auch Senatsbeschluss vom 13. Juli 2010 – L 10 AS 1091/10 B ER, juris). Der Antrag¬steller zu 1) übt aber nach dem derzeitigen Erkenntnisstand eine reine Sammeltätigkeit aus, die als solche bereits begrifflich keine selbständige Erwerbstätigkeit iS von § 2 Abs 2 Nr 2 Frei¬zügG/EU bzw der gemeinschaftsrechtlichen Nieder¬lassungsfreiheit (Art 49 (vormals Art 43) des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung der Verträge über die Europäische Union und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Amtsbl Nr C 83 v 30. März 2010 (EGV)) ist. Insoweit ist es erforderlich, dass mit der Tätigkeit ein Erwerbszweck in der Weise verfolgt wird, dass die Tätigkeit entgeltlich erbracht wird und eine Teilnahme am Wirt¬schaftsleben darstellt (OVG der Freien Hanse¬stadt Bremen aaO, RdNr 7 – dort bejaht für Reini¬gungstätigkeit). Mit diesem eine Teilhabe am Wirtschaftsleben begrün¬denden Tun muss wirtschaft¬licher Güteraustausch angestrebt werden, der auch ideelle Güter oder Dienstleistungen betreffen kann (Hessisches Landessozialgericht (LSG), Beschluss vom 14. Oktober 2009 – L 7 AS 166/09 B ER, juris, RdNr 24 – abgelehnt für den Verkauf von Obdachlosenzeitungen); für die Belange des Steuerrechts ist insoweit for¬muliert, dass sich der Tätigwerdende mit seiner Ver¬kaufsabsicht an den allgemeinen Markt wenden muss, in der Weise, dass er eigene Leis¬tun¬gen gegen Entgelt an den Markt bringt, wobei es sich bei seinem Tätigwerden um eine Tätig¬keit handeln muss, die unmittelbar dem Leistungsaus¬tausch dient (Bundesfinanzhof, Urteil vom 06. Juni 1973 – I R 203/71, juris RdNr 13 – abgelehnt für das Einsammeln von Coca-Cola-Flaschen in einem Kino). Die Tätigkeit des Antragstellers zu 1) ist nicht auf die Erbrin¬gung von Dienstleistungen gegenüber Dritten auf vertraglicher Basis gerich¬tet. Er bietet nicht auf eigenes Risiko seine Arbeitskraft bzw eine auf dieser basierende Dienst¬leistung gegenüber beliebigen Dritten zu auszuhandelnden Bedingun¬gen an, sondern setzt seine Arbeitskraft unter Ausnutzung der Regelungen und Marktbedingun¬gen des Getränkepfandes ein. Soweit bei der Pfandrückgabe Ansprüche entstehen und Umsätze getätigt werden, sind diese nicht Frucht der Teilnahme des Antragstellers zu 1) am Wirtschafts¬ver¬kehr. Der Antragsteller zu 1) bedient sich vielmehr nur einer durch das Pfandsystem garan¬tierten Einnahmemöglichkeit, wobei ein auf An¬eignung, nicht aber ein auf Gewinnerzielung durch Güteraustausch gerichtetes Tun zu Grunde liegt.

Da das Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1) damit "nur" auf § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU be¬ruht – er hält sich zum Zwecke der Arbeitssuche in Berlin auf – trifft die Ausschlussnorm des § 7 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II tatbestandlich auf ihn zu. Dennoch ist hier eine Folgenabwägung bezüg¬lich der Leistungsgewährung vorzunehmen, denn die Wirksamkeit des Ausschlusses steht nicht mit hinreichender Sicherheit fest. Zur Frage, ob die in § 7 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II getroffene Rege¬lung Bestand hat oder mit dem Recht der Europäischen Union – konkret der Arbeitnehmerfreizügig¬keit – unvereinbar ist, hat der Senat in einem tragend aus anderen Erwägungen entschiedenen Ver¬fahren (Urteil vom 11. November 2009 – L 10 AS 1801/09, juris; Revision anhängig Bundessozialgericht (BSG) B 14 AS 23/10 R) Folgendes ausgeführt:

"Ob der in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II durch Bundesgesetz bestimmte Ausschluss¬tatbestand vollen Bestand hat oder ob er als (ggf teilweise) nicht europarechtskonform Grundsicherungs¬leistungen ganz oder teilweise nicht auszuschließen vermag, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum unterschiedlich beurteilt (zum Meinungsstand: Hailbronner, ZFSH/SGB 2009, 195, 199ff). Eine klare Positionierung, ähnlich der hier vom SG vertretenen Auffassung, findet sich etwa im Beschluss des Landessozial¬gerichts (LSG) Berlin-Branden¬burg vom 08. Juni 2009 – L 34 AS 790/09 B ER (juris RdNr 5ff). Danach setzt der Ausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II, soweit er "solche Leistungen betrifft, die nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt er¬leichtern, sondern den Lebens¬¬unterhalt sichern sollen" (was für die Leistung nach § 20 Abs 1 SGB II im Gegensatz zu den Leistungen nach dem 3. Kap 1. Abschnitt des SGB II der Fall sei), national die nach Art 24 Abs 2 Unionsbürgerrichtlinie aus¬drücklich er¬laubten Begrenzungen um. Art 24 Abs 2 Unionsbürger¬richtlinie verstoße nicht gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht. Art 39 Abs 2 EGV (= Art 45 EGV aktuellerFassung) sei nicht verletzt, solange keine Be¬schränkung von Leistungen, die den Zu¬gang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, vorge¬nommen werde, zudem könne es an einer hinreichenden Verbindung zum Arbeitsmarkt des Aufenthaltsstaates fehlen. Art 12 EGV begünstige nur EU-Bürger mit einer Aufenthalts¬erlaubnis oder einem Dauer¬auf¬enthaltsrecht iS von § 2 Abs 2 Nr 7 FreizügG/EU. Diese Rechtsprechung sieht sich mit dem Urteil des EuGH vom 04. Juni 2009 (aaO ( Europäischer Gerichtshof – EuG –, Urteil vom 04. Juni 2009, verbundene Rechtssachen C–22/08 und C–23/08, Vatsouras und Koupatantze./. Arbeitsgemeinschaft – ARGE – Nürnberg 900, juris)) in Einklang, soweit dort ausgeführt wird, der Ausschluss des "Anspruchs auf Sozialhilfe" (Art 24 Abs 2 Unionsbürger¬richtlinie) verstoße nicht gegen europäisches Primärrecht. Die so zu umreißende Auffassung ist nur dann tragfähig, wenn die zumeist nicht ausdrücklich problematisierte Voraussetzung zutrifft, dass der Leistungskatalog des SGB II in solche Leistungen, die als Sozialhilfe zu betrachten sind, und andere (solche, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen) aufgespalten und in der Folge bzgl der Frage eines europarechtlich wirksamen Ausschlusses unterschiedlich beurteilt werden kann. Eben dies wird bestritten (LSG Berlin-Branden¬burg, Beschluss vom 25. April 2007 – L 19 B 116/07 AS ER, juris RdNr 27; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, RdNr 18 zu § 7), wobei (ebenfalls) eine die postulierte Zielvorstellung tragende Argu¬mentation fehlt. Der EuGH (vgl aaO zu 43.), dem die Auslegung nationalen Rechts auch nicht obliegt, hat nur aufgezeigt, dass es als Hinweis darauf angesehen werden könne, dass die Leistungen der Grundsicherung für Arbeit¬suchende Leistungen seien, den Zugang zur Beschäf¬tigung erleichtern sollen, wenn vorgesehen ist, dass der Berechtigte erwerbs¬fähig sein müsse".

Der danach naheliegende Befund, dass die zwingende, methodisch unanfechtbare Herleitung eines bestimmten Ergebnisses zur Wirksamkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II für arbeitssuchende EU-Staats¬bürger kaum möglich ist, findet Bestätigung darin, dass eine nur noch schwer zu übersehende Fülle von Entscheidungen der Landes¬sozialgerichte in Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes und Äußerungen im Schrifttum vorliegen, in denen die Frage mit uneinheitlichen Begründungen teils bejaht wird (etwa LSG Berlin-Bran¬den¬burg, Beschluss vom 23. Dezember 2009 – L 34 AS 1350/09 B ER, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. Sep¬tember 2009 – L 15 AS 905/09 B ER und Hessisches LSG, Be¬schluss vom 14. Oktober 2009 – L 7 AS 166/09 B ER) vielfach aber auch mit der Konsequenz einer (dann zumeist positiv getroffenen Folgenabwägung) nachdrücklich bezweifelt wird (etwa LSG NRW, Beschluss vom 17. Februar 2010 – L 19 B 392/09 AS ER und Beschluss vom 26. Februar 2010 – L 6 B 154/09 AS ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Januar 2010 – L 25 AS 1831/09 B ER, LSG Bayern, Beschluss vom 04. Mai 2009 – L 16 AS 130/09 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. August 2010 – L 7 AS 3769/10 ER-B; aus dem Schrifttum: Valgolio in Hauck/Noftz, § 7 SGB II, RdNr 30; Spellbrink in Eicher/Spell¬brink, SGB II, § 7 RdNr 17).

In Anbetracht dieser Situation erachtet es der Senat (ohne aufzugeben, dass dieser Entschei¬dungs¬¬modus für Eilverfahren regelmäßig durch tatsächliche Unwägbarkeiten ausgelöst wird, während Rechtsfragen zu entscheiden sind) als angemessen, eine Entscheidung aufgrund einer Folgenab¬wägung zu treffen. Denn wenn eine vereinheitlichende höchstrichterliche Entschei¬dung aus¬steht und die ausge¬tauschten Argumente die entscheidende Fragestellung im Ergebnis nur als offen kenn¬zeichnen, besteht letztlich die vom BVerfG als maßgeblich erachtete "mög¬liche Rechtsver¬letzung", wenn auch im Hinblick darauf, dass keine Rechtsklarheit herrscht. Eine Regelung auf¬grund einer Folgenabwägung trägt der hier festzustellenden "Pattsituation der Auffassungen" insbesondere deshalb sachgerecht Rechnung, weil sie zuständigkeits¬be¬dingten Zufälligkeiten entgegenwirkt und weil von weiteren Einzelfallentscheidungen Aus¬wirkungen auf Verwal¬tungspraxis oder den Dis¬kussions¬stand in Rechtsprechung und Schrift¬tum nicht mehr zu erwarten sind.

Damit hängt es von der Folgenabwägung ab, ob Leistungen vorläufig zuzusprechen sind. Diese ist für den Antragsteller zu 1) und die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Antragsteller zu 2) bis 4) – dazu § 7 Abs 3 Nr 4 und 4 SGB II – vorzunehmen, die nach § 3 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 Nr 1 Frei¬zügG/EU als Ehegattin – Antragstellerin zu 2) – bzw als Töchter – Antrag¬stellerinnen zu 3) und 4) – am aufenthaltsrechtlichen Status des Antragstellers zu 1) teilhaben, so dass es für die Antragstellerin zu 2) keiner Prüfung bedarf, ob sie für ihre Person auch arbeitssuchend ist.

Die Folgenabwägung ist hier zugunsten der Antragsteller zu treffen, denen zurzeit kein hin¬reichen¬des eigenes Einkommen oder Vermögen zur Verfügung steht, um elementare Be¬dürf¬nisse zu befriedi¬gen. Einer möglichen Rechtsverletzung der Antragsteller (gegeben für den Fall, dass ihnen ein Leistungsanspruch zusteht) stehen, abgesehen vom Ausfall¬risiko im Rück¬forderungs¬falle, keine dar¬stellbaren Interessen der Antragsgegnerin gegenüber. Allein der fiskalische Gesichts¬punkt überwiegt die grundrechtlich gestützte Position der Antragsteller nicht. Der Senat kann dabei offen lassen, in welchen Fallgruppen und mit welchem Gewicht er ggf die Rückkehrmöglichkeit ins Heimatland in die Folgenabwägung einbezieht. Hier drängen sich derartige Erwägungen auch im Hinblick auf die nicht ungünstig zu beurteilenden Erfolgs¬aussichten des Hauptsacheverfahrens nicht auf, da eine vorläufige Rückkehr der Antragsteller nach Bulgarienim Hinblick auf die kontinuier¬lichen Be¬mühungen des Antragstellers zu 1) um die Sicherung des Lebensunterhaltes, die Dauer des Aufent¬halts, den Schul¬besuch der Antrag¬stellerinnen zu 3) und 4) und die Struktur der Bedarfsge¬mein¬schaft nicht zumutbar er¬scheint.

