L 7 KA 107/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 71 KA 172/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 107/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine "Praxisschließung ohne Praxisnachfolge im Umfeld" eines Vertragsarztes im Sinne von § 9 Abs. 9 HVM/Berlin ist auch gegeben, wenn die Praxis des Vertragsarztes sich am Stadtrand befindet und die Praxisschließung im stadtnahen Brandenburger Umland erfolgt ist; sie kann bei erfolgter Patientenübernahme zum Anspruch auf Neuberechnung des Individualbudgets führen.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juni 2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über das Individualbudget des Klägers in den Quartalen III/2003 bis II/2004. Umstritten ist dabei, ob die Übernahme von Patienten aus der geschlossenen Praxis eines anderen KV-Bereichs dazu führen kann, das Individualbudget des die Patienten übernehmenden Vertragsarztes nach § 9 Abs. 9 Honorarverteilungsmaßstab (HVM) zu erhöhen.

Der Kläger nimmt seit 1986 als Neurologe und Psychiater an der fachärztlichen Versorgung teil. Er betreibt seine Facharztpraxis in B. Nach dem seit 1. Juli 2003 geltenden HVM der Beklagten erhalten alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Psychotherapeuten für punkzahlbewertete Leistungen ein Punktzahlvolumen (Individualbudget), bis zu dem eine Vergütung mit einem festen Punktwert gesichert sein soll. Grundlage für die Berechnung des Budgets sind im Wesentlichen die individuellen Umsätze in den Quartalen I bis IV/2002.

Im Juli 2003 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Hinweis auf eine Praxisschließung im benachbarten F (B) und die Übernahme von Patienten die Erhöhung seines Individualbudgets ab dem Quartal III/2003. Der in F tätige Nervenarzt war zuletzt im Quartal IV/2002 tätig und rechnete insgesamt 674 Fälle ab. In der näheren Umgebung in Brandenburg war kein weiterer Nervenarzt tätig, die nächstgelegene Praxis befand sich in P. Die Nachbesetzung der Praxis in F erfolgte im August 2003 mit einer Fachärztin für Psychiatrie. Im Juli bzw. September 2004 erfolgten in F zwei weitere Zulassungen von Nervenärzten.

Mit Bescheid vom 26. November 2003 und Widerspruchsbescheid vom 26. April 2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil sie die Voraussetzungen für eine Ausnahmeregelung nicht als gegeben ansah. Die Versorgung von Brandenburger Patienten müsse die dortige Kassenärztliche Vereinigung sicherstellen. Für das Individualbudget des Klägers müsse die Behandlung von Brandenburger Patienten in Folge einer dortigen Praxisschließung ohne Auswirkungen bleiben.

Mit Urteil vom 28. Juni 2006 gab das Sozialgericht Berlin der hiergegen erhobenen Klage statt und verurteilte die Beklagte zur Neuberechnung des klägerischen Individualbudgets für die Quartale III/2003 bis II/2004. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Im Sinne von § 9 Abs. 9 HVM sei es zu einer Praxisschließung im näheren Umfeld des Klägers gekommen, denn F und der Praxissitz des Klägers seien nur 9 km von einander entfernt. In Folge der Übernahme von Patienten sei ein atypischer Einzelfall gegeben, der es gebiete, eine Neuberechnung des Individualbudgets vorzunehmen, zumal die Behandlung von Brandenburger Patienten unstreitig in die Bemessung des Individualbudgets eingeflossen wäre, wenn sie bereits im Jahre 2002 erfolgt wäre. Zudem erhalte die Beklagte insoweit einen Fremdkassenzahlungsausgleichs (FKZ). Die nun konkret vorzunehmende Bemessung des klägerischen Individualbudgets für die streitigen Quartale werde sich an den Fallzahlsteigerungen und den vom Kläger eingereichten Patientenlisten orientieren müssen.

