S 20 SO 85/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 85/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung hat und deshalb für die Zeit vom 01.07.2009 bis 30.06.2010 zusätzliche Sozialhilfe in Höhe von 456,00 EUR beanspruchen kann.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist als Schwerbehinderter anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 50. Er leidet u.a. an - arteriellem Bluthochdruck (Hypertonie), - koronarer Herzkrankheit, - chronischer Emphysembronchitis bei Nikotinkonsum, - wiederkehrenden Oberbauchbeschwerden und Verdauungsstörungen bei Schleimhautentzündungen der Speiseröhre und des Magens, Colondivertikulose und Polypen im Dickdarm, Refluxsophagitis (GERD = Gastro Esophageal Reflux disease), - Übergewicht (Adipositas Grad I), - Fettstoffwechselstörung (Hypercholesterinämie), - wiederkehrenden LWS-Beschwerden. Er erhält von der Deutschen Rentenversicherung Bund seit 01.10.2006 Regelaltersrente und bezieht von dem Beklagten seit 01.09.2006 (ergänzende) Leistungen der Grundsicherung (GSi) im Alter nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Für die Zeit vom 01.09.2006 bis 30.06.2009 berücksichtigte der Beklagte dabei aufgrund ärztlicher Bescheinigungen der behandelnden Ärzte des Klägers einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von monatlich 38,00 EUR.

Am 18.05.2009 beantragte der Kläger GSi-Leistungen für den Bewilligungszeitraum Juli 2009 bis Juni 2010. Bezüglich eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung bezog er sich auf die vorliegenden Nachweise.

Durch Bescheid vom 30.06.2009 bewilligte der Beklagte GSi vom 01.07.2009 bis 30.06.2010, jedoch ohne einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung.

Dagegen legte der Kläger am 23.07.2009 Widerspruch ein. Er vertrat die Auffassung, da sich sein Krankheitsbild nicht verändert habe, könne er weiterhin Zusatzleistungen wegen besonderer Ernährung erhalten. Der Internist Dr. T. teilte in einer ärztlichen Bescheinigung vom 05.08.2009 mit, der Kläger bedürfe wegen koronarer Herzkrankheit, Reizdarmsyndrom bei Colondivertikulose, Hypercholesterinämie und GERD einer mit deutlichen Mehrkosten verbunden Krankenkost, da eine Vollkost nicht ausreiche.

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 02.12.2009 zurück. Er stützte sich dabei auf eine Stellungnahme des Gesundheitsamtsarztes Dr. A. vom 24.08.2009, wonach das Krankheitsbild des Klägers nach den geänderten Richtlinien keinen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung begründe. Der Beklagte wies hierzu auf die neuen ab 01.10.2008 geltenden Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., nach denen für die beim Kläger vorliegenden Krankheitsbilder Vollkost bzw. Reduktionskost ohne Verursachung von Mehrkosten angezeigt und ausreichend seien.

Dagegen hat der Kläger am 02.12.2009 Klage erhoben. Er bleibt bei seiner Auffassung, dass wegen der bei ihm bestehenden Krankheiten weiterhin ein Mehrbedarf bei der Ernährung bestehe. Der Kläger behauptet, auch kalorienreduzierte Kost sei aus Sozialhilfemitteln nicht zu finanzieren; es könne als gerichtsbekannt vorausgesetzt werden, dass kalorienreduzierte Kost mehr koste als gewöhnliche Lebensmittel. Der Kläger meint, die Empfehlungen des Deutschen Vereins seien kein antizipiertes Sachverständigengutachten.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30.06.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2009 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 01.07.2009 bis 30.06.2010 Leistungen wegen Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung in Höhe von monatlich 38,00 EUR, insgesamt 456,00 EUR zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verbleibt bei seiner in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung.

Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht die Sozialgerichtsakte S 18 SB 2/09 über ein Verfahren des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht mit einem Befundbericht von Dr. T. vom 18.04.2009, diversen Arztberichten und einem Gutachten des Internisten Dr. I. vom 25.08.2009 beigezogen. Es hat einen weiteren Befundbericht von Dr. T. und sodann ein medizinisches Sachverständigengutachten von dem Internisten und Reha-Mediziner Dr. K. eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die genannten Unterlagen, insbesondere dem Befundbericht vom 19.02.2010 und das Gutachten vom 16.09.2010 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Obwohl der Kläger zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, konnte die Kammer verhandeln und entscheiden, weil der Kläger in der ihm zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist und im Übrigen in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertreten war.

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen Anspruch auf weitere Sozialleistungen in Höhe von 456,00 EUR für die Zeit vom 01.07.2009 bis 30.06.2010 wegen Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung.

Nach § 30 Abs. 5 SGB XII wird für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder eine Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Der Kläger bedarf keiner Ernährung, deren Kosten über den üblichen Bedarf hinausgehen. Bei den bei ihm bestehenden Krankheitsbildern und seinem Übergewicht ist nach den "Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" vom 01.10.2008 (im Folgenden: Empfehlungen 2008) eine Vollkost-Ernährung angezeigt. Eine Vollkost ist eine Kost, die 1.den Bedarf an essenziellen Nährstoffen deckt, 2.in ihrem Energiegehalt den Energiebedarf berücksichtigt, 3.Erkenntnisse der Ernährungsmedizin zur Prävention und auch zur Therapie berücksichtigt, 4.in ihrer Zusammensetzung den üblichen Ernährungsgewohnheiten angepasst ist, soweit Punkt 1 bis 3 nicht tangiert werden (Definition nach: Rationalisierungsschema 2004 des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner [BDEM] e.V., der Deutschen Adipositas Gesellschaft [DAG] e.V., der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin [DAEM] e.V., der Deutschen Gesellschaft für Ernährung [DGE] e.V., der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin [DGEM] e.V., des Verbandes der Diätassistenten - Deutscher Bundesverband [VDD] e.V. und des Verbandes der Diplom-Oecotrophologen [VDOE] e.V.). Die Vollkost-Ernährung erfordert keinen krankheitsbedingten erhöhten Ernährungsaufwand und dementsprechend keinen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung. Wesentlich ist die Erhebung einer strukturierten Ernährungsanamnese, die Feststellung eines Therapieziels, die Erstellung eines individuellen Ernährungsplans und eine Ernährungs-Schulung. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ist eine vollwertige ausgewogene Ernährung (Mischkost) angezeigt, wie sie auch für gesunde Erwachsene generell empfohlen wird. Eine besondere kostenaufwändige Ernährung ist als Ernährungstherapie bei den beim Kläger bestehenden Krankheitsbildern nicht erforderlich und wird auch nicht empfohlen (so übereinstimmend: Empfehlungen 2008; Rationalisierungsschema 2004; ebenso: LSG NRW, Urteil vom 28.07.2008 - L 20 SO 13/08).

Die vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge entwickelten und an typisierten Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen können für die Entscheidung, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung besteht, herangezogen werden (vgl. BT-Drucksache 15/1516, S. 57 zu § 21 Abs. 5 SGB II). Sie sind zwar keine Rechtsnormen, können jedoch in der Fassung der Empfehlungen 2008 als "antizipiertes Sachverständigengutachten" angesehen werden (LSG NRW, Urteil vom 24.03.2010 - L 12 SO 15/09). Allerdings hatte das Bundessozialgericht (BSG) die früheren Empfehlungen des Deutschen Vereins aus dem Jahre 1997 noch nicht ("derzeit") als antizipiertes Sachverständigengutachten akzeptiert. Es hatte dies damit begründet, dass die Empfehlungen aus dem Jahre 1997 datieren, sich auf Gutachten aus den Jahren 1991 bis 1996 stützen und die inzwischen eingetretenen Entwicklungen noch nicht aktualisiert waren (BSG, Urteil vom 27.02.2008 - B 14/7 b AS 64/06 R; Urteil vom 15.04.2008 - B 14/11 b AS 3/07 R). Diese Ausgangslage hat sich jedoch durch die neuen Empfehlungen 2008 grundlegend geändert. Die Empfehlungen 2008 wurden in einer vorwiegend mit sozialrechtlichen und medizinischen Fachkräften besetzten Arbeitsgruppe erstellt. Wichtige Arbeitsgrundlagen waren das Rationalisierungsschema 2004 sowie eine wissenschaftliche Ausarbeitung der DGE zu den Lebensmittelkosten bei einer vollwertigen Ernährung von April 2008. Weiterhin wurde die einschlägige Literatur ausgewertet. Jedenfalls in Bezug auf die beim Kläger bestehenden Krankheiten geben die Empfehlungen 2008 den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand umfassend wieder (vgl. auch: LSG NRW, Beschluss vom 22.07.2009 - L 19 S 41/08; Urteil der Kammer vom 28.04.2009 - S 20 SO 82/08).

Dies wird auch durch das umfassende Gutachten des Dr. K. vom 16.09.2010, das die Kammer zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes eingeholt hat, bestätigt. Er hat dargelegt, dass die Bluthochdruckerkrankung durch eine Gewichtsreduktion günstig beeinflusst werden kann und deshalb eine spezielle Kostform nicht notwendig ist. Dasselbe gelte für die koronare Herzkrankheit. Auch die wiederkehrenden Oberbauchbeschwerden - der behandelnde Arzt Dr. T. spricht in diesem Zusammenhang von Reizdarmsyndrom bei colondivertikulose und GERD - erfordern nicht, dass eine spezielle Kostform eingehalten werden muss, die mit einem Kostenmehraufwand verbunden wäre. Auch auf die wiederkehrenden LWS-Beschwerden wirkt sich eine Gewichtsreduktion günstig aus, ohne das kostenaufwändige Ernährung eingenommen werden muss. Im Hinblick auf das Übergewicht (Adipositas Grad I) und die Fettstoffwechselstörung (Hypercholosterinämie) hat der Sachverständige überzeugend dargelegt, dass ein Übergewicht durch ein Missverhältnis zwischen Kalorienaufnahme und Kalorienverbrauch entsteht; hier sei eine Verminderung des Kalorienangebotes notwendig um das Gewicht zu reduzieren.

Aus alledem folgt, dass bei den beim Kläger vorliegenden Krankheiten eine vollwertige Ernährung genügt, die keine Ernährungsmehrkosten verursacht. Entgegen der Auffassung des Klägers ist es keinesfalls gerichtsbekannt, dass kalorienreduzierte Lebensmittel mehr kosten, als gewöhnliche Lebensmittel. Im Gegenteil: kalorienreduzierte Kost senkt die Lebensmittelkosten. Es geht nicht darum, dass der Kläger teure Light-Produkte ("Du darfst") kauft, die dem Verbraucher lediglich das Nachdenken über die Kalorienreduktion abnehmen und deshalb teurer sind, in der seriösen Ernährungswissenschaft jedoch grundsätzlich abgelehnt werden. Sich kalorienreduziert ernähren heißt, weniger und/oder bewusster zu essen und bei der Auswahl der Speisen auf die Menge (sprich: weniger) Kalorien zu achten. Dafür kann eine Ernährungsberatung nützlich sein. Eine solche Ernährung bedingt aber keinen erhöhten Sozialhilfebedarf.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat keine Veranlassung gesehen, die gem. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG grundsätzlich nicht statthafte Berufung zuzulassen, weil sie der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung beimisst (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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