L 5 KR 101/10

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Trier (RPF)
Aktenzeichen
S 1 KR 21/09
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 KR 101/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Krankenkassen sind nicht verpflichtet, ihren Versicherten ungefragt konkrete vorrangige Behandlungsmöglichkeiten zu benennen.
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 25.3.2010 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist ein Anspruch auf Erstattung der Kosten einer Magenbypassoperation in Höhe von 5.378,16 EUR abzüglich gesetzlicher Zuzahlungen.

Bei der 1986 geborenen Klägerin, Studentin der Agrarwissenschaften in H , hatte von Jugend an eine erhebliche Adipositas bestanden. In einem Attest vom April 2008 hatte ihr Hausarzt, der Arzt für Allgemeinmedizin Dr S , wegen ihres Übergewichts (damals Gewicht 115 kg bei einer Größe von 171 cm) eine Ernährungsberatung für unbedingt angezeigt gehalten. Unter dem 22.4.2008 hatte die Beklagte der Klägerin mitgeteilt, eine Ernährungsberatung sei angezeigt; zur Durchführung entsprechender Maßnahmen kämen Fachkräfte mit einer staatlich anerkannten Ausbildung im Bereich der Ernährung in Frage; die Klägerin möge einen Kostenvorschlag eines dieser Leistungserbringer einreichen.

Im Juni 2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Magenbypassoperation. In einem Attest vom gleichen Monat führte Dr S an: Eine durchgeführte ambulante Ernährungsberatung sei vollkommen fehlgeschlagen. Auch sonstige Diät- und Therapieversuche seien bei der Klägerin ohne Erfolg geblieben. Daher befürworte er einen chirurgischen Eingriff in Form zB einer Magenbypassoperation. Die Klägerin legte der Beklagten ferner ein für sie erstattetes Gutachten des Prof Dr H (Klinik für Allgemein- und Visceralchirurgie des Krankenhauses B ) vom August 2008 vor, der ua festhielt: Seit ihrer Pubertät versuche die Klägerin mit umfangreichen häuslichen Diäten, auch mit kommerziell erhältlichen Diäten und Formula-Diäten, ihr Übergewicht zu reduzieren. Sie habe sich einer Ernährungsumstellung unterzogen und Diät- und Ernährungsberatungskurse besucht. Sportprogramme fielen ihr wegen ihres Übergewichtes zunehmend schwerer. Sie habe auch an Gruppenprogrammen teilgenommen und sei gemeinsam mit ihrer übergewichtigen Mutter Mitglied der Weight Watchers geworden, habe Esstagebücher geführt und Kalorien gezählt. Immer wieder seien lediglich kurzfristige Gewichtsreduktionen möglich gewesen. Bei der Klägerin bestehe zwar noch kein nachweisbares metabolisches Syndrom; bei weiterbestehendem Übergewicht werde ein solches jedoch in Zukunft fraglos entstehen. Bereits jetzt klage die Klägerin über Dyspnoe und Belastungsinsuffizienz sowie zunehmende orthopädische Probleme bei Belastung (Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden, Kniegelenksbeschwerden). Weiterhin bestehe eine ausgeprägte psychosoziale Problematik; der Klägerin fehle die Selbstakzeptanz, sie meide öffentliche Veranstaltungen und beschreibe eine deutliche Einschränkung ihrer Lebensqualität.

Die Ärztin im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Dr M erstattete im September 2008 ein Gutachten nach Aktenlage: Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Magenbypassoperation im Sinne einer Ultima ratio seien nicht erfült. Eine qualifizierte konservative Therapie mit stringentem Basisprogramm finde nicht statt. Durch Bescheid vom 24.9.2008 lehnte die Beklagte darauf gestützt die gewünschte Maßnahme ab und übersandte der Klägerin eine Abschrift des MDK-Gutachtens. Zur Begründung ihres Widerspruchs legte die Klägerin eine weitere Stellungnahme des Dr S vom Oktober 2008 vor. Die Magenbypassoperation wurde vom 18. bis 24.12.2008 im Klinikum F durchgeführt. In einer Wahlleistungsvereinbarung vom 17.12.2008, die zwischen ihr und dem Klinikum F abgeschlossen worden war, heißt es ua, die Klägerin leiste auf die Krankenhauskosten eine Abschlagszahlung von 5.378,16 EUR; nach Angaben der Klägerin hat diese Wahlleistungsvereinbarung gleichzeitig als Rechnung gedient. Durch Widerspruchsbescheid vom 20.1.2009 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 24.9.2008 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 19.2.2009 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie ein Attest des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr G vom November 2008 vorgelegt, wonach die Klägerin einen emotional gefestigten Eindruck mache und aus psychiatrischem Blickwinkel nichts gegen die Magenbypassoperation einzuwenden sei. Ferner hat die Klägerin dem SG ein ausführliches Attest des Dr S (Klinikum F ) vom März 2009 vorgelegt. Die Beklagte hat eine Stellungnahme der Ärztin im MDK Dr K vorgelegt, die ausgeführt hat, die nachgereichten medizinischen Unterlagen genügten nicht, um im Nachhinein die Indikation zur Magenbypassoperation zu begründen.

Durch Urteil vom 25.3.2010 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin die Kosten der Magenbypassoperation in Höhe von 5.378,16 EUR abzüglich gesetzlicher Zuzahlungen zu erstatten, und zur Begründung ausgeführt: Der Klägerin habe einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Magenbypassoperation nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alternative Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die Beklagte habe die Gewährung der Operation als Sachleistung zu Unrecht abgelehnt. Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien zuvor erschöpft gewesen. Die Klägerin könne nicht auf die vorherige Durchführung einer konservativen Therapie unter ärztlicher Anleitung in der Dauer von einem halben bis einem Jahr verwiesen werden. Die Beklagte habe der Klägerin nämlich eine solche Leistung nicht angeboten. Darüber hinaus habe die Kammer wegen Erfahrungen aus anderen Streitverfahren Zweifel, dass solche Maßnahmen orts- und zeitnah möglich seien und deren Kosten von "den gesetzlichen Krankenkassen" übernommen würden. Versicherten sei es grundsätzlich unzumutbar, Wegstrecken von 100 km oder mehr teilweise mehrfach in der Woche auf sich zu nehmen, um an einer solchen Maßnahme teilnehmen zu können. Nach § 1 Satz 3 SGB V hätten die Krankenkassen den Versicherten durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken. Gerade in Fällen der vorliegenden Art sei es Aufgabe der Krankenkasse, bei einem entsprechenden Behandlungsbedarf tätig zu werden. Dieser Verpflichtung sei die Beklagte vorliegend nicht nachgekommen. Der persönliche Eindruck der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zeige, dass die Operation erfolgreich gewesen sei.

Gegen dieses ihr am 30.4.2010 zugestellte Urteil richtet sich die am 10.5.2010 eingelegte Berufung der Beklagten, die vorträgt: Vor der Magenbypassoperation seien die konservativen Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft gewesen. Bei der Frage, ob die Operation als Ultima ratio erforderlich gewesen sei, komme es nicht darauf an, ob sie, die Beklagte, der Klägerin rechtzeitig Alternativen zur Gewichtsreduktion aufgezeigt habe.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Trier vom 25.3.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise die Revision zuzulassen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz SGG zulässige Berufung ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Magenbypassoperation; das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ersatz der Kosten der Magenbypassoperation nach § 13 SGB V. Vorliegend kommt lediglich ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alternative SGB V in Betracht. Dieser scheidet aber aus, weil die Beklagte die Gewährung der Magenbypassoperation als Sachleistung nicht zu Unrecht abgelehnt hatte.

Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Starkes Übergewicht (im Allgemeinen ab einem BMI von größer/gleich 30) stellt eine Krankheit dar. Dabei kann dahinstehen, ob bereits der Adipositas als solcher Krankheitswert zukommt. Jedenfalls besteht bei einem derart ausgeprägten Übergewicht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Begleit- und Folgeerscheinungen, das eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich macht (Bundessozialgericht BSG , 19.2.2003, B 1 KR 1/ 02 R, SozR 4 2500 § 17c Nr 1; auch zum Folgenden). Eine Magenbypassoperation stellt jedoch eine mittelbare Krankenbehandlung durch die chirurgische Operation eines funktionell intakten Organs dar, bei der eine anderweitige krankhafte Funktionsstörung behandelt wird. Eine solche mittelbare Krankenbehandlung bedarf einer speziellen Rechtfertigung. Eine solche Behandlung ist nur dann ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich (§ 2 Abs 1 Satz 3, § 12 Abs 1 SGB V), wenn sie nach Art und Schwere der Erkrankung, Dringlichkeit der Interventionsrisiken sowie nach Abwägung der Risiken und des zu erwartenden Nutzens der Therapie sowie etwaiger Folgekosten für die Krankenversicherung gerechtfertigt ist. Nach diesen Maßstäben ist eine chirurgische Behandlung der Adipositas nur gerechtfertigt, wenn sie die Ultima ratio ist, dh alle anderen unmittelbaren Therapiemöglichkeiten erfolglos ausgeschöpft wurden oder nicht in Betracht kommen. Nach der Evidenzbasierten Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas", Version 2007 (Hrsg: Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes-Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin) sollte eine chirurgische Therapie der Adipositas nur erfolgen, wenn zuvor eine wenigstens sechs- bis 12monatige konservative Behandlung nach definierten Qualitätskriterien stattgefunden hat. Nach der genannten Leitlinie erfordert eine qualifizierte Adipositasbehandlung ua obligatorisch die Beteiligung eines Arztes mit ernährungsmedizinischer Qualifikation und einer Ernährungsfachkraft, eine medizinische Eingangsuntersuchung und Betreuung, eine strukturierte Schulung in Gruppen, ein integriertes Therapiekonzept aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie sowie eine systematische Datendokumentation. Die zahlreichen von der Klägerin bisher durchgeführten Maßnahmen entsprechen nicht diesen Anforderungen an ein qualifiziertes Therapieprogramm. Die Voraussetzungen für eine mittelbare chirurgische Behandlung der Adipositas durch eine Magenbypassoperation waren daher im Zeitpunkt der Durchführung der Operation im Dezember 2008 nicht erfüllt.

Der Auffassung des SG, vor der Durchführung der Operation im Dezember 2008 habe die Klägerin dennoch einen Sachleistungsanspruch auf die Magenbypassoperation gehabt, weil die Beklagte der Klägerin eine den vorstehenden qualifizierten Anforderungen entsprechende unmittelbare Krankenbehandlung nicht angeboten habe, vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Es spricht vieles dafür, dass ein Anspruch auf Erstattung der Kosten einer solchen Operation generell nicht davon abhängt, ob der Träger der Krankenversicherung den Versicherten vor der Operation über die notwendigen Maßnahmen im Einzelnen aufgeklärt hatte. Darauf kommt es aber für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht entscheidend an. Denn die Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 24.9.2008 die Klägerin auf das Gutachten des MDK vom September 2008 verwiesen, in dem auf die vorrangigen unmittelbaren Behandlungsmöglichkeiten hingewiesen worden war. Danach oblag es der Klägerin, sich um entsprechende Behandlungsmöglichkeiten zu bemühen.

Soweit das SG Zweifel daran geäußert hat, ob für die Klägerin Möglichkeiten einer qualifizierten unmittelbaren Behandlung der Adipositas zur Verfügung standen, hat es hierzu keine konkreten Feststellungen getroffen. Weiterer Ermittlungen hierzu durch den Senat bedarf es nicht, weil es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass es der Klägerin nicht möglich war, an einem qualifizierten Behandlungsprogramm teilzunehmen, zumal es nahe liegt, dass ihr dies jedenfalls in der Nähe ihres Studienortes Hohenheim möglich war. Unabhängig davon hängt ein Anspruch gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung generell nicht von der individuellen Wohngegend des Versicherten ab. Die mit der Wahl des Wohnorts verbundenen Nachteile können nicht auf den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung abgewälzt werden. Zudem kann bei der gebotenen Abwägung, ob die Magenbypassoperation im Sinne der Ultima ratio notwendig ist, der mit einer längeren Fahrdauer bei einer ambulanten Maßnahme verbundene Zeitaufwand keinesfalls das Eingehen eines Operationsrisikos rechtfertigen.

Ob die Klägerin auch deshalb keinen Kostenerstattungsanspruch hat, weil sie lediglich die mit dem Klinikum F geschlossene Wahlleistungsvereinbarung, aber keine Rechnung vorgelegt hat, bedarf keiner Entscheidung, weil die Klage aus den dargelegten Gründen ohnehin keinen Erfolg hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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