L 8 R 527/10 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 15 R 576/10 ER
Datum
-
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 527/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 6.5.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.
Die 1940 geborene Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verurteilung der Antragsgegnerin zur Zahlung großer Witwenrente nach ihrem verstorbenen Ehemann B E (im Folgenden: Versicherter).

Im März 2008 wurde bei dem Versicherten ein Bronchialkarzinom mit Hirnmetastasen diagnostiziert. Vom 28.3.2008 bis zum 10.4.2008 unterzog er sich einer Strahlentherapie des Hirnschädels, an die sich eine systemische Chemotherapie anschließen sollte. Am 11.4.2008 schlossen die Antragstellerin und der Versicherte die Ehe. Am 24.4.2008 verstarb der Versicherte.

Am 14.5.2008 beantragte die Antragstellerin Witwenrente. Es handele sich nicht um eine Versorgungsehe, sondern um eine Liebesheirat, nachdem sie mit dem Versicherten bereits seit 16 Jahren zusammengelebt habe. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag ab, weil die Vermutung der Versorgungsehe nicht widerlegt sei (Bescheid v. 19.6.2008). Mit dem Widerspruch trug die Antragstellerin vor: In jungen Jahren habe sie den Versicherten nicht heiraten können, da dieser aufgrund einer für seine Schwester übernommenen Bürgschaft Schulden gehabt habe. Mit der Eheschließung habe er jedoch ihrem lange gehegten Wunsch nach Legitimierung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft entsprochen. Der Versicherte habe sie nicht über die Schwere seiner Erkrankung unterrichtet, sodass sein Tod für sie letztlich überraschend gekommen sei. Zum Zeitpunkt der Eheschließung habe sie geglaubt, noch einige Jahre mit ihm zusammenleben zu können. Insbesondere die lange Dauer der zuvor geführten eheähnlichen Gemeinschaft sei als Indiz gegen eine Versorgungsehe zu werten. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.9.2009 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Bei Eheschließung seien der Antragstellerin die tödlichen Folgen der Erkrankung des Versicherten sehr wohl bewusst gewesen. Auch der Umstand, dass die Eheschließung in früheren Jahren aus finanziellen Gründen unterblieben sei, spreche für eine Versorgungsehe. Soweit in der Rechtsprechung die Dauer des vorherigen nichtehelichen Zusammenlebens als Anhaltspunkt gegen das Bestehen einer Versorgungsehe angesehen habe, habe es sich jeweils um Einzelfälle gehandelt, die mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar seien.

Die Antragstellerin hat Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Zur Begründung hat sie unter Vorlage einer entsprechenden eidesstattlichen Versicherung ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und ergänzend vorgetragen, sie verfüge nur über ein geringes Einkommen und könne ihre Nebenkostenabrechnung nicht bezahlen. Eine Vorsprache beim Sozialamt sei erfolglos geblieben. Ihr Hinweis, dass sie die Kosten für einen neuen Trockner und einen neuen Elektroherd nicht aufbringen könne, sei mit der Bemerkung quittiert worden, dass sie bei ihren Einnahmen ohne weiteres 70,00 EUR im Monat habe zurücklegen können.

Die Antragstellerin hat beantragt,

einstweilen anzuordnen, dass ihr die große Witwenrente zu bewilligen ist.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass kein Anordnungsanspruch gegeben sei.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat den Antrag abgelehnt (Beschluss v. 6.5.2010). Der Anordnungsanspruch auf große Witwenrente sei nicht glaubhaft gemacht. Der Vortrag der Antragstellerin sei zumindest bei der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung nicht geeignet, die Annahme zu begründen, dass der überwiegende Zweck der Heirat nicht die Begründung eines Anspruchs auf Hinterbliebenenrente gewesen sei. Es bestehe auch kein Anordnungsgrund. Gegebenenfalls müsse die Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung in Anspruch nehmen.

Der Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 10.5.2010 ohne Empfangsbekenntnis per Fax übersandt worden. Die am 11.5.2010 übersandte Ausfertigung ist ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 18.5.2010 zugestellt worden.

Mit der am 18.6.2010 erhobenen und am 8.9.2010 begründeten Beschwerde trägt die Antragstellerin vor, das SG habe die Dauer ihres nichtehelichen Zusammenlebens mit dem Versicherten nicht angemessen gewürdigt. Sie und der Versicherte hätten durch die unterbliebene Heirat in all den Jahren gezeigt, dass sie die Sozialsysteme nicht ausnutzten. Beide hätten während ihrer beruflichen Tätigkeit eine eigene Krankenversicherung gehabt. Mangels Eheschließung hätten sie auch die Steuervorteile durch eine gemeinsame Steuererklärung nicht in Anspruch genommen. In Anbetracht ihres Alters von 70 Jahren könne man sie nicht auf die Grundsicherung verweisen.

Die Antragstellerin, die keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, beantragt ihrem schriftsätzlichen Vorbringen nach sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 6.5.2010 zu ändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verurteilen, ihr große Witwenrente nach B E nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den Beschluss des SG für zutreffend.

Die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin hat bei Beschlussfassung vorgelegen.

II.
Die Beschwerde ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).

1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere innerhalb der Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des Beschluss (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) erhoben worden. Die Monatsfrist beginnt im Hinblick darauf, dass Beschlüsse zuzustellen sind (§ 133 Satz 2 SGG), erst mit der ordnungsgemäßen Zustellung zu laufen. Da die Faxkopie hier nicht mit einem Empfangsbekenntnis versehen übermittelt worden ist (vgl. § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. § 174 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]), hat die Beschwerdefrist nicht am 10.5.2010 zu laufen begonnen, sondern erst mit der Zustellung der Ausfertigung durch Empfangsbekenntnis am 18.5.2010. Die Erhebung der Beschwerde am 18.6.2010 hat die Monatsfrist mithin gewahrt.

2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das SG hat den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Recht und mit zutreffender Begründung abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG können die SGe einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Voraussetzungen der einstweiligen Anordnung sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), müssen also überwiegend wahrscheinlich sein. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung unter umfassender Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange aller Beteiligten zu entscheiden (BVerfG, Beschluss v. 12.5.2005, 1 BvR 569/05, Breith 2005, 803; Senat, Beschluss v. 24.10.2008, L 8 B 15/08 R ER, juris und sozialgerichtsbarkeit.de).

a) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist das SG zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass das Bestehen eines Anspruchs der Klägerin auf große Witwenrente nach dem Versicherten B E derzeit nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Vielmehr ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als (allenfalls) offen anzusehen.

aa) Der Anspruch auf Witwenrente ist nach § 46 Abs. 2a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Bei der Prüfung, ob die durch § 46 Abs. 2a SGB VI begründete Vermutung der Versorgungsehe widerlegt ist, sind alle zur Eheschließung führenden Motive der Ehegatten zu berücksichtigen und in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen. Die Annahme einer Versorgungsehe ist nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe beider Ehegatten insgesamt gesehen überwiegen oder zumindest gleichwertig sind. Bei der abschließenden Gesamtbewertung müssen diejenigen besonderen (inneren und äußeren) Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war (BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 55/08 R, SozR 4-2600 § 46 Nr. 6).

bb) Nach diesen Kriterien ist gegenwärtig jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich, dass es der Antragstellerin gelingen wird, die Vermutung der Versorgungsehe zu widerlegen.

(1) Die Ehe ist am 11.4.2008 und damit 13 Tage vor dem Tod des Versicherten geschlossen worden, zugleich einen Tag, nachdem eine zweiwöchige Behandlung zur Strahlentherapie von Hirnmetastasen eines kurz zuvor diagnostizierten Bronchialkarzinoms abgeschlossen worden war. Angesichts dessen spricht viel dafür, dass zumindest dem Versicherten die Lebensbedrohlichkeit seiner Erkrankung offenkundig war.

(2) Als bislang einziger aus Sicht der Antragstellerin gegen eine Versorgungsehe sprechender objektiver Gesichtspunkt ist das Bestehen einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft zwischen ihr und dem Versicherten seit 1992 vorgetragen worden. Die langjährige Dauer des nichtehelichen Zusammenlebens vor der Eheschließung kann indessen zwar im Einzelfall gegen, unter Umständen aber auch für eine Versorgungsehe sprechen (vgl. zu Letzterem z.B. Sächsisches LSG, Urteil v. 4.6.2008, L 6 R 395/06 KN, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 22.5.2008, L 21 R 39/05; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil v. 21.3.2007, L 8 R 112/06; jeweils juris). Der erkennende Senat selbst hat beispielsweise in seiner jüngeren Rechtsprechung die Vermutung der Versorgungsehe trotz eines vorangegangenen fünfzehnjährigen Zusammenlebens als aufgrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht widerlegt angesehen (Senat, Urteil v. 10.2.2010, L 8 R 134/09, sozialgerichtsbarkeit.de).

(3) Zu Recht hat das SG es demgegenüber als Indiz für eine Versorgungsehe gewertet, dass ein früherer Eheschluss aus finanziellen Motiven, nämlich zur Vermeidung einer Belastung der Antragstellerin mit den aus einer Bürgschaftsverpflichtung stammenden Schulden des Versicherten, unterblieben ist.

(4) Ohne detaillierten Vortrag und entsprechende Beweisantritte zum Zeitpunkt des ernsthaften Eheentschlusses, den Motiven hierzu und der Kenntnislage hinsichtlich der Erkrankung des Versicherten zu diesem Zeitpunkt ist es nach allem derzeit nicht überwiegend wahrscheinlich, dass es der Antragstellerin gelingen wird, die Vermutung der Versorgungsehe zu widerlegen.

b) Die angesichts des (allenfalls) offenen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens gebotene Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragstellerin aus.

aa) Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher, insbesondere grundrechtlich geschützter Nachteile für die Antragstellerin nötig erscheint. Der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung wird nicht durch die Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) oder das Recht auf Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) geschützt (BVerfG, Beschluss v. 18.2.1998, 1 BvR 1318/86, SozR 3-2940 § 58 Nr. 1; BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 53/08 R, SozR 4-2600 § 46 Nr. 5). Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) wird demgegenüber nicht durch Leistungen der Rentenversicherung, sondern der Grundsicherung verwirklicht (vgl. BVerfG, Urteil v. 9.2.2010, 1 BvL 1/09 u.a., NJW 2010, 505). Bei älteren Menschen wie der Antragstellerin dient hierzu die im System der Sozialhilfe verankerte Grundsicherung im Alter (vgl. § 41 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch). Da es zur Sicherung der Grundbedürfnisse älterer Menschen mithin eine spezielle Fürsorgeleistung gibt, kann die Antragstellerin nicht erfolgreich mit dem Argument gehört werden, sie dürfe angesichts ihres Alters nicht auf Grundsicherungsleistungen verwiesen werden. Soweit sie diese nach Art und Höhe nicht für ausreichend hält, muss sie ihre Ansprüche einstweilen gegebenenfalls im System der Sozialhilfe durchzusetzen versuchen. Lediglich ergänzend weist der Senat angesichts dessen darauf hin, dass es jedenfalls nicht für die Dringlichkeit der Bedarfssituation der Antragstellerin spricht, dass sie sich zur Begründung ihrer Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluss des SG deutlich mehr als zwei Monate Zeit gelassen hat.

bb) Demgegenüber ist zugunsten der Antragsgegnerin zu berücksichtigen, dass die Versichertengemeinschaft für den Fall einstweiliger Rentenzahlungen an die Antragstellerin im Hinblick auf die von dieser selbst vorgetragene Einkommenssituation kaum Aussichten haben dürfte, einen etwaigen Rückforderungsanspruch zu realisieren, falls sich in der Hauptsache herausstellt, dass ein Anspruch auf Witwenrente nicht besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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