Gegen das ihr am 3. August 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. August 2006 erhobene Berufung der Beklagten. Das Urteil des Sozialgerichts verkenne die Systematik des FKZ und widerspreche dem Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten. Zahlungen, die die Beklagte aus dem FKZ erhalte, dürften nicht an den Kläger im Wege der Erhöhung seines Individualbudgets weitergereicht werden; dieses Ansinnen werde der Struktur und der Komplexität des FKZ, der von einem fiktiven Punktwert ausgehe, nicht gerecht. Eine Erhöhung des Individualbudgets des Klägers hätte zur Folge, dass das Einkommen sämtlicher Ärzte seiner Fachgruppe sänke; es sei aber nicht einzusehen, warum sämtliche Ärzte der Berliner Fachgruppe die Behandlung von Brandenburger Patienten, die über den Sicherstellungsauftrag der Beklagten hinausgehe, durch eine Kürzung ihrer Vergütung mitfinanzieren sollten. Die Praxisschließung im benachbarten Bundesland müsse für die Beklagte ohne jede Relevanz bleiben, da sie sich ansonsten in den Sicherstellungsauftrag der anderen Kassenärztlichen Vereinigung einmische. Soweit es um die Auslegung von § 9 Abs. 9 HVM gehe, bedeute "wegen Praxisschließungen ohne Praxisnachfolge im Umfeld des Antragstellers und entsprechender Patientenübernahme", dass davon nur Praxisschließungen im eigenen KV-Bereich betroffen sein könnten. Sofern der einzelne Vertragsarzt mit der Behandlung von Versicherten der in seinem Zuständigkeitsbereich wohnenden Versicherten ausgelastet sei, dürfe er durchaus auch die Behandlung anderer Patienten ablehnen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juni 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Die Versorgung von Versicherten mit Wohnsitz im Bereich einer anderen Kassenärztlichen Vereinigung sei bei der Honorarverteilung zwingend zu berücksichtigen. Ein Arzt dürfe nicht dafür bestraft werden, Patienten ohne Ansehen ihres Wohnorts zu behandeln. Die Erhöhung des Individualbudgets habe hier nach § 9 Abs. 9 HVM zu erfolgen.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, hat jedoch keinen Erfolg. Das Sozialgericht beurteilt die Sach- und Rechtslage zutreffend. Der Kläger hat Anspruch auf Neuberechnung seines Individualbudgets in den Quartalen III/2003 bis II/2004.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG), die nachvollziehbar und überzeugend begründet ist. Das Berufungsvorbringen gebietet keine andere Sichtweise. Auch der Senat sieht den Ausnahmetatbestand in § 9 Abs. 9 HVM bei wortgetreuer Auslegung ohne Weiteres als erfüllt an. Der Kläger hat Anspruch auf Neufestsetzung seines Individualbudgets, weil es in den streitigen Quartalen wegen einer Praxisschließung ohne Praxisnachfolge in seinem Umfeld und entsprechender Patientenübernahme zu vermehrten Patientenzahlen gekommen ist. Der Wortlaut der Vorschrift und ihre systematische Stellung lassen eine teleologisch reduzierende Auslegung im Sinne des Standpunkts der Beklagten nicht zu. Maßgeblich für die Bestimmung des Individualbudgets ist nicht etwa der auf ein bestimmtes und umgrenztes Gebiet bezogene Sicherstellungsauftrag der Beklagten, sondern die reale Inanspruchnahme eines Arztes durch eine bestimmte Anzahl von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung. Der nachfragebedingte Charakter der Ausnahmeklausel in § 9 Abs. 9 HVM muss dem Kläger zugute kommen, was besonders deutlich wird, wenn man – wie auch die Beklagte – zugrunde legt, dass eine besonders hohe Inanspruchnahme durch Brandenburger Versicherte bei der Bemessung des Individualbudgets berücksichtigt worden wäre, wenn diese sich im Bemessungsjahr 2002 zugetragen hätte. Durch den Fremdkassenzahlungsausgleich, in dessen Rahmen der Beklagten jährlich nennenswerte Mittel zufließen, ist eine wirtschaftliche Kompensation gegeben, die sich auf die Ausschüttung der Gesamtvergütung im Zuständigkeitsbereich der Beklagten auswirkt. Daher greift es zu kurz zu behaupten, dass eine Erhöhung des klägerischen Individualbudgets sich einseitig zu Lasten der übrigen Ärzte seiner Fachgruppe auswirkte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 VwGO und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil hierfür kein Grund nach § 160 Abs. 2 SGG vorlag. Bei der entscheidenden HVM-Vorschrift handelt es sich um nicht revisibles Landesrecht. Ob es inhaltsgleiche Vorschriften in anderen KV-Bezirken gibt, ist nicht ersichtlich; auch die Beklagte hat hierzu nichts Näheres vorgetragen.
Rechtskraft
Aus
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