L 19 R 446/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 R 565/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 446/06
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist bereits tatbestandlich ausgeschlossen, wenn das rechtswidrige Verwaltungshandeln durch den Anspruch nach § 44 SGB X erfasst wird (vgl. BSG Urteil vom 23.07.1986 = 1 RA 31/85 = BSGE 60, 158, 164 ff).
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 05.04.2006 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Streitig ist, ob der Kläger die Neufeststellung der Rente schon für Bezugszeiten vor dem 01.01.1999 beanspruchen kann oder ob die "4-Jahresfrist" des § 44 Abs 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) dem entgegensteht.

Der 1945 geborene Kläger beantragte am 05.03.1991 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10.05.1991 und Widerspruchsbescheid vom 25.11.1991 ab. In Ausführung eines nachfolgend vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg (S 12 Ar 386/91) geschlossenen Vergleiches vom 28.01.1993 gewährte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit ab 01.05.1993 bis 31.03.1995 (Bescheid vom 13.03.1993), weitergewährt bis 31.03.1997 (Bescheid vom 27.01.1995), bis 30.06.1999 (Bescheid vom 17.01.1997), bis 30.06.2001 (Bescheid vom 19.04.1999), bis 30.11.2003 (Bescheid vom 26.04.2001) und als Dauerrente (Bescheid vom 29.08.2003). Mit Bescheid vom 11.10.2005 gewährte die Beklagte Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 01.12.2005.

Die Beklagte führte auf Antrag des Klägers vom 02.05.1991 ein Kontenklärungsverfahren durch und stellte mit Bescheid vom 16.12.1991 die bis 31.12.1984 zurückgelegten Zeiten verbindlich fest. Sie erkannte die Zeit vom 04.11.1963 bis 13.03.1964 (Besuch der landwirtschaftlichen Fachschule) nicht als Ausfallzeit an. Auch die Zeit vom 01.10.1970 bis 30.11.1972 (Umschulung mit Unterhaltsgeldbezug) sei nicht als Ausfallzeit anzuerkennen. Den Widerspruch des Klägers vom 26.12.1991 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.07.1993 zurück. Die Zeiten vom 04.11.1963 bis 13.03.1964 und vom 01.10.1970 bis 30.11.1972 seien nicht anzuerkennen. Auch lehnte die Beklagte die beantragte Anerkennung der Zeit von August/September 1959 bis 30.11.1962 als Lehrzeit sowie landwirtschaftlicher Berufsschulzeit ab.

Mit Antrag vom 16.01.2003 beantragte der Kläger die Überprüfung der Anerkennung der Zeit vom 01.10.1970 bis 30.11.1972 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung. Die Beklagte stellte mit streitgegenständlichen Bescheid vom 06.03.2003 die Rente ab 01.01.1999 neu fest und erkannte die Zeit der Umschulung vom 01.10.1970 bis 15.11.1972 als Fachschulzeit sowie die landwirtschaftliche Lehrzeit vom 01.07.1962 bis 30.11.1962 als Pflichtbeitragszeit für Berufsausbildung an. Der Bescheid vom 13.03.1993 werde insoweit gem. § 44 SGB X zurückgenommen. Die Neufeststellung der Rente sei längstens für vier Kalenderjahre zurück zulässig.

Hiergegen legte der Kläger den Widerspruch vom 26.03.2003 ein. Mit der Neufeststellung bzw. Nachzahlung der Rente erst ab 01.01.1999 sei er nicht einverstanden, da er in der Vergangenheit immer wieder auf die Ausfallzeiten von Oktober 1970 bis November 1972 (Umschulung) und auch auf den Besuch der landwirtschaftlichen Fachschule von November 1963 bis März 1964 hingewiesen habe. Bereits im Widerspruchsbescheid vom 22.07.1993 seien diese Zeiten angesprochen worden und daher zu berücksichtigen.

Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 01.08.2003). § 44 Abs 4 SGB X ordne an, dass auch bei einer Rücknahme des Verwaltungsakts für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme zu erbringen seien. Die 4-Jahresfrist sei eine Ausschlussfrist. Da der Widerspruchsbescheid vom 22.07.1993 bindend geworden sei, könne allenfalls über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eine entsprechende Rückrechnung verlangt werden. Aber auch in diesem Fall sei die 4-Jahrestfrist des § 44 Abs 4 SGB X entsprechend anzuwenden.

Mit dem weiteren Bescheid vom 04.09.2006 stellte die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erneut für die Zeit ab 01.01.1999 und bis 30.11.2005 neu fest. Die Neufeststellung erfolgte aufgrund Anerkennung der Zeit vom 15.11.1963 bis 13.03.1964 als Fachschulzeit sowie Anerkennung der Zeiten vom 01.11.1963 bis 14.11.1963, 14.03.1964 bis 11.10.1964, 01.05.1965 bis 02.05.1965 und vom 08.05.1965 bis 09.05.1965 als Lehrzeiten in der Landwirtschaft. Wegen dieser Änderung der rentenrechtlichen Zeiten stellte die Beklagte auch die Altersrente ab 01.12.2005 neu fest und nahm insoweit den Bescheid vom 11.10.2005 gem. § 44 SGB X zurück (Bescheid vom 05.09.2006). Den gegen die Bescheide vom 04. und 05.09.2006 erhobenen Widerspruch vom 20.09.2006 nahm der Kläger am 26.10.2006 zurück.

Mit der am 27.08.2003 zum SG gegen den Bescheid vom 06.03.2003 und Widerspruchsbescheid vom 01.08.2003 erhobenen Klage hat der Kläger an der Neufeststellung ab Rentenbeginn festgehalten. Er habe die Beklagte immer wieder auf die Berücksichtigung der Zeiten hingewiesen. Auch die zurückliegenden Anträge auf Prüfung der rentenrechtlichen Zeiten müssten berücksichtigt werden. Hilfsweise werde ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch geltend gemacht. Er sei immer falsch beraten worden bzw. die Beklagte habe falsche, rechtswidrige Bescheide produziert. Nicht sämtliche Anträge seien von der Beklagten abgearbeitet worden.

Das SG hat mit Urteil vom 05.04.2006 die Klage abgewiesen. Der Rentenbescheid vom 13.03.1993 und die folgenden Rentenbescheide seien insoweit rechtswidrig gewesen, als die Zeit vom 01.10.1970 bis 15.11.1972 nicht als Anrechnungszeit anerkannt worden sei. Die Kriterien für eine Anrechnungszeit gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) seien erfüllt gewesen, weil es sich um einen Fachschulbesuch gehandelt habe und die Anerkennung nicht die Unterbrechung einer versicherten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit voraussetze. Allerdings habe die Beklagte auf den Überprüfungsantrag des Klägers vom 16.01.2003 hin den Anspruch des Klägers auf Gewährung der ihm zustehenden Rente bzw. des noch ausstehenden Differenzbetrages zutreffend auf die Zeit ab 01.01.1999 begrenzt. Denn nach § 44 Abs 4 SGB X würden Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von vier Jahren vor Rücknahme bzw. vor Antrag auf Rücknahme des Bescheides erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werde. Die Anwendung dieser Vorschrift stehe nicht im Ermessen der Behörde, vielmehr handele es sich um eine zwingende Ausschlussfrist. Erfolglose frühere Anträge auf Überprüfung seien für die Fristberechnung unerheblich; die Vier-Jahresfrist richte sich nach dem Bescheid bzw. Antrag, auf Grund dessen der Verwaltungsakt zurückgenommen worden sei. In der Zeit zwischen Bestandskraft des Widerspruchsbescheides vom 22.07.1993 und dem am 16.01.2003 gestellten Antrag auf Überprüfung habe der Kläger weitere Überprüfungsanträge nicht belegen können und seien auch nicht ersichtlich. Ein anderes Ergebnis ergäbe sich auch nicht aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dieser sei bereits nicht anwendbar, da die Korrektur rechtswidriger Bescheide ausdrücklich in § 44 SGB X geregelt und der Herstellungsanspruch nur bei Verletzung von Pflichten, hinsichtlich derer die Rechtsfolgen nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt seien, anwendbar sei. Darüber hinaus sei die Vier-Jahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch anwendbar, zumindest wenn es um einen angreifbaren, aber bestandskräftig gewordenen Bescheid gehe.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Mit dem Antrag vom 02.05.1991 auf Kontenklärung habe er die Zeiten vom 04.11.1963 bis 13.03.1964 (Besuch der landwirtschaftlichen Fachschule), vom 01.10.1970 bis 30.11.1972 (Umschulung) und von August/September 1959 bis 30.11.1962 (Lehrzeit) als rentenrechtliche Zeiten geltend gemacht. In dieser Sache habe er am 22.01.1992 und am 10.11.1992 persönlich bei der Beklagten vorgesprochen. Es könne nicht zu seinen Lasten gehen, wenn die Beklagte nicht in der Lage sei, richtig unter den gesetzlichen Bestimmungen zu subsumieren.

Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 05.04.2006 den Bescheid vom 06.03.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.08.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Bescheide vom 13.03.1993, 27.01.1995, 17.01.1997, 19.04.1999, 26.04.2001, 29.08.2003 und 11.10.2005 teilweise insoweit zurückzunehmen, als die Rentenerhöhung auch vom 01.05.1993 bis 31.12.1998 gewährt wird.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 05.04.2006
zurückzuweisen.

Die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X sei zwingend anzuwenden. Aus dem Überprüfungsantrag vom 16.01.2003 ergebe sich die Begrenzung der Leistungspflicht auf die Zeit ab 01.01.1999.

Ergänzend wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten und den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist lediglich die Frage, ob der Kläger die Neu-feststellung der Rente mit einem früheren Zahlungsbeginn auch für die Zeit vom 01.05.1993 bis 31.12.1998 beanspruchen kann. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der angefochtene Bescheid vom 06.03.2003 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 01.08.2003 rechtmäßig ist. Nicht Gegenstand ist der Bescheid vom 04.09.2006 schon deshalb, weil der Kläger sein Überprüfungsbegehren nicht weiter verfolgt hat.

Nicht zu beanstanden ist, dass die Beklagte die Rente ab 01.01.1999 neu festgestellt hat. Zwar können nach 44 SGB X Verwaltungsakte, auch nachdem sie unanfechtbar geworden sind, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn bei Erlass dieser Verwaltungsakte das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Zu Unrecht nicht erbrachte Sozialleistungen können jedoch längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahre vor der Rücknahme erbracht werden (§ 44 Abs 4 SGB X). Hierbei handelt es sich um eine gesetzliche Ausschlussfrist, die als zwingendes Recht zu beachten ist und nicht im Ermessen oder Belieben des Leistungsträgers liegt (vgl. BSG Urteil vom 23.07.1986 - 1 RA 31/85 = BSGE 60, 158, 160 f mwN). Da der Kläger den streitbefangenen Antrag erst am 16.01.2003 gestellt hat, kommt nach § 44 Abs 4 Satz 3 SGB X eine Neufeststellung und rückwirkende Leistungsgewährung nur für die Zeit ab 01.01.1999 in Betracht. Ansprüche für davor liegende Zeiten sind dagegen nach § 44 Abs. 4 SGB X endgültig ausgeschlossen.

Ein Anspruch auf Rentennachzahlungen auch für die Zeit vor dem 01.01.1999 ergibt sich nicht aus den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Denn allein aus dem Herstellungsanspruch folgt kein Zahlungsanspruch. Im materiellen Sozialrecht ist der Herstellungsanspruch grundsätzlich nur auf die Fiktion des rechtzeitigen Vorliegens von Anspruchsvoraussetzungen gerichtet, die im Wesentlichen nur wegen der Pflichtverletzung des Trägers nicht rechtzeitig erfüllt waren (vgl. BSG Urteil vom 26.07.2007 -
B 4 R 19/07 R = SozR 4-1300 § 44 Nr 12). Aber auch eine Verletzung einer der Beklagten obliegenden Nebenpflicht aus dem Sozialrechtsverhältnis - wie insbesondere zur Auskunft, Beratung - ist nicht erkennbar. Insoweit wird auf die Ausführungen des SG Bezug genommen. Über die Anerkennung der in der Berufungsschrift nochmals genannten Zeiten (04.11.1963 bis 13.03.1964 - Besuch der landwirtschaftlichen Fachschule - 01.10.1970 bis 30.11.1972 - August/September 1959 bis 30.11.1962 - Lehrzeit) hat die Beklagte im Rahmen der Kontenklärung mit bestandskräftigen Feststellungsbescheid vom 16.12.1991 und - nach der behaupteten persönlichen Vorsprache des Klägers bei der Beklagten am 22.01.1992 und 10.11.1992 - durch Widerspruchsbescheid vom 22.07.1993 entschieden. Von der Verletzung einer Nebenpflicht, wie etwa fehlerhafte Beratung, ist demnach nicht auszugehen. Dass die Beklagte mit dem Feststellungsbescheid vom 16.12.1991 und Widerspruchsbescheid vom 22.07.1993 das Recht unrichtig angewandt hat, kann dahinstehen, da ein Rechtsanwendungsfehler den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht begründet.

Auch in Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Rentenbescheide stellt sich die Frage der Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches nicht. Denn der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist bereits tatbestandlich ausgeschlossen, wenn das rechtswidrige Verwaltungshandeln durch den Anspruch nach § 44 SGB X erfasst wird (vgl. BSG Urteil vom 23.07.1986, aaO S. 164 ff).

Dies zugrunde gelegt war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe, die Revision gem. § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved