Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 170/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 663/10
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 08,.12.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2010 verurteilt, für den Kläger künftig die Kosten für das Arzneimittel Alvesco® nach vertragsärztlicher Verordnung auch insoweit zu übernehmen, als sie den Festbetrag der Festbetragsgruppe "Glococorticoide, inhalativ, oral" Stufe 2, Gruppe 1 und die gesetzliche Zuzahlung übersteigen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten des Arzneimittels Alvesco® über den Festbetrag hinaus.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger leidet u.a. an Asthma bronchiale. Er wird deshalb mit inhalativem Cortison behandelt, seit 2005 mit Alvesco®. Es handelt sich dabei um ein zugelassenes Asthma-Arzneimittel mit dem Cortison-Wirkstoff Ciclesonid. Dieser gehört aufgrund des Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 21.06.2007 seit dem 29.08.2007 zur Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1. Es betragen für Alvesco® Festbetrag Apotheken VK Mehrkosten über FB 60 Hübe/160&956;g 22,91 EUR 38,35 EUR 15,44 EUR 120 Hübe/80&956;g 24,61 EUR 59,30 EUR 34,69 EUR 120 Hübe/120&956;g 33,39 EUR 66,82 EUR 33,43 EUR.
Am 06.08.2008 beantragte der Kläger die Übernahme der vollständigen Kosten für das Medikament Alvesco® unter Vorlage einer Bescheinigung seines behandelnden Internisten und Lungenfacharztes Dr. X. Dieser teilte mit, beim Kläger seien zahlreiche topische Steroide ausgetestet worden; trotz umfangreicher Mundhygiene, Überprüfung der korrekten Inhalationstechnik und Versuch der Optimierung durch den Einsatz anderer Geräte sei massiver Mundsoor aufgetreten; nur Alvesco® könne der Kläger ohne jegliche Nebenwirkungen inhalieren; aus medizinischer Sicht sei die Einnahme von Alvesco® als Mittel der Wahl ohne Alternativmöglichkeiten zwingend erforderlich. Durch Bescheid vom 04.11.2008 übernahm die Beklagte die Kosten für das Arzneimittel Alvesco® bis zum 31.07.2009.
Am 23.09.2009 stellte der Kläger einen Folgeantrag auf Übernahme der vollständigen Kosten für Alvesco® unter Vorlage befürwortender Bescheinigungen des behandelnden Facharztes. Nunmehr lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 08.12.2009, den der Kläger am 21.02.2010 erhielt, die Übernahme der Kosten für Alvesco® über den Festbetrag hinaus ab mit der Begründung, aus den eingereichten Unterlagen seien keine medizinischen Gesichtspunkte zu erkennen, die im Einzelfall eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten. Den dagegen am 09.03.2010 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19.05.2010 zurück.
Dagegen hat der Kläger am 21.06.2010 Klage erhoben. Er trägt vor, er habe seit 2004 verschiedene Arzneimittel mit anderen Corticosteroiden als dem in Alvesco® enthaltenen Wirkstoff Ciclesonid getestet. Trotz Mundhygiene und korrekter Inhalationstechnik sei immer wieder Mundsoor aufgetreten; antimykotische Präparate hätten keinen Erfolg gebracht. Erst seit der Einnahme von Alvesco® sei kein Mundsoor mehr aufgetreten. Alle anderen Arzneimittel, die zum Festbetrag erhältlich seien, enthielten Wirkstoffe (Budesonid, Beclometason oder Fluticason), die er nicht vertrage bzw. auf die er mit Nebenwirkungen reagiere. In der Vergangenheit habe er durch finanzielle Unterstützung seines Vaters die Mehrkosten für das Arzneimittel Alvesco® über den Festbetrag hinaus abfangen können; diese Möglichkeit gebe es für die Zukunft nicht mehr.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.12.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.03.201 zu verurteilen, künftig die Kosten für das Arzneimittel Alvesco® nach vertragsärztlicher Verordnung auch insoweit zu übernehmen, als sie den Festbetrg der Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1 und die gesetzliche Zuzahlung übersteigen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat eine Vielzahl von Arzneimitteln aufgelistet, die nach ihrer Auffassung zur Krankenbehandlung des Klägers zum Festbetrag verordnet werden können. Sie meint, der behandelnde Arzt habe sich keine Mühe gemacht, sich mit zuzahlungsfreien Alternativen zur Behandlung des Klägers zu beschäftigen. Die Beklagte räumt ein, dass keine der Festbetragsarzneimittel den Wirkstoff Ciclesonid enthält.
Zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht Auskünfte von Dr. Z. eingeholt. Dieser hat mit Schreiben vom 30.08.2010 mitgeteilt, es gebe kein Generikum mit dem Wirkstoff Ciclesonid; das Besondere an Ciclesonid sei, dass es ein so genanntes pro-drug sei, das heißt, die wirksame Form werde erst in der Schleimhaut der Atemwege erzeugt; dadurch seien die lokalen Nebenwirkungen in der Mundschleimhaut meist geringer. Bereits im Jahre 2004 seien beim Kläger Therapieversuche mit Budesonid-Jethaler®, Symbicort® und Ventolair® unternommen worden; dabei sei es immer zu einem Soorbefall gekommen, sodass 2005 auf Alvesco® umgestellt worden sei; dies sei bisher problemlos vertragen worden. Mit Schreiben vom 09.11.2010 hat Dr. Z. mitgeteilt, dass auf die Erprobung von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Fluticason verzichtet worden sei, da die Nebenwirkungen bekanntermaßen im gleichem Umfang zu erwarten gewesen wären wie bei den Wirkstoffen Budesonid und Beclometason, die beim Kläger angewandt worden seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Alvesco® ohne Beschränkung der Leistung der Beklagten auf die Übernahme der Kosten bis zur Höhe des Arzneimittelfestbetrages, soweit Alvesco® vertragsärztlich verordnet wird.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ausgeschlossen sind. Gemäß § 35 Abs. 1 SGB V bestimmt der G-BA in den Richtlinien, für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge festgesetzt werden können (Satz 1). In den Gruppen sollen Arzneimitteln mit 1. denselben Wirkstoffen, 2. pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, insbesondere mit chemisch verwandten Stoffen, 3. therapeutisch vergleichbarer Wirkung, insbesondere Arzneimittelkombinationen, zusammengefasst werden; unterschiedliche Bioverfügbarkeiten wirkstoffgleicher Arzneimittel sind zu berücksichtigen, sofern sie für die Therapie bedeutsam sind (Satz 2). Die nach Satz 2 Nr. 2 und 3 gebildeten Gruppen müssen gewährleisten, dass Therapiemöglichkeiten nicht eingeschränkt werden und medizinisch notwendige Verordnungsalternativen zur Verfügung; ausgenommen von diesen Gruppen sind Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren Wirkungsweise neuartig ist oder die eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen, bedeuten (Satz 3). Gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 SGB V setzt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen den jeweiligen Festbetrag auf der Grundlage von rechnerischen mittleren Tages- oder Einzeldosen oder anderen geeigneten Vergleichsgrößen fest. § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB V bestimmt, dass für ein Arzneimittel, für das ein Festbetrag festgesetzt ist, die Krankenkasse die Kosten bis zur Höhe dieses Betrages, für andere Arzneimittel die vollen Kosten, jeweils abzüglich der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlung, trägt.
Der G-BA hat mit Beschluss vom 21.06.2007 (BAnz. Nr. 160 (S. 7355) vom 28.08.2007) die Anlage 2 (seit 2009: Anlage IX) der Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) u.a. dahingehend geändert, dass die Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1, um den Wirkstoff Ciclesonid erweitert wurde. Auf der Grundlage der Festbetragsgruppeneinteilung sind Festbeträge festgesetzt worden. Aus der Differenz zwischen dem Apothekenverkaufspreis des zugelassenen und als einziges Ciclesonid-Präparat patentgeschützten Arzneimittel Alvesco®, das vom Hersteller nicht zum Festbetrag auf dem inländischen Markt angeboten wird, und dem einheitlichen Festbetrag aller in der betreffenden Festbetragsgruppe zusammengefassten Clucocorticoide resultiert eine Belastung des Klägers durch den über den Festbetrag hinaus gehenden Eigenanteil; dieser beträgt derzeit - abhängig von der Packung - zwischen 15,44 EUR und 34,69 EUR je Packung. Diese Mehrbelastung muss der Kläger nicht hinnehmen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat durch Urteil vom 17.12.2002 (1 BvL 28/95, 1 BvL 29/95 und 1 BvL 30/95) entschieden, dass die in § 35 SGB V enthaltene Ermächtigung, für Arzneimittel Festbeträge festzusetzen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es hat allerdings in der Entscheidung Anlass gesehen darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber mit der Ermächtigung zur Festsetzung von Festbeträgen das Sachleistungsprinzip nicht aufgegeben habe. Die Versicherten müssten sich nicht mit Teilkostenerstattungen zufrieden geben. Im Arzneimittelsektor müsse eine für die Therapie ausreichende Vielfalt erhalten bleiben. Daraus folgt, dass im Einzelfall die Krankenkasse ihren Versicherten ein Arzneimittel ohne Beschränkung auf den Festbetrag zur Verfügung stellen muss, wenn dieses das einzige zur Krankenbehandlung des Versicherten ausreichende, zweckmäßige und erforderliche Arzneimittel darstellt und es dazu kein gesundheitlich zumutbares, zum Festbetrag erhältliches Arzneimittel gibt. Dies trifft im Fall des Klägers für die Behandlung seines Asthmas mit Alvesco® zu.
Der Kläger ist nach Auskunft seines behandelnden Lungenfacharztes in der Vergangenheit mit verschiedenen Arzneimittel behandelt worden, die die Wirkstoffe Beclometason(dipropionat) oder Budesonid enthalten. Beclometason(dipropionat) ist z. B. in den zum Festbetrag erhältlichen Präparaten AeroBec®, BecloHEXAL®, Beclometason-CT®, Beclometason-ratiopharm®, BecloSandoz®, Bronchocort®, Cyclocaps® Beclometason, Junik®, Sanasthmax® und Ventolair® enthalten; Budesonid ist in den Festbetrags-Präparaten Budecort®, Budes®, Budesonid-CT,® Budesonid-ratiopharm®, Budesonid Sandoz®, Budiair®, Cyclocaps® Budesonid, Miflonide®, Novopulmon®, Pulmax® und Pulmicort® enthalten (Quelle: ROTE LISTE 2010). Die Wirkstoffe Beclometason(dispropionat) und Budesonid, des Weiteren die Wirkstoffe Fluticason(17-dipropionat) und Mometason (furoat) sind neben Ciclesonid in der Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" zusammengefasst. Allen Arzneimitteln, die die Wirkstoffe Beclometason, Budesonid, Fluticason (atemur®, Flutide®) oder Mometason (Asmanex®) enthalten, wird als "sehr häufig" die Nebenwirkung "Candidiasis" oder "Candidose", d.i. Mundsoor, zugeschrieben (Quelle: ROTE LISTE 2010, Präparateteil, Abschnitt B.1.1.3 "Glucocorticoide").
Diese Nebenwirkungen sind beim Kläger trotz intensiver Mundhygiene und strenger Beachtung und Kontrolle der Inhalationstechnik bei der Einnahme von Arzneimittel mit dem Wirkstoff Beclometason und Budesonid immer wieder aufgetreten. Bei dieser Sachlage kann es von ihm nicht verlangt werden, auch Festbetrags-Präparate mit den Wirkstoffen Fluticason (Flutide®) zu versuchen, da bei diesem herstellerseits die Nebenwirkung "Mundsoor" ebenfalls als "sehr häufig" angegeben wird, worauf auch der behandelnde Lungenfacharzt des Klägers hingewiesen hat. Dieselbe Nebenwirkung "Candidose" tritt auch sehr häufig bei dem Präparat Asmanex®, das den Wirkstoff Mometason enthält; dieses ist allerdings - wie auch das Fluticason enthaltende Präparat atemur ® - kein Festbetrags-Arzneimittel.
Der Kläger hat auf Alvesco® nicht mit Candidose/Mundsoor reagiert. Alvesco® ist das einzige Präparat, das den Wirkstoff Ciclesonid enthält und sowohl nach den Herstellerangaben (Quelle: ROTE LISTE 2010, Präparateteil Nr. 28 068) als auch nach der wissenschaftlichen Literatur diese Nebenwirkung nicht beschreibt. Ciclesonid (Alvesco®) ist ein Arzneistoff, der im Januar 2005 für die Behandlung des persiistierenden Ashmas bei Erwachsenen zugelassen wurde. Es handelt sich um ein inhalatives Glucocorticoid mit neuartigen pharmakokinetischen Eigenschaften, die zu einer gezielten entzündungshemmenden Wirkung in der Lunge führen. Inhalative Glucocorticoide haben zahlreiche typische Nebenwirkungen. So kann es durch eine Ablagerung im Mund und Rachenraum zu Heiserkeit, Schluckbeschwerden und Mundsoor kommen. Die pharmakokinetischen Eigenschaften von Ciclesonid führen zu einer Verminderung dieser Nebenwirkung. Bei Ciclesonid handelt es sich um Prodrug, das selbst kaum eine Affinität zu Glucocorticoid-Rezeptoren hat. Die für die Esterspaltung notwendigen Esterasen sind hauptsächlich in der Lunge lokalisiert, sodass die Wirkform direkt am Ort des Geschehens freigesetzt wird ("on-site"Aktivierung). Nach der Inhalation lagert sich Ciclesonid nur wenig im Mund- und Rachenraum ab und wird dort auch kaum aktiviert. Aufgrund dieser Eigenschaften verursacht Ciclesonid nachweislich weniger lokale Nebenwirkungen als andere Glucocorticoide wie z.B. Fluticason. In einer vergleichenden Untersuchung hat sich gezeigt, dass die Häufigkeit von Candia-Mykosen unter Therapie mit Ciclesonid geringer ist als unter Fluticason (Quelle: Apothekenmagazin 2006; 24 (06): 146-148 und www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/apothekenmagazin/Serie%20Neue%20 Arzneimittel/2006-06.pdf).
Bei dieser Sachlage begegnet es nach Auffassung der Kammer erheblichen Zweifeln, ob die Aufnahme von Ciclesonid in die Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1 durch den Beschluss des G-BA vom 21.06.2007 von der gesetzlichen Ermächtigung des § 35 Abs. 1 SGB V gedeckt ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Vorgabe des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB V, wonach Therapiemöglichkeiten nicht eingeschränkt werden und medizinische notwendige Verordnungsalternativen zur Verfügung stehen müssen und von den Festbetragsgruppen Arzneimittel mit patentgeschützen Wirkstoffen ausgenommen sind, deren Wirkungsweise neuartig ist oder die "eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen, bedeuten". Wenn Alvesco® mit dem Wirkstoff Ciclesonid als einziges Glucocorticoid zur Behandlung von Asthma nicht oder nur in erheblich geringerem Umfang die Nebenwirkung Candidose/Mundsoor hat, liegt darin nach Auffassung der Kammer eine therapeutische Verbesserung, die nach der Vorgabe des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB V einer Aufnahme des Wirkstoffs Ciclesonid in die Festbetragsgruppe entgegenstehen könnte. Allerdings verkennt die Kammer nicht, dass sich der G-BA bei seinen Beratungen seinerzeit auch mit der Thematik der geringeren Nebenwirkungen des Wirkstoffes Ciclesonid befasst hat. In den auf der Internet-Seite des G-BA abrufbaren "Tragenden Gründe" zum Beschluss vom 21.06.2007 wird auf Seite 16 der Einwand (9) dargestellt: "Der patentgeschützte Wirkstoff Ciclesonid stellt gegenüber den übrigen Vertretern der Festbetragsgruppe eine therapeutische Verbesserung dar. Ciclesonid wird als inaktive Ausgangssubstanz inhaliert und erst durch Esterasen in der Lunge in den aktiven Wirkstoff umgewandelt. Daraus ergibt sich eine verbesserte lokale Verträglichkeit, da die unerwünschte Arzneimittelwirkung einer oralen Candidiasis im Gegensatz zu anderen inhalativen Glucocorticoiden auf Placebo-Niveau liegt und deshalb im Vergleich zu den anderen Wirkstoffen der Festbetragsgruppe nicht in der Fachinformation aufgeführt werden muss. Dazu heißt es in der Stellungnahme des G-BA (Tragende Gründe, S. 17f.): "Aus den Angaben der Fachinformationen der anderen Glucocorticoid-haltigen Arzneimittel über die Inzidenz der Candidose wird nicht ersichtlich, wie hoch diese jeweils im Vergleich zu Placebo war. Auch geht umgekehrt aus der Fachinformation von Alevesco® (Ciclesonid) die Höhe des Placeboniveaus des Mundsoors nicht hervor, sodass ein indirekter Vergleich nicht vorgenommen werden kann ... Prinzipiell kann das therapeutische Ziel mit anderen inhalativen Glucocorticoiden der Festbetragsgruppe auch ohne Auftreten von Mundsoor erreicht werden, z.B. durch die Wahl eines individuell geeigneten Devices, durch korrekte Inhalationstechnik, Anwendung vor den Mahlzeiten oder Ausspülen des Mundes nach der Wirkstoffinhalation ... Insgesamt können die vorgetragenen Argumente daher nicht als hinreichender Beleg für eine therapeutische Verbesserung durch Ciclesonid angesehen werden, zumal auch nicht dargelegt wird, dass im Vergleich zu den anderen Vertretern der Festbetragsgruppe das Therapieziel durch signifikant unterschiedliches Auftreten von Mundsoor relevant beeinflusst würde."
Die Kammer hat vorliegend nicht darüber zu entscheiden, ob die Einordnung von Ciclesonid in die Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. Vielmehr geht es allein darum, ob im speziellen Einzelfall des Kägers bei der Verordnung von Alvesco® die Beklagte ihre Leistungspflicht auf den Festbetrag begrenzen kann. Unter Berücksichtigung aller ihr bekannt gewordenen medizinischen Umstände und unter Berücksichtigung auch und gerade der tragenden Gründe des G-BA-Festbetragsgruppenbeschlusses vom 21.06.2007 in Bezug auf den Wirkstoff Ciclesonid ist die Kammer in Ansehung der Entscheidung des BVerfG vom 17.12.2002 zur Überzeugung gelangt, dass dem Kläger bei vertragsärztlicher Verordnung das Arzneimittel Alvesco® ohne Beschränkung auf den Festbetrag zu gewähren ist und er lediglich die gesetzliche Zuzahlung nach § 61 SGB V zu leisten hat. Der G-BA hat den Wirkstoff Ciclesonid in die Festbetragsgruppe aufgenommen, weil er die Datenlage bezüglich signifikant geringerer Nebenwirkungen im Vergleich zu anderen Glucocorticoiden als nicht ausreichend bzw. vergleichbar und im Übrigen "prinzipiell" das therapeutische Ziel mit anderen inhalativen Glucocorticoiden der Festbetragsgruppe auch ohne Auftreten von Mundsoor als erreichbar ansah. Diese Aussagen mögen für eine Vielzahl anderer Fälle zutreffen, finden jedoch auf den Kläger keine Anwendung. Wie der behandelnde Lungenfacharzt wiederholt und überzeugend dargelegt hat, ist es beim Kläger bei Anwendung anderer inhalativer Glucocorticoide, speziell Beclometason und Budesonid, immer wieder zu Mundsoor gekommen. Und - anders als vom G-BA "prinzipiell" angenommen - hat bei ihm das Auftreten von Mundsoor auch nicht durch besondere Beachtung der Mundhygiene und die korrekte Inhalationstechnik vermieden werden können. Bei ihm ist derzeit Alvesco® mit dem Wirkstoff Ciclesonid die einzige Möglichkeit, um seine Asthmaerkrankung ohne das Auftreten von Mundsoor als Nebenwirkung zu behandeln. Dies begründet seinen Anspruch auf Versorgung mit Alvesco® zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Beschränkung auf den Festbetrag.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten des Arzneimittels Alvesco® über den Festbetrag hinaus.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger leidet u.a. an Asthma bronchiale. Er wird deshalb mit inhalativem Cortison behandelt, seit 2005 mit Alvesco®. Es handelt sich dabei um ein zugelassenes Asthma-Arzneimittel mit dem Cortison-Wirkstoff Ciclesonid. Dieser gehört aufgrund des Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 21.06.2007 seit dem 29.08.2007 zur Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1. Es betragen für Alvesco® Festbetrag Apotheken VK Mehrkosten über FB 60 Hübe/160&956;g 22,91 EUR 38,35 EUR 15,44 EUR 120 Hübe/80&956;g 24,61 EUR 59,30 EUR 34,69 EUR 120 Hübe/120&956;g 33,39 EUR 66,82 EUR 33,43 EUR.
Am 06.08.2008 beantragte der Kläger die Übernahme der vollständigen Kosten für das Medikament Alvesco® unter Vorlage einer Bescheinigung seines behandelnden Internisten und Lungenfacharztes Dr. X. Dieser teilte mit, beim Kläger seien zahlreiche topische Steroide ausgetestet worden; trotz umfangreicher Mundhygiene, Überprüfung der korrekten Inhalationstechnik und Versuch der Optimierung durch den Einsatz anderer Geräte sei massiver Mundsoor aufgetreten; nur Alvesco® könne der Kläger ohne jegliche Nebenwirkungen inhalieren; aus medizinischer Sicht sei die Einnahme von Alvesco® als Mittel der Wahl ohne Alternativmöglichkeiten zwingend erforderlich. Durch Bescheid vom 04.11.2008 übernahm die Beklagte die Kosten für das Arzneimittel Alvesco® bis zum 31.07.2009.
Am 23.09.2009 stellte der Kläger einen Folgeantrag auf Übernahme der vollständigen Kosten für Alvesco® unter Vorlage befürwortender Bescheinigungen des behandelnden Facharztes. Nunmehr lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 08.12.2009, den der Kläger am 21.02.2010 erhielt, die Übernahme der Kosten für Alvesco® über den Festbetrag hinaus ab mit der Begründung, aus den eingereichten Unterlagen seien keine medizinischen Gesichtspunkte zu erkennen, die im Einzelfall eine andere Entscheidung rechtfertigen könnten. Den dagegen am 09.03.2010 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 19.05.2010 zurück.
Dagegen hat der Kläger am 21.06.2010 Klage erhoben. Er trägt vor, er habe seit 2004 verschiedene Arzneimittel mit anderen Corticosteroiden als dem in Alvesco® enthaltenen Wirkstoff Ciclesonid getestet. Trotz Mundhygiene und korrekter Inhalationstechnik sei immer wieder Mundsoor aufgetreten; antimykotische Präparate hätten keinen Erfolg gebracht. Erst seit der Einnahme von Alvesco® sei kein Mundsoor mehr aufgetreten. Alle anderen Arzneimittel, die zum Festbetrag erhältlich seien, enthielten Wirkstoffe (Budesonid, Beclometason oder Fluticason), die er nicht vertrage bzw. auf die er mit Nebenwirkungen reagiere. In der Vergangenheit habe er durch finanzielle Unterstützung seines Vaters die Mehrkosten für das Arzneimittel Alvesco® über den Festbetrag hinaus abfangen können; diese Möglichkeit gebe es für die Zukunft nicht mehr.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.12.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.03.201 zu verurteilen, künftig die Kosten für das Arzneimittel Alvesco® nach vertragsärztlicher Verordnung auch insoweit zu übernehmen, als sie den Festbetrg der Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1 und die gesetzliche Zuzahlung übersteigen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat eine Vielzahl von Arzneimitteln aufgelistet, die nach ihrer Auffassung zur Krankenbehandlung des Klägers zum Festbetrag verordnet werden können. Sie meint, der behandelnde Arzt habe sich keine Mühe gemacht, sich mit zuzahlungsfreien Alternativen zur Behandlung des Klägers zu beschäftigen. Die Beklagte räumt ein, dass keine der Festbetragsarzneimittel den Wirkstoff Ciclesonid enthält.
Zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das Gericht Auskünfte von Dr. Z. eingeholt. Dieser hat mit Schreiben vom 30.08.2010 mitgeteilt, es gebe kein Generikum mit dem Wirkstoff Ciclesonid; das Besondere an Ciclesonid sei, dass es ein so genanntes pro-drug sei, das heißt, die wirksame Form werde erst in der Schleimhaut der Atemwege erzeugt; dadurch seien die lokalen Nebenwirkungen in der Mundschleimhaut meist geringer. Bereits im Jahre 2004 seien beim Kläger Therapieversuche mit Budesonid-Jethaler®, Symbicort® und Ventolair® unternommen worden; dabei sei es immer zu einem Soorbefall gekommen, sodass 2005 auf Alvesco® umgestellt worden sei; dies sei bisher problemlos vertragen worden. Mit Schreiben vom 09.11.2010 hat Dr. Z. mitgeteilt, dass auf die Erprobung von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Fluticason verzichtet worden sei, da die Nebenwirkungen bekanntermaßen im gleichem Umfang zu erwarten gewesen wären wie bei den Wirkstoffen Budesonid und Beclometason, die beim Kläger angewandt worden seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Alvesco® ohne Beschränkung der Leistung der Beklagten auf die Übernahme der Kosten bis zur Höhe des Arzneimittelfestbetrages, soweit Alvesco® vertragsärztlich verordnet wird.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 ausgeschlossen sind. Gemäß § 35 Abs. 1 SGB V bestimmt der G-BA in den Richtlinien, für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge festgesetzt werden können (Satz 1). In den Gruppen sollen Arzneimitteln mit 1. denselben Wirkstoffen, 2. pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, insbesondere mit chemisch verwandten Stoffen, 3. therapeutisch vergleichbarer Wirkung, insbesondere Arzneimittelkombinationen, zusammengefasst werden; unterschiedliche Bioverfügbarkeiten wirkstoffgleicher Arzneimittel sind zu berücksichtigen, sofern sie für die Therapie bedeutsam sind (Satz 2). Die nach Satz 2 Nr. 2 und 3 gebildeten Gruppen müssen gewährleisten, dass Therapiemöglichkeiten nicht eingeschränkt werden und medizinisch notwendige Verordnungsalternativen zur Verfügung; ausgenommen von diesen Gruppen sind Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren Wirkungsweise neuartig ist oder die eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen, bedeuten (Satz 3). Gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 SGB V setzt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen den jeweiligen Festbetrag auf der Grundlage von rechnerischen mittleren Tages- oder Einzeldosen oder anderen geeigneten Vergleichsgrößen fest. § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB V bestimmt, dass für ein Arzneimittel, für das ein Festbetrag festgesetzt ist, die Krankenkasse die Kosten bis zur Höhe dieses Betrages, für andere Arzneimittel die vollen Kosten, jeweils abzüglich der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlung, trägt.
Der G-BA hat mit Beschluss vom 21.06.2007 (BAnz. Nr. 160 (S. 7355) vom 28.08.2007) die Anlage 2 (seit 2009: Anlage IX) der Richtlinie über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) u.a. dahingehend geändert, dass die Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1, um den Wirkstoff Ciclesonid erweitert wurde. Auf der Grundlage der Festbetragsgruppeneinteilung sind Festbeträge festgesetzt worden. Aus der Differenz zwischen dem Apothekenverkaufspreis des zugelassenen und als einziges Ciclesonid-Präparat patentgeschützten Arzneimittel Alvesco®, das vom Hersteller nicht zum Festbetrag auf dem inländischen Markt angeboten wird, und dem einheitlichen Festbetrag aller in der betreffenden Festbetragsgruppe zusammengefassten Clucocorticoide resultiert eine Belastung des Klägers durch den über den Festbetrag hinaus gehenden Eigenanteil; dieser beträgt derzeit - abhängig von der Packung - zwischen 15,44 EUR und 34,69 EUR je Packung. Diese Mehrbelastung muss der Kläger nicht hinnehmen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat durch Urteil vom 17.12.2002 (1 BvL 28/95, 1 BvL 29/95 und 1 BvL 30/95) entschieden, dass die in § 35 SGB V enthaltene Ermächtigung, für Arzneimittel Festbeträge festzusetzen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es hat allerdings in der Entscheidung Anlass gesehen darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber mit der Ermächtigung zur Festsetzung von Festbeträgen das Sachleistungsprinzip nicht aufgegeben habe. Die Versicherten müssten sich nicht mit Teilkostenerstattungen zufrieden geben. Im Arzneimittelsektor müsse eine für die Therapie ausreichende Vielfalt erhalten bleiben. Daraus folgt, dass im Einzelfall die Krankenkasse ihren Versicherten ein Arzneimittel ohne Beschränkung auf den Festbetrag zur Verfügung stellen muss, wenn dieses das einzige zur Krankenbehandlung des Versicherten ausreichende, zweckmäßige und erforderliche Arzneimittel darstellt und es dazu kein gesundheitlich zumutbares, zum Festbetrag erhältliches Arzneimittel gibt. Dies trifft im Fall des Klägers für die Behandlung seines Asthmas mit Alvesco® zu.
Der Kläger ist nach Auskunft seines behandelnden Lungenfacharztes in der Vergangenheit mit verschiedenen Arzneimittel behandelt worden, die die Wirkstoffe Beclometason(dipropionat) oder Budesonid enthalten. Beclometason(dipropionat) ist z. B. in den zum Festbetrag erhältlichen Präparaten AeroBec®, BecloHEXAL®, Beclometason-CT®, Beclometason-ratiopharm®, BecloSandoz®, Bronchocort®, Cyclocaps® Beclometason, Junik®, Sanasthmax® und Ventolair® enthalten; Budesonid ist in den Festbetrags-Präparaten Budecort®, Budes®, Budesonid-CT,® Budesonid-ratiopharm®, Budesonid Sandoz®, Budiair®, Cyclocaps® Budesonid, Miflonide®, Novopulmon®, Pulmax® und Pulmicort® enthalten (Quelle: ROTE LISTE 2010). Die Wirkstoffe Beclometason(dispropionat) und Budesonid, des Weiteren die Wirkstoffe Fluticason(17-dipropionat) und Mometason (furoat) sind neben Ciclesonid in der Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" zusammengefasst. Allen Arzneimitteln, die die Wirkstoffe Beclometason, Budesonid, Fluticason (atemur®, Flutide®) oder Mometason (Asmanex®) enthalten, wird als "sehr häufig" die Nebenwirkung "Candidiasis" oder "Candidose", d.i. Mundsoor, zugeschrieben (Quelle: ROTE LISTE 2010, Präparateteil, Abschnitt B.1.1.3 "Glucocorticoide").
Diese Nebenwirkungen sind beim Kläger trotz intensiver Mundhygiene und strenger Beachtung und Kontrolle der Inhalationstechnik bei der Einnahme von Arzneimittel mit dem Wirkstoff Beclometason und Budesonid immer wieder aufgetreten. Bei dieser Sachlage kann es von ihm nicht verlangt werden, auch Festbetrags-Präparate mit den Wirkstoffen Fluticason (Flutide®) zu versuchen, da bei diesem herstellerseits die Nebenwirkung "Mundsoor" ebenfalls als "sehr häufig" angegeben wird, worauf auch der behandelnde Lungenfacharzt des Klägers hingewiesen hat. Dieselbe Nebenwirkung "Candidose" tritt auch sehr häufig bei dem Präparat Asmanex®, das den Wirkstoff Mometason enthält; dieses ist allerdings - wie auch das Fluticason enthaltende Präparat atemur ® - kein Festbetrags-Arzneimittel.
Der Kläger hat auf Alvesco® nicht mit Candidose/Mundsoor reagiert. Alvesco® ist das einzige Präparat, das den Wirkstoff Ciclesonid enthält und sowohl nach den Herstellerangaben (Quelle: ROTE LISTE 2010, Präparateteil Nr. 28 068) als auch nach der wissenschaftlichen Literatur diese Nebenwirkung nicht beschreibt. Ciclesonid (Alvesco®) ist ein Arzneistoff, der im Januar 2005 für die Behandlung des persiistierenden Ashmas bei Erwachsenen zugelassen wurde. Es handelt sich um ein inhalatives Glucocorticoid mit neuartigen pharmakokinetischen Eigenschaften, die zu einer gezielten entzündungshemmenden Wirkung in der Lunge führen. Inhalative Glucocorticoide haben zahlreiche typische Nebenwirkungen. So kann es durch eine Ablagerung im Mund und Rachenraum zu Heiserkeit, Schluckbeschwerden und Mundsoor kommen. Die pharmakokinetischen Eigenschaften von Ciclesonid führen zu einer Verminderung dieser Nebenwirkung. Bei Ciclesonid handelt es sich um Prodrug, das selbst kaum eine Affinität zu Glucocorticoid-Rezeptoren hat. Die für die Esterspaltung notwendigen Esterasen sind hauptsächlich in der Lunge lokalisiert, sodass die Wirkform direkt am Ort des Geschehens freigesetzt wird ("on-site"Aktivierung). Nach der Inhalation lagert sich Ciclesonid nur wenig im Mund- und Rachenraum ab und wird dort auch kaum aktiviert. Aufgrund dieser Eigenschaften verursacht Ciclesonid nachweislich weniger lokale Nebenwirkungen als andere Glucocorticoide wie z.B. Fluticason. In einer vergleichenden Untersuchung hat sich gezeigt, dass die Häufigkeit von Candia-Mykosen unter Therapie mit Ciclesonid geringer ist als unter Fluticason (Quelle: Apothekenmagazin 2006; 24 (06): 146-148 und www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/apothekenmagazin/Serie%20Neue%20 Arzneimittel/2006-06.pdf).
Bei dieser Sachlage begegnet es nach Auffassung der Kammer erheblichen Zweifeln, ob die Aufnahme von Ciclesonid in die Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" der Stufe 2, Gruppe 1 durch den Beschluss des G-BA vom 21.06.2007 von der gesetzlichen Ermächtigung des § 35 Abs. 1 SGB V gedeckt ist. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Vorgabe des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB V, wonach Therapiemöglichkeiten nicht eingeschränkt werden und medizinische notwendige Verordnungsalternativen zur Verfügung stehen müssen und von den Festbetragsgruppen Arzneimittel mit patentgeschützen Wirkstoffen ausgenommen sind, deren Wirkungsweise neuartig ist oder die "eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen, bedeuten". Wenn Alvesco® mit dem Wirkstoff Ciclesonid als einziges Glucocorticoid zur Behandlung von Asthma nicht oder nur in erheblich geringerem Umfang die Nebenwirkung Candidose/Mundsoor hat, liegt darin nach Auffassung der Kammer eine therapeutische Verbesserung, die nach der Vorgabe des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB V einer Aufnahme des Wirkstoffs Ciclesonid in die Festbetragsgruppe entgegenstehen könnte. Allerdings verkennt die Kammer nicht, dass sich der G-BA bei seinen Beratungen seinerzeit auch mit der Thematik der geringeren Nebenwirkungen des Wirkstoffes Ciclesonid befasst hat. In den auf der Internet-Seite des G-BA abrufbaren "Tragenden Gründe" zum Beschluss vom 21.06.2007 wird auf Seite 16 der Einwand (9) dargestellt: "Der patentgeschützte Wirkstoff Ciclesonid stellt gegenüber den übrigen Vertretern der Festbetragsgruppe eine therapeutische Verbesserung dar. Ciclesonid wird als inaktive Ausgangssubstanz inhaliert und erst durch Esterasen in der Lunge in den aktiven Wirkstoff umgewandelt. Daraus ergibt sich eine verbesserte lokale Verträglichkeit, da die unerwünschte Arzneimittelwirkung einer oralen Candidiasis im Gegensatz zu anderen inhalativen Glucocorticoiden auf Placebo-Niveau liegt und deshalb im Vergleich zu den anderen Wirkstoffen der Festbetragsgruppe nicht in der Fachinformation aufgeführt werden muss. Dazu heißt es in der Stellungnahme des G-BA (Tragende Gründe, S. 17f.): "Aus den Angaben der Fachinformationen der anderen Glucocorticoid-haltigen Arzneimittel über die Inzidenz der Candidose wird nicht ersichtlich, wie hoch diese jeweils im Vergleich zu Placebo war. Auch geht umgekehrt aus der Fachinformation von Alevesco® (Ciclesonid) die Höhe des Placeboniveaus des Mundsoors nicht hervor, sodass ein indirekter Vergleich nicht vorgenommen werden kann ... Prinzipiell kann das therapeutische Ziel mit anderen inhalativen Glucocorticoiden der Festbetragsgruppe auch ohne Auftreten von Mundsoor erreicht werden, z.B. durch die Wahl eines individuell geeigneten Devices, durch korrekte Inhalationstechnik, Anwendung vor den Mahlzeiten oder Ausspülen des Mundes nach der Wirkstoffinhalation ... Insgesamt können die vorgetragenen Argumente daher nicht als hinreichender Beleg für eine therapeutische Verbesserung durch Ciclesonid angesehen werden, zumal auch nicht dargelegt wird, dass im Vergleich zu den anderen Vertretern der Festbetragsgruppe das Therapieziel durch signifikant unterschiedliches Auftreten von Mundsoor relevant beeinflusst würde."
Die Kammer hat vorliegend nicht darüber zu entscheiden, ob die Einordnung von Ciclesonid in die Festbetragsgruppe "Glucocorticoide, inhalativ, oral" von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. Vielmehr geht es allein darum, ob im speziellen Einzelfall des Kägers bei der Verordnung von Alvesco® die Beklagte ihre Leistungspflicht auf den Festbetrag begrenzen kann. Unter Berücksichtigung aller ihr bekannt gewordenen medizinischen Umstände und unter Berücksichtigung auch und gerade der tragenden Gründe des G-BA-Festbetragsgruppenbeschlusses vom 21.06.2007 in Bezug auf den Wirkstoff Ciclesonid ist die Kammer in Ansehung der Entscheidung des BVerfG vom 17.12.2002 zur Überzeugung gelangt, dass dem Kläger bei vertragsärztlicher Verordnung das Arzneimittel Alvesco® ohne Beschränkung auf den Festbetrag zu gewähren ist und er lediglich die gesetzliche Zuzahlung nach § 61 SGB V zu leisten hat. Der G-BA hat den Wirkstoff Ciclesonid in die Festbetragsgruppe aufgenommen, weil er die Datenlage bezüglich signifikant geringerer Nebenwirkungen im Vergleich zu anderen Glucocorticoiden als nicht ausreichend bzw. vergleichbar und im Übrigen "prinzipiell" das therapeutische Ziel mit anderen inhalativen Glucocorticoiden der Festbetragsgruppe auch ohne Auftreten von Mundsoor als erreichbar ansah. Diese Aussagen mögen für eine Vielzahl anderer Fälle zutreffen, finden jedoch auf den Kläger keine Anwendung. Wie der behandelnde Lungenfacharzt wiederholt und überzeugend dargelegt hat, ist es beim Kläger bei Anwendung anderer inhalativer Glucocorticoide, speziell Beclometason und Budesonid, immer wieder zu Mundsoor gekommen. Und - anders als vom G-BA "prinzipiell" angenommen - hat bei ihm das Auftreten von Mundsoor auch nicht durch besondere Beachtung der Mundhygiene und die korrekte Inhalationstechnik vermieden werden können. Bei ihm ist derzeit Alvesco® mit dem Wirkstoff Ciclesonid die einzige Möglichkeit, um seine Asthmaerkrankung ohne das Auftreten von Mundsoor als Nebenwirkung zu behandeln. Dies begründet seinen Anspruch auf Versorgung mit Alvesco® zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ohne Beschränkung auf den Festbetrag.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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