L 11 AS 434/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 19 AS 614/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 434/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Frage der Bewilligung von Leistungen für bereits abgelaufene Leistungszeiträume im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes
Zur Frage der Beitragstragung privat krankenversicherter Leistungsempfänger der Grundsicherung für Arbeitssuchende
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichtes Nürnberg vom 26.04.2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Der Antragsteller (ASt) begehrt die Übernahme der vollständigen Kosten einer privaten Krankenversicherung im Basistarif.

Der ASt beantragte am 15.11.2009 die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Antragsgegnerin (Ag) bewilligte ihm mit Bescheid vom 26.11.2009 in der Fassung des Bescheides vom 21.12.2009 laufende Leistungen für den Zeitraum 15.11.2009 bis 31.05.2010 einschließlich eines Zuschusses zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 124,32 EUR und 17,79 EUR bis 31.12.2009 bzw. in Höhe von 126,05 EUR und 18,04 EUR für den Zeitraum vom 01.01.2010 bis 31.05.2010.

Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch machte er geltend, seine private Kranken- und Pflegeversicherung koste im Basistarif mehr als 300,00 EUR. Die Übernahme allein der für gesetzlich Versicherte vorgesehenen Beträge sei unzureichend und erfülle den gesetzlichen Auftrag der Existenzsicherung einschließlich eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes nicht. Über die gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 27.05.2010 erhobene Klage (S 8 AS 1026/10) hat das Sozialgericht Nürnberg (SG) bislang nicht entschieden.

Bereits am 14.04.2010 hat der ASt beim SG beantragt, die Ag im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, für die Zeit ab dem 15.11.2009 die Kosten einer Krankenvollversicherung in Höhe 303,76 EUR monatlich bzw. für die Zeit ab dem 01.01.2010 in Höhe von 307,57 EUR monatlich zu übernehmen. Unter Hinweis auf einen Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 30.06.2009 (L 2 SO 2529/09 ER B) sowie den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) hat er geltend gemacht, die Ag sei verpflichtet, ihm die Kosten für den halben Basistarif seiner privaten Krankenversicherung zu erstatten. Dies ergebe sich, wie auch das LSG Niedersachsen- Bremen ausgeführt habe (Beschluss vom 03.12.2009 -
L 15 AS 1048/09 B ER), aus der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates, das Existenzminimum sicher zu stellen.

Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 26.04.2010 abgelehnt. Nach § 26 Abs 2
Satz 1 Nr. 1 SGB II iVm § 12 Abs 1c Satz 5 und 6 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) sei die Verpflichtung der Ag auf die Zahlung eines Zuschusses in Höhe von 126,05 EUR beschränkt, der dem Betrag entspreche, der für Pflichtversicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung aufzuwenden sei. Der Zuschuss für die Pflegeversicherung übersteige die tatsächlichen Aufwendungen. Die Deckungslücke betrage 163,48 EUR monatlich. Der ASt sei privat versichert und die Kündigung des Versicherungsvertrages durch den Versicherer sei nach § 206 Abs 1 Satz 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ausgeschlossen. Eine Nichtzahlung von Beiträgen führe zwar zu einem Ruhen der Versicherungsleistungen, gleichwohl sei nach § 193 Abs 6 Satz 6 VVG zumindest die Notversorgungspflicht durch den Versicherer gewährleistet. Soweit der Versicherer dieser Verpflichtung nicht nachkomme, obliege es dem ASt, diese Ansprüche gegen den Versicherer - gegebenenfalls gerichtlich - geltend zu machen. Eine Entscheidung in Bezug auf die Übernahme der Beitragsdifferenz sei daher nicht eilbedürftig und müsse dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Gegen diesen Beschluss hat der ASt Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Es sei ihm nicht zuzumuten, sich rechtsuntreu zu verhalten und die Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge zu verweigern. Dies führe zwangsläufig zu kostenpflichtigen Auseinandersetzungen mit der privaten Krankenversicherung und der Anhäufung von Schulden. Spätestens wenn er eine bedarfsdeckende selbständige Tätigkeit oder Erwerbstätigkeit aufnehme, könne der Versicherer wegen der Beitragsrückstände das Ruhen der Leistungen feststellen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird Bezug genommen auf die beigezogenen Akten der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz.

II.

Die form- und fristgerechte Beschwerde ist zulässig, §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG), insbesondere wird der für die Statthaftigkeit der Beschwerde maßgebliche Wert von 750.- EUR überschritten (§ 172 Abs 3 Nr. 1 iVm § 144 Abs 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Gegenstand des Verfahrens ist die Verpflichtung der Ag zur vollständigen Übernahme der Kosten einer privaten Krankenvollversicherung im Basistarif für den Zeitraum vom 15.11.2009 bis 31.05.2010. Die Deckungslücke in der Krankenversicherung beträgt monatlich 161,65 EUR (bis 31.12.2009) bzw. 163,48 EUR (ab 01.01.2010), mithin für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum 1059,88 EUR (= 1 1/2 Monate x 161,65 EUR + 5 Monate x 163,48 EUR).

Ausgangspunkt für das Eilverfahren ist das Hauptsacheverfahren in Bezug auf den Bescheid vom 21.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2010. Mit dieser Entscheidung hat die Ag dem ASt allein für den Zeitraum vom 15.11.2009 bis 31.05.2010 einen Zuschuss zu dessen privaten Krankenversicherung bewilligt. Soweit der ASt in diesem Zusammenhang einen höheren Zuschuