Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 SO 55/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 106/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Rechtsgrundlage einer "Stornierung" von Leistungen – Sofortvollzug - zum Streitgegenstand im einstweiligen Rechtsschutz - Vorwegnahme der Rücknahmeentscheidung im "kalten Vollzug"- Ermessen über Art und Maß der Leistungserbringung im SGB XII
1. In Anordnungssachen fällt der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen dabei umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt.
2. In Anordnungssachen sind vorab die formalen Voraussetzungen der verwaltungsseitigen Anordnung zu prüfen.
3. Die Anordnung des Sofortvollzugs durch die Verwaltung muss eine schriftliche Begründung des besonderen Interesses enthalten, das die sofortige Vollziehung rechtfertigen soll.
4. Das Übergehen eines wesentlichen Abwägungsgesichtspunktes (hier: Einstellen der Leistung ohne Rechtsgrundlage) führt zur Aufhebung der Vollziehung.
5.Im Wege der Folgenbeseitigung kann das Gericht gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 SGG iVm § 938 Abs. 1 ZPO die Aufhebung der Vollziehung sowie weitere Maßnahmen anordnen.
1. In Anordnungssachen fällt der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen dabei umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt.
2. In Anordnungssachen sind vorab die formalen Voraussetzungen der verwaltungsseitigen Anordnung zu prüfen.
3. Die Anordnung des Sofortvollzugs durch die Verwaltung muss eine schriftliche Begründung des besonderen Interesses enthalten, das die sofortige Vollziehung rechtfertigen soll.
4. Das Übergehen eines wesentlichen Abwägungsgesichtspunktes (hier: Einstellen der Leistung ohne Rechtsgrundlage) führt zur Aufhebung der Vollziehung.
5.Im Wege der Folgenbeseitigung kann das Gericht gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 SGG iVm § 938 Abs. 1 ZPO die Aufhebung der Vollziehung sowie weitere Maßnahmen anordnen.
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss vom 17. Mai 2010 wird unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Augsburg vom 17.05.2010 Ziffer IV (sofortige Vollziehbarkeit der Rücknahme des Bescheides vom 27.07.2009) des Bescheides vom 23.4.2010 aufgehoben.
II. Dem Antragsteller sind seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der 1935 geborene Antragsteller bezog ab 01.02.2006 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom Antragsgegner. Dieser stellte aber am 29.07.2009 die Zahlungen ein ("Stornierung").
Am 04.05.2010 verlangte der Antragsteller eine "einstweilige Anordnung" vom Sozialgericht Augsburg (SG). Schon zuvor hatte er am 23.04.2010 Klage (Az. S 15 SO 42/10) erhoben.
Mit seiner Klage wendet sich der Antragsteller gegen die mit Bescheid vom 23.04.2010 vom Antragsgegner vorgenommene Rücknahme aller Bewilligungsbescheide seit dem 27.10.2006 sowie die Rücknahme eines Bescheides vom 27.01.2010, mit dem ihm die Weiterzahlung der Grundsicherung abgelehnt worden ist. Zuletzt hatte aber der Antragsgegner mit Bescheid vom 27.07.2009 Grundsicherungsleistungen vom 01.05.2009 bis 30.04.2010 bewilligt. Der Bescheid vom 23.04.2010 enthält auch einen Rückforderungsbescheid, mit dem die für die Zeit ab 01.04.2006 bewilligten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 11.713,55 EUR zurückgefordert wurden. Die Erstattung habe innerhalb von vier Wochen nach Bestandskraft des Bescheides zu erfolgen. Die Entscheidung wurde in Ziffer IV bezogen auf den Bescheid vom 27.07.2009 für sofort vollziehbar erklärt.
Am 30.05.2010 hatte der Antragsteller Widerspruch beim Antragsgegner erhoben.
