S 68 U 927/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
68
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 68 U 927/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 14. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. September 2008 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das Ereignis vom 29. Juli 2007 ein Arbeitsunfall war.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Ereignisses vom 29. Juli 2007 als Arbeitsunfall. Der im Jahr 1986 geborene Kläger stellte sich am 29. Juli 2007 um 16:33 Uhr im H Klinikum vor und gab an, sich bei einer Schlägerei die rechte Hand verletzt zu haben. Diagnostiziert wurde dort eine MC 5 Fraktur rechts. Im Erste-Hilfe-Bericht wurde angegeben, dass der Kläger unter Alkohol gestanden habe. Vom 2. bis 6. August 2007 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung im H Klinikum Berlin zur Plattenosteosynthese. Am 8. August 2007 stellte sich der Kläger in der Durchgangsarzt-Praxis H /S vor. Zum Unfallhergang gab er hier an, dass er am Unfalltag einer Frau, die von drei Unbekannten angegriffen worden sei, zur Hilfe geeilt und hierbei in eine Schlägerei verwickelt worden sei. Die Beklagte leitete daraufhin ein Feststellungsverfahren bezüglich eines Arbeitsunfalls ein. Zum Unfallhergang gab der Kläger im Fragebogen der Beklagten an: "Am 29. Juli 2007 wurde eine Frau vor einem Dönerimbiss gegenüber vom H center bespuckt und geschlagen, worauf mein Freund D R und ich eingriffen und die drei Männer im geschätzten Alter von Mitte 20 zur Rede stellten. Daraufhin reagierten diese verärgert und einer der Männer schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Danach werte ich mich sofort und blockte weitere Schläge ab, um nicht schlimmere Verletzungen davon zu tragen und brach mir dabei den kleinen Finger meiner rechten Hand."

Weiter gab der Kläger an: "Polizei war vor Ort, um den Konflikt zu schlichten, dennoch wurde dieser Vorfall nicht aufgenommen, da die betroffene Frau zu keiner Aussage und Anzeigeerstattung bereit war." Als Zeugen benannte der Kläger D R, M R und P B. Die Beklagte zog die Akte des von dem Kläger als Zeugen benannten D R bei, der das Ereignis vom 29. Juli 2007 ebenfalls bei der Beklagten als Arbeitsunfall gemeldet hatte. Im Rahmen dieses parallelen Feststellungsverfahrens hatte der Zeuge D R den Unfallhergang wortgleich wiedergegeben. Auch der Zeuge D R gab an, dass die Polizei zum Schlichten vor Ort gewesen sei, den Vorfall jedoch nicht aufgenommen habe, weil die Frau zu keiner Aussage und Anzeige bereit gewesen sei. Der Zeuge M R gab im Fragebogen der Beklagten zum Unfallhergang an: "Eine Frau wurde mit Speichel bespuckt und geschlagen. D R wollte der Frau helfen mit seinem Freund S F, dabei stellten sie die drei Männer zur Rede, was das soll. Die drei Männer wurden aggressiv und schlugen auf D. R und S. F zu." Der Zeuge P B gab zum Unfallhergang gegenüber der Beklagten an: "An dem angegebenen Tag wurden wir Zeuge wie mehrere Personen vor einem Dönerimbiss eine Frau bespuckten und schlugen. Als wir die Person auf ihr Fehlverhalten ansprachen schlug einer von Ihnen meinem Freund ins Gesicht. Daraufhin wehrten wir uns und versuchten den Streit zu schlichten. Kurze Zeit später traf dann die Polizei ein und klärte die Situation. Dabei bemerkte ich, dass die Hand von S F anschwoll." Mit Bescheid vom 14. November 2007 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 29. Juli 2007 als Arbeitsunfall ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass ein Versicherungsschutz bereits deshalb ausscheide, weil die Frau zum Unfallzeitpunkt zwar eine widerrechtlich Angegriffene war, sich jedoch nicht in einer erheblichen Gesundheitsgefahr befunden habe. Der Kläger legte hiergegen mit bei der Beklagten am 4. Dezember 2007 eingegangenem Schreiben Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass die Frau im Zeitpunkt seines Eingreifens bereits mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen und bespuckt worden sei. Auf Rückfrage der Beklagten teilte der Polizeipräsident in Berlin, Abschnitt 61 der Beklagten mit, dass für den Zeitraum 28./29. Juli 2007 für den Kläger und den Zeugen D R keine Eintragungen auf dem Abschnitt 61 vorlägen. Dies betreffe sowohl Strafanzeigen als auch Tätigkeitsberichte. Bei der Durchsicht der Einsatzunterlagen habe festgestellt werden können, dass kein Fahrzeug bzw. kein Kollege des Abschnittes 61 an der angegebenen Örtlichkeit eingesetzt war. Es lasse sich jedoch nicht ausschließen, dass Kollegen aus anderen Abschnittsbereichen oder Dienststellen vor Ort waren. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. September 2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, mündliches Hinwirken auf Ruhe und verbale Eingriffe eines Helfers seien bereits kein Hilfeleisten, das einen Versicherungsschutz begründen könne. Im Übrigen hätte ein Versicherungsschutz im Zeitpunkt der Verletzung nicht mehr angedauert. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Kläger im Zeitpunk des Fingerbruchs noch die rechtlich wesentliche Handlungstendenz gehabt hätte, sich zum Schutz der widerrechtlich Angegriffenen einzusetzen. Dies sei jedoch – auch unter Würdigung der wort- und buchstabengleichen Zeugenaussage des Zeugen D. R – nicht der Fall. Mit seiner am 9. Oktober 2008 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung seiner Klage führt der Kläger unter Vertiefung seines Vorbringens aus dem vorangegangenen Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren sinngemäß aus, es sei unbillig, darauf abzustellen, ob er sich in Fremdschutzabsicht oder in Eigenschutzabsicht auf die Schlägerei eingelassen habe. Es handele sich um einen dynamischen Sachverhalt. Eine Aufspaltung sei lebensfremd. Anderenfalls würde ein Versicherungsschutz immer entfallen. Die Angreifer seien noch vor Eintreffen der zufällig vor Ort anwesenden Polizei geflüchtet. Da die Frau keine Anzeige erstatten wollte, hätten die Polizisten den Vorgang nicht aufgenommen. Er habe keine Anzeige erstattet, weil er zu diesem Zeitpunkt die Schwere seiner Verletzung noch nicht kannte. Später sei ihm eine Anzeige sinnlos erschienen, da die Täter nicht mehr ausfindig gemacht werden könnten.

Der Kläger beantragt,

1. den Bescheid der Beklagten vom 14. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. September 2008 aufzuheben. 2. festzustellen, dass das Ereignis vom 29. Juli 2007 ein Arbeitsunfall war.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte auf ihre Ausführungen aus dem vorangegangenen Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren. Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen D R. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte haben vorgelegen. Wegen der Einzelheiten wird auf sie ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist gemäß § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann ein Versicherter, dem gegenüber ein Träger der gesetzlichen Unfallversicherung durch Verwaltungsakt die Anerkennung eines Arbeitsunfalls abgelehnt hat, im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage klären lassen, ob die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls vorliegen (vgl. BSG v. 02.12.2008 – B 2 U 15/07 R – zitiert nach juris). Der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist ausschließlich auf die Feststellung eines Arbeitsunfalls beschränkt. Nur hierüber hat die Beklagte im angegriffenen Bescheid vom 14. November 2007 in anfechtbarer Weise entschieden. Der Klägerbevollmächtigte hat seinen Antrag im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf Hinweis des Gerichts entsprechend umgestellt. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 14. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. September 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Das Ereignis vom 29. Juli 2007 stellt einen Arbeitsunfall dar. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 13a Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII) sind Personen kraft Gesetzes versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten. Nach Überzeugung der Kammer ist ein Hilfeleisten in diesem Sinne auch bei einem verbalen Eingreifen gegeben, das auf die Schlichtung eines Streites abzielt (so auch Bieresborn, in: jurisPK-SGB VII, 1. Aufl. 2009, § 2 Rn. 184). Die von der Beklagten angeführt Gegenmeinung vermag nicht zu überzeugen, weil auch verbales Eingreifen den Tatbestand eines aktiven Handelns zugunsten eines Dritten erfüllt. Der Kläger hat im Rahmen seiner Hilfeleistungen auch einen als Arbeitsunfall versicherten Unfall erlitten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheits(erst)schaden oder zum Tod des Versicherten geführt haben (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität), und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität, vgl. BSG, Urt. v. 15.06.2010 – B 2 U 12/09 R; LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.08.2009 – L 3 U 1027/05, beide zitiert nach juris). Nach Überzeugung der Kammer ist der Kläger im Zusammenhang mit seinem Hilfeleisten in haftungsbegründender Weise verletzt worden. Der einen Arbeitsunfall begründende Erstschaden ist vorliegend allerdings nicht in der Fraktur des kleinen Fingers an der rechten Hand des Klägers zu sehen. Die Kammer ist auf der Grundlage der Einlassung des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung und der Vernehmung des Zeugen D R zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Kläger die Fraktur an der rechten Hand im Rahmen seiner tätlichen Auseinandersetzung mit dem Angreifer zugezogen hat. Der Kläger dürfte sich die Verletzung bei einem von ihm geführten Faustschlag zugezogen haben. Die Kammer ist jedenfalls nicht zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger durch einen Faustschlag des Angreifers an dem kleinen Finger der rechten Hand getroffen wurde. Ein aktiv von dem Kläger geführter Faustschlag im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Angreifer fällt nach Überzeugung der Kammer indes nicht mehr unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Kammer zweifelt nicht daran, dass sich der Kläger zivilcouragiert zunächst zum Schutz der bedrohten Frau in das Geschehen zwischen dem Angreifer und der Frau eingemischt hat. In dem Moment, in dem sich der Angreifer dem Kläger selbst zuwandte und diesen mit Faustschlägen attackierte, ist zu der Bedrohung der Frau zugleich jedoch auch eine Bedrohungssituation für den Kläger selbst hinzugetreten. Ab diesem Zeitpunkt sind mithin (nicht versicherte) Selbstschutzhandlungen von (versicherten) Fremdschutzhandlungen abzugrenzen. Maßgebliches Abgrenzungskriterium ist die überwiegende subjektive Handlungstendenz des Betroffenen (vgl. Bieresborn, in: jurisPK-SGB VII, 1. Aufl. 2009, § 2 Rn. 186). Prinzipiell kann eine Selbstschutzabsicht auch mit einer Fremdschutzabsicht zusammentreten, ohne dass in diesem Fall der Versicherungsschutz entfällt. Wenn die Gefahr für den Helfer im Vergleich zu der Gefahr für das ursprüngliche Opfer erheblich größer ist, überwiegt bei wertender Betrachtung jedoch in aller Regel die Selbstschutzabsicht und der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung entfällt. So liegen die Dinge – bezog auf die Handverletzung des Klägers – nach Überzeugung der Kammer auch hier. Nach den eigenen Einlassungen des Klägers stand die Frau während seiner Auseinandersetzung mit dem Angreifer ca. 5m entfernt. Dies wird aus Sicht der Kammer auch durch die Aussage des Zeugen D R bestätigt, der die Frau während der Auseinandersetzung nicht mehr wahrgenommen hat. Die Kammer ist auf der Grundlage dieser Aussagen zu dem Ergebnis gelangt, dass die Bedrohungssituation der Frau – durch das Eingreifen des Klägers – im Zeitpunkt seiner tätlichen Auseinandersetzung mit dem Angreifer bereits beendet war. Mithin bestand in diesem Zeitpunkt eine Gefahrenlage ausschließlich für den Kläger. Der Kläger hat sowohl im Rahmen der mündlichen Verhandlung als auch gegenüber der Beklagten angegeben, dass er sich sofort nach dem ersten Schlag durch den Angreifer "gewehrt" und zurückgeschlagen habe, um weitere Verletzungen zu verhindern. Für die Kammer geht aus dieser Einlassung eindeutig hervor, dass im Zeitpunkt der tätlichen Auseinandersetzung bei dem Kläger der Selbstschutzgedanke im Vordergrund stand. Der Kläger hat auch eingeräumt, sich aktiv auf die Auseinandersetzung eingelassen zu haben. Für die Kammer stellt sich die Situation vor diesem Hintergrund dahingehend dar, dass der Kläger – als er von dem Angreifer attackiert wurde – die Schläge nicht nur geblockt und versucht hat, sich dem Angreifer zu entziehen, sondern er hat selbst aktiv in das Geschehen eingegriffen und sich positiv auf die Schlägerei eingelassen. Mit dem aktiven Eingreifen ist indes eine Zäsur eingetreten, die aus Sicht der Kammer das Hilfeleisten im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII beendet. Ein haftungsbegründender Gesundheitsschaden ist aus Sicht der Kammer jedoch insoweit eingetreten, als der Kläger unmittelbar nach seinem verbalen Eingreifen von dem Angreifer in das Gesicht geschlagen wurde und er hierdurch an der Lippe verletzt worden ist. Diese Verletzung ist noch vor der Zäsur in Form der aktiven Einlassung eingetreten und stellt somit aus Sicht der Kammer eine Verletzung im Rahmen des Hilfeleistens dar. Die Kammer ist auch im Sinne des insoweit erforderlichen "Vollbeweises" von dem Gesundheitsschaden des Klägers an der Lippe überzeugt. Zwar ist eine entsprechende Verletzung im Erste-Hilfe-Bericht des H Klinikums nicht dokumentiert. Sowohl der Kläger als auch der Zeuge D R haben die Verletzung jedoch glaubhaft beschrieben. Eine entsprechende Verletzung ist in Anbetracht des Geschehens auch naheliegend. Schlüssig war für die Kammer schließlich auch die Erklärung des Klägers, dass die Verletzung an der Lippe im Vergleich zu der Handverletzung zu geringwertig war, um in den Erste-Hilfe-Bericht aufgenommen zu werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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