Der Senat hält es für den einstweiligen Rechtsschutz für sachgerecht und ausreichend, den Antrag¬stellern – neben den auf Bedarfsseite hier unstreitig mit 500,00 Euro (= aktuelle Brutto¬warmmiete) anzusetzenden angemessenen Leistungen für Unterkunft und Heizung – die Regel¬leistungsbeträge (für die gemäß § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II die Bundesagentur für Ar¬beit zu¬stän¬dig ist) mit einem Abschlag von 85% zuzusprechen. Er erkennt in vergleichbaren Eilver¬fahren die Regelleistung regelmäßig nur den Hilfebedürftigen in voller Höhe zu, die nach dem vorliegenden Erkenntnisstand im Hauptsacheverfahren voraussichtlich Erfolg haben werden. Erscheint hingegen ein Obsiegen des jeweiligen Antragstellers im Hauptsachever¬fahren als un¬wahrscheinlich, be¬schränkt der Senat den Ausspruch in der Regel auf die unabdingbar notwen¬digen Leistungen, wobei er den Maßstab aus § 31 Abs 1 und 3 Satz 6 SGB II entnimmt, wo¬nach das Arbeitslosengeld II unter bestimmten Voraussetzungen in einer ersten Stufe um 30% gekürzt wird bzw bei einer Kürzung der Regelleistung um mehr als 30% ergän¬zende Sach¬leistungen zu erwägen sind (vgl Senatsbeschluss vom 04. Juli 2007 – L 10 B 855/07 AS ER). Ist die Beurteilung der Sache indes – wie hier – offen, erachtet es der Senat demgemäß als sach¬gerecht, zwischen dem maximalen Abschlag von 30% und der vollen Regelleistung zu mitteln und auf 85% der Regelleistung zu erkennen (vgl Senatsbe¬schluss vom 19. August 2008 – L 10 B 1481/08 AS ER).

Von der auf jeden Antragsteller entfallenden Regelleistung war zunächst das in der Bedarfsgemeinschaft zu verteilenden Einkommen des Antragstellers zu 1) in Höhe von 300,00 Euro aus Pfanderlösen ohne Einräumung von Freibeträgen abzusetzen. Dies erscheint sachge¬recht, da die vom Antragsteller zu 1) nur geschätzten Einnahmen akzeptiert werden und zudem die Grundlagen der Freibetragsregelungen (Anreizfunktion im Erwerbszusammenhang, Pau¬scha¬lierung allgemein vorhandener Versicherungen) angesichts des Lebenssachverhalts keine Rolle spielen dürften. Weiter war bei den Antragstellerinnen zu 3) und 4) deren Kindergeld abzusetzen. Von den so berechneten Beträgen war der Abschlag von 15% vorzunehmen. Hinzu kommt jeweils ein anteiliger (nach dem Kopfteilsprinzip) Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung von jeweils 125,00 Euro.

Soweit die Beschwerde mehr als die zugesprochenen Leistungen zum Gegenstand hatte, war sie zurückzuweisen. Die zugesprochenen Leistungen sind ab dem Zeitpunkt des Zugangs dieses Beschlusses als Telefax bei der Antragsgegnerin – für September 2010 also anteilig – zu gewähren, da nur für die Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfs die be¬son¬dere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung gegeben ist; für die Vorzeit bleibt die Be¬schwe¬rde daher erfolglos. Der Senat begrenzt die Verpflichtung im Hinblick auf den Zeit¬¬punkt, bis zu dem das Revisions¬ver¬fahren BSG – B 14 AS 23/10 R entschieden sein dürfte (voraussichtlicher Termin 19. Oktober 2010) bis zum 31. Okto¬ber 2010. Falls das BSG in dem genannten Verfahren eine Entscheidung zur Wirk¬samkeit von § 7 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II trifft, kann diese für den Folgemonat umgesetzt werden, andernfalls hätte die Antragsgegnerin die Fortschreibung der hier getroffenen Regelung zu erwägen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Da der Rechtsverfolgung vor dem Sozialgericht Berlin eine Erfolgsaussicht nach dem vorhergehenden Ausführungen nicht abgesprochen werden kann, war der Beschwerde auch im Hinblick auf die Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe stattzugeben.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht (BSG) anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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