Mit Beschluss vom 17.05.2010 hat das SG "den Antrag abgelehnt". Dazu hat es ausgeführt, dass der Antragsteller am 04.05.2010 zwar einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt habe. Das Vorbringen sei in der Sache aber so zu verstehen, dass es dem Antragsteller ausschließlich um Zahlung ausstehender Leistungen durch den Antragsgegner gehe, nicht um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Rückforderung im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.04.2010. Für eine Verpflichtung des Antragsgegners zu einer vorläufigen Nachbezahlung der ausstehenden Leistungen bis 30.04.2010 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache müsste eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Antragsgegner die Leistungsbewilligung zu Unrecht aufgehoben habe, wovon nicht auszugehen sei.
Am 25.05.2010 hat der Kläger gegen den am 21.05.2010 zugestellten Beschluss Beschwerde eingelegt. In einem an das SG am 25.05.2010 gerichteten Schriftsatz beantragte der Ast, ihm die zustehenden Grundsicherungsleistungen unverzüglich "weiterzugewähren" - bzw. rückwirkend seit April 2009. Der Eilantrag sei schon deswegen geboten, weil die Lebenshaltung nicht mit einer Rente von 293 Euro möglich sei.
Am 26.05.2010 hat der Antragsteller seine Klage zurückgenommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Das Rechtsschutzbedürfnis ist durch die Rücknahme der Hauptsache per Fax am 26.05.2010 (Klage unter dem Aktenzeichen S 15 SO 42/10) nicht entfallen. Der Widerspruch des Antragstellers vom 04.05.2010 (Schriftsatz 01.05.2010) gegen den Bescheid vom 23.04.2010 ist bei der Antragsgegnerin noch anhängig. Dessen aufschiebende Wirkung ist weiterhin im Streit. Gleichzeitig mit der Klage wollte der Kläger nicht seinen Widerspruch zurücknehmen. Vielmehr kam zum Ausdruck, dass seine Rechtsanwälte später erneut Klage erheben würden. Damit zeigt sich, dass er sich bewusst war, dass eine notwendige Sachurteilsvoraussetzung (gehörige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens) gefehlt hat.
Der Antrag ist seinem Gegenstand nach in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Bescheid vom 23.04.2010 erfolgt. Darin regelte die Antragsgegnerin die Rücknahme aller Bewilligungsbescheide seit dem 27.10.2006 sowie die Rücknahme eines Ablehnungsbescheides vom 27.01.2010 auf Weiterzahlung der Grundsicherung. Die Rücknahmeentscheidung wurde in Bezug auf den Bescheid vom 27.07.2009, mit dem der Antragsgegner zuletzt Grundsicherungsleistungen ab 01.05.2009 bis 30.04.2010 bewilligt hatte, für sofort vollziehbar erklärt.
Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes ist damit nach Auslegung durch den Senat der Wille des Klägers, die Vollziehbarkeit der oben genannten Regelungen aufzuschieben. Eine Anordnung als Regelung für den Zeitraum nach dem 01.05.2010 kann damit nicht Gegenstand dieses Verfahrens sein. Ein derartiger Antrag vom 25.05.2010 ist erst nach Existenz (Bekanntgabe) des angefochtenen Beschlusses in vom 17.05.2010 beim SG gestellt worden. Eine entsprechende Änderung des Gegenstandes im Sinne von § 99 SGG analog ist nicht sachdienlich. Die Antragsgegnerin hat sich hierzu auch nicht eingelassen und damit einer Änderung in entsprechender Anwendung von § 99 Abs. 2 SGG nicht zugestimmt (vergleiche Schriftsatz vom 01.06.2010). Dies hat zur Folge, dass es sich beim SG noch um einen offenen Antrag auf eine einstweilige Anordnung für den Zeitraum ab dem 01.05.2010 handelt
Soweit es die Rücknahme des eine Leistung ablehnenden Bescheides vom 27.01.2010 betrifft, ist eine mögliche Vollziehbarkeit nicht gegeben. Die Antragsgegnerin hatte durch die Rücknahme gerade Abstand von ihrer früheren Regelung genommen und dadurch den Zustand hergestellt, dass die Bewilligungsentscheidung vom 01.05.2009 bis 30.04.2010 unangefochten gegolten hat. Insoweit (wegen der Rücknahme) besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für den Antragsteller auf Maßnahmen im einstweiligen Rechtsschutz.
Soweit aber den bisher erfolgten Leistungen durch Aufhebung ihrer zu Grunde liegenden Feststellungen ein Rechtsgrund genommen werden sollten, hat die Antragsgegnerin eine differenzierte Regelung der Vollziehbarkeit beabsichtigt. Denn sie hat die Rücknahmeentscheidung für den Bescheid vom 27.07.2009 für sofort vollziehbar erklärt, wohingegen sie die Erstattung der ausgezahlten Leistungen auf einen Zeitpunkt innerhalb von vier Wochen nach Bestandskraft des Bescheides zurückgestellt wissen wollte.
Hinsichtlich des Erstattungsanspruches hat die Antragsgegnerin lediglich die geltende Rechtslage wiederholt. Nach § 86a Abs. 1 SGG hat der Widerspruch des Klägers aufschiebende Wirkung. Es besteht kein Grund des Entfallens dieser Wirkung (§ 86a Abs. 2 SGG). Das gilt auch für Rücknahmen anderer Bescheide als desjenigen vom 27.07.2009. Es handelt sich hier nicht um die Entziehung einer laufenden Leistung, schon gar nicht in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der Bundesagentur für Arbeit oder in Angelegenheiten der Sozialversicherung (vgl. § 86a Abs. 2 Nrn. 2 und 3). Eine Regelung im Sinne von § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG existiert in der Sozialhilfe, anders als in der Grundsicherung Erwerbsfähige (§ 39 Nr. 1, 1. Alt. SGB II) nicht.
Der Antragsgegner hat aber verwaltungsseitig einen Entfall der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Rücknahme des Bescheides vom 27.07.2009 bewirkt. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung auch in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.
Richtiger Rechtsbehelf hiergegen ist die Anrufung des Gerichts nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Den Maßstab für eine entsprechende Prüfung nennt das Gesetz nicht. Er ist nach der Literatur (vgl. etwa Lüdtke/Binder, Sozialgerichtsgesetz SGG § 86b Rn 15 - 20) durch eine analoge Anwendung des § 86a Abs. 2 Nr. 5 zu schließen. Das Gericht nimmt dazu eine eigenständige Abwägung der beteiligten Interessen nach den auch für die Verwaltung geltenden Grundsätzen vor. Der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen fällt dabei umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt. Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten der Antragstellers nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, mit denen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage aber erfolglos bliebe.
Vorab sind aber die formalen Voraussetzungen der verwaltungsseitigen Anordnung zu prüfen. Sie muss eine schriftliche Begründung des besonderen Interesses enthalten, das die sofortige Vollziehung rechtfertigen soll. Dies dient zunächst der Information des Betroffenen, weshalb gerade seine Interessen zurücktreten sollen. Er wird damit in die Lage versetzt, seine Rechte wahrzunehmen. Des Weiteren soll die Verwaltung gezwungen werden, die gebotenen Überlegungen vor Erlass der Anordnung vorzunehmen; ihr soll deren Ausnahmecharakter vor Augen geführt werden. Dem genügend die knappen Ausführungen auf S. 4 und 5 des angefochtenen Bescheides nicht. Dort ist nur formelhaft und ohne Bezug auf den individuellen Fall behauptet, dass ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung vorliege. Darüber hinaus wird aber ein wesentlicher Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt. Der Antragsgegner hat nämlich in Vorwegnahme der Rücknahmeentscheidung einen "kalten Vollzug" vorgenommen. Er hat mit der Einstellung der Leistung am 29.07.2009 ohne Rechtsgrundlage (vergleiche für das SGB II die Spezialregelung nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 331 SGB III, die für das Recht der Sozialhilfe nicht existiert) die Erfüllung des zuwendenden Dauerverwaltungsaktes vom 27.07.2009 trotz monatlicher Fälligkeit unterlassen. Dies ist auch nicht gerechtfertigt durch das dem Sozialversicherungsträger eingeräumte Ermessen über Art und Maß der Leistungserbringung (§ 17 Abs. 2 SGB XII). Danach ist allenfalls eine bestimmte Modalität der Auszahlung möglich, nicht aber die völlige Einstellung der Zahlung.
Diese rechtswidrige Verwaltungspraxis darf nicht im Nachhinein mit dem Sofortvollzug "geheilt" werden.
In den Auswirkungen des Sofortvollzugs wird dem Antragsteller nicht allein lediglich noch für circa 6 Tage die Leistung vorenthalten. Die Rücknahme vom 01.05.2009 bis 23.04.2010 entfaltet zwar mangels Verzicht auf die Erstattung bis zur Rechtskraft vordergründig keine unmittelbaren Wirkungen. Danach kann zwar lediglich ab 23.04.2010 bei sofortigem Vollzug der Rücknahmeentscheidung die Leistung bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraums am 30.4.2010 die Leistung verweigert werden. Gleichzeitig wird aber die Verwaltungspraxis der Beklagten offenbar, wonach dem Antragsteller seit 29.07.2009 die Leistung vorenthalten wird. Das oben angeführte Abwägungsdefizit derart schwer wiegend, dass zumindest der Sofortvollzug aufzuheben war. Denn der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen fällt umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches - wie hier durch die Perpetuierung der Zahlungseinstellung - bewirkt.
Allerdings verlangte eine Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren nicht, die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Die Rücknahme gründet sich auf
§ 45 SGB X. Neben den formalen Voraussetzungen (Handlungs- und Rücknahmefrist) und der Unrichtigkeit der früheren Entscheidung ist die Ausübung von Ermessen erforderlich. Gegen deren Vorliegen sprechen keine besonderen Umstände. Insbesondere bestehen schon erhebliche Zweifel am tatsächlichen Aufenthalt des Antragstellers im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin.
Von der Anordnung einer Folgenbeseitigung (§ 86b Abs. 1 S 2 SGG iVm § 938 Abs. 1 ZPO) sieht der Senat ab. Der Antragsteller hat bislang keine Vollstreckungsmaßnahmen unternommen und es handelt sich fast ausschließlich um Leistungen in der Vergangenheit (vgl. dazu etwa Beschluss des Bayer. LSG vom 22.03.2010, Az.: L 7 AS 301/10). Weil es um das "Wie" des vorläufigen Rechtsschutzes geht steht dem Gericht ein Ermessen zu
(§ 86b Abs. 1 S. 2: "Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen"). Weil der Kläger es unterlassen hat, seine Ansprüche aus dem Verwaltungsakt vom 27.07.2009 durch eine einstweilige Anordnung sichern zu lassen und daraus zu vollstrecken, obwohl ihm die sofortige Zahlungseinstellung am 30.07.2009 von der Antragsgegnerin schriftlich mitgeteilt worden ist, ist keine Anordnung für die Vergangenheit veranlasst. Dies legt auch die Vermutung nahe, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt neben mietfreiem Wohnen und seinen Renteneinkünften anderweitig bestritten hat.
Die Beschwerde hat damit im tenorierten Umfang Erfolg.
Seine außergerichtlichen Kosten sind ihm zu erstatten (§ 193 SGG).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
II. Dem Antragsteller sind seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der 1935 geborene Antragsteller bezog ab 01.02.2006 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom Antragsgegner. Dieser stellte aber am 29.07.2009 die Zahlungen ein ("Stornierung").
Am 04.05.2010 verlangte der Antragsteller eine "einstweilige Anordnung" vom Sozialgericht Augsburg (SG). Schon zuvor hatte er am 23.04.2010 Klage (Az. S 15 SO 42/10) erhoben.
Mit seiner Klage wendet sich der Antragsteller gegen die mit Bescheid vom 23.04.2010 vom Antragsgegner vorgenommene Rücknahme aller Bewilligungsbescheide seit dem 27.10.2006 sowie die Rücknahme eines Bescheides vom 27.01.2010, mit dem ihm die Weiterzahlung der Grundsicherung abgelehnt worden ist. Zuletzt hatte aber der Antragsgegner mit Bescheid vom 27.07.2009 Grundsicherungsleistungen vom 01.05.2009 bis 30.04.2010 bewilligt. Der Bescheid vom 23.04.2010 enthält auch einen Rückforderungsbescheid, mit dem die für die Zeit ab 01.04.2006 bewilligten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 11.713,55 EUR zurückgefordert wurden. Die Erstattung habe innerhalb von vier Wochen nach Bestandskraft des Bescheides zu erfolgen. Die Entscheidung wurde in Ziffer IV bezogen auf den Bescheid vom 27.07.2009 für sofort vollziehbar erklärt.
Am 30.05.2010 hatte der Antragsteller Widerspruch beim Antragsgegner erhoben.
Mit Beschluss vom 17.05.2010 hat das SG "den Antrag abgelehnt". Dazu hat es ausgeführt, dass der Antragsteller am 04.05.2010 zwar einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt habe. Das Vorbringen sei in der Sache aber so zu verstehen, dass es dem Antragsteller ausschließlich um Zahlung ausstehender Leistungen durch den Antragsgegner gehe, nicht um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Rückforderung im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 23.04.2010. Für eine Verpflichtung des Antragsgegners zu einer vorläufigen Nachbezahlung der ausstehenden Leistungen bis 30.04.2010 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache müsste eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Antragsgegner die Leistungsbewilligung zu Unrecht aufgehoben habe, wovon nicht auszugehen sei.
Am 25.05.2010 hat der Kläger gegen den am 21.05.2010 zugestellten Beschluss Beschwerde eingelegt. In einem an das SG am 25.05.2010 gerichteten Schriftsatz beantragte der Ast, ihm die zustehenden Grundsicherungsleistungen unverzüglich "weiterzugewähren" - bzw. rückwirkend seit April 2009. Der Eilantrag sei schon deswegen geboten, weil die Lebenshaltung nicht mit einer Rente von 293 Euro möglich sei.
Am 26.05.2010 hat der Antragsteller seine Klage zurückgenommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Das Rechtsschutzbedürfnis ist durch die Rücknahme der Hauptsache per Fax am 26.05.2010 (Klage unter dem Aktenzeichen S 15 SO 42/10) nicht entfallen. Der Widerspruch des Antragstellers vom 04.05.2010 (Schriftsatz 01.05.2010) gegen den Bescheid vom 23.04.2010 ist bei der Antragsgegnerin noch anhängig. Dessen aufschiebende Wirkung ist weiterhin im Streit. Gleichzeitig mit der Klage wollte der Kläger nicht seinen Widerspruch zurücknehmen. Vielmehr kam zum Ausdruck, dass seine Rechtsanwälte später erneut Klage erheben würden. Damit zeigt sich, dass er sich bewusst war, dass eine notwendige Sachurteilsvoraussetzung (gehörige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens) gefehlt hat.
Der Antrag ist seinem Gegenstand nach in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Bescheid vom 23.04.2010 erfolgt. Darin regelte die Antragsgegnerin die Rücknahme aller Bewilligungsbescheide seit dem 27.10.2006 sowie die Rücknahme eines Ablehnungsbescheides vom 27.01.2010 auf Weiterzahlung der Grundsicherung. Die Rücknahmeentscheidung wurde in Bezug auf den Bescheid vom 27.07.2009, mit dem der Antragsgegner zuletzt Grundsicherungsleistungen ab 01.05.2009 bis 30.04.2010 bewilligt hatte, für sofort vollziehbar erklärt.
Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes ist damit nach Auslegung durch den Senat der Wille des Klägers, die Vollziehbarkeit der oben genannten Regelungen aufzuschieben. Eine Anordnung als Regelung für den Zeitraum nach dem 01.05.2010 kann damit nicht Gegenstand dieses Verfahrens sein. Ein derartiger Antrag vom 25.05.2010 ist erst nach Existenz (Bekanntgabe) des angefochtenen Beschlusses in vom 17.05.2010 beim SG gestellt worden. Eine entsprechende Änderung des Gegenstandes im Sinne von § 99 SGG analog ist nicht sachdienlich. Die Antragsgegnerin hat sich hierzu auch nicht eingelassen und damit einer Änderung in entsprechender Anwendung von § 99 Abs. 2 SGG nicht zugestimmt (vergleiche Schriftsatz vom 01.06.2010). Dies hat zur Folge, dass es sich beim SG noch um einen offenen Antrag auf eine einstweilige Anordnung für den Zeitraum ab dem 01.05.2010 handelt
Soweit es die Rücknahme des eine Leistung ablehnenden Bescheides vom 27.01.2010 betrifft, ist eine mögliche Vollziehbarkeit nicht gegeben. Die Antragsgegnerin hatte durch die Rücknahme gerade Abstand von ihrer früheren Regelung genommen und dadurch den Zustand hergestellt, dass die Bewilligungsentscheidung vom 01.05.2009 bis 30.04.2010 unangefochten gegolten hat. Insoweit (wegen der Rücknahme) besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für den Antragsteller auf Maßnahmen im einstweiligen Rechtsschutz.
Soweit aber den bisher erfolgten Leistungen durch Aufhebung ihrer zu Grunde liegenden Feststellungen ein Rechtsgrund genommen werden sollten, hat die Antragsgegnerin eine differenzierte Regelung der Vollziehbarkeit beabsichtigt. Denn sie hat die Rücknahmeentscheidung für den Bescheid vom 27.07.2009 für sofort vollziehbar erklärt, wohingegen sie die Erstattung der ausgezahlten Leistungen auf einen Zeitpunkt innerhalb von vier Wochen nach Bestandskraft des Bescheides zurückgestellt wissen wollte.
Hinsichtlich des Erstattungsanspruches hat die Antragsgegnerin lediglich die geltende Rechtslage wiederholt. Nach § 86a Abs. 1 SGG hat der Widerspruch des Klägers aufschiebende Wirkung. Es besteht kein Grund des Entfallens dieser Wirkung (§ 86a Abs. 2 SGG). Das gilt auch für Rücknahmen anderer Bescheide als desjenigen vom 27.07.2009. Es handelt sich hier nicht um die Entziehung einer laufenden Leistung, schon gar nicht in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der Bundesagentur für Arbeit oder in Angelegenheiten der Sozialversicherung (vgl. § 86a Abs. 2 Nrn. 2 und 3). Eine Regelung im Sinne von § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG existiert in der Sozialhilfe, anders als in der Grundsicherung Erwerbsfähige (§ 39 Nr. 1, 1. Alt. SGB II) nicht.
Der Antragsgegner hat aber verwaltungsseitig einen Entfall der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Rücknahme des Bescheides vom 27.07.2009 bewirkt. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung auch in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.
Richtiger Rechtsbehelf hiergegen ist die Anrufung des Gerichts nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Den Maßstab für eine entsprechende Prüfung nennt das Gesetz nicht. Er ist nach der Literatur (vgl. etwa Lüdtke/Binder, Sozialgerichtsgesetz SGG § 86b Rn 15 - 20) durch eine analoge Anwendung des § 86a Abs. 2 Nr. 5 zu schließen. Das Gericht nimmt dazu eine eigenständige Abwägung der beteiligten Interessen nach den auch für die Verwaltung geltenden Grundsätzen vor. Der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen fällt dabei umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt. Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten der Antragstellers nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, mit denen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage aber erfolglos bliebe.
Vorab sind aber die formalen Voraussetzungen der verwaltungsseitigen Anordnung zu prüfen. Sie muss eine schriftliche Begründung des besonderen Interesses enthalten, das die sofortige Vollziehung rechtfertigen soll. Dies dient zunächst der Information des Betroffenen, weshalb gerade seine Interessen zurücktreten sollen. Er wird damit in die Lage versetzt, seine Rechte wahrzunehmen. Des Weiteren soll die Verwaltung gezwungen werden, die gebotenen Überlegungen vor Erlass der Anordnung vorzunehmen; ihr soll deren Ausnahmecharakter vor Augen geführt werden. Dem genügend die knappen Ausführungen auf S. 4 und 5 des angefochtenen Bescheides nicht. Dort ist nur formelhaft und ohne Bezug auf den individuellen Fall behauptet, dass ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung vorliege. Darüber hinaus wird aber ein wesentlicher Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt. Der Antragsgegner hat nämlich in Vorwegnahme der Rücknahmeentscheidung einen "kalten Vollzug" vorgenommen. Er hat mit der Einstellung der Leistung am 29.07.2009 ohne Rechtsgrundlage (vergleiche für das SGB II die Spezialregelung nach § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 331 SGB III, die für das Recht der Sozialhilfe nicht existiert) die Erfüllung des zuwendenden Dauerverwaltungsaktes vom 27.07.2009 trotz monatlicher Fälligkeit unterlassen. Dies ist auch nicht gerechtfertigt durch das dem Sozialversicherungsträger eingeräumte Ermessen über Art und Maß der Leistungserbringung (§ 17 Abs. 2 SGB XII). Danach ist allenfalls eine bestimmte Modalität der Auszahlung möglich, nicht aber die völlige Einstellung der Zahlung.
Diese rechtswidrige Verwaltungspraxis darf nicht im Nachhinein mit dem Sofortvollzug "geheilt" werden.
In den Auswirkungen des Sofortvollzugs wird dem Antragsteller nicht allein lediglich noch für circa 6 Tage die Leistung vorenthalten. Die Rücknahme vom 01.05.2009 bis 23.04.2010 entfaltet zwar mangels Verzicht auf die Erstattung bis zur Rechtskraft vordergründig keine unmittelbaren Wirkungen. Danach kann zwar lediglich ab 23.04.2010 bei sofortigem Vollzug der Rücknahmeentscheidung die Leistung bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraums am 30.4.2010 die Leistung verweigert werden. Gleichzeitig wird aber die Verwaltungspraxis der Beklagten offenbar, wonach dem Antragsteller seit 29.07.2009 die Leistung vorenthalten wird. Das oben angeführte Abwägungsdefizit derart schwer wiegend, dass zumindest der Sofortvollzug aufzuheben war. Denn der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen fällt umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches - wie hier durch die Perpetuierung der Zahlungseinstellung - bewirkt.
Allerdings verlangte eine Berücksichtigung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren nicht, die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Die Rücknahme gründet sich auf
§ 45 SGB X. Neben den formalen Voraussetzungen (Handlungs- und Rücknahmefrist) und der Unrichtigkeit der früheren Entscheidung ist die Ausübung von Ermessen erforderlich. Gegen deren Vorliegen sprechen keine besonderen Umstände. Insbesondere bestehen schon erhebliche Zweifel am tatsächlichen Aufenthalt des Antragstellers im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin.
Von der Anordnung einer Folgenbeseitigung (§ 86b Abs. 1 S 2 SGG iVm § 938 Abs. 1 ZPO) sieht der Senat ab. Der Antragsteller hat bislang keine Vollstreckungsmaßnahmen unternommen und es handelt sich fast ausschließlich um Leistungen in der Vergangenheit (vgl. dazu etwa Beschluss des Bayer. LSG vom 22.03.2010, Az.: L 7 AS 301/10). Weil es um das "Wie" des vorläufigen Rechtsschutzes geht steht dem Gericht ein Ermessen zu
(§ 86b Abs. 1 S. 2: "Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen"). Weil der Kläger es unterlassen hat, seine Ansprüche aus dem Verwaltungsakt vom 27.07.2009 durch eine einstweilige Anordnung sichern zu lassen und daraus zu vollstrecken, obwohl ihm die sofortige Zahlungseinstellung am 30.07.2009 von der Antragsgegnerin schriftlich mitgeteilt worden ist, ist keine Anordnung für die Vergangenheit veranlasst. Dies legt auch die Vermutung nahe, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt neben mietfreiem Wohnen und seinen Renteneinkünften anderweitig bestritten hat.
Die Beschwerde hat damit im tenorierten Umfang Erfolg.
Seine außergerichtlichen Kosten sind ihm zu erstatten (§ 193 SGG).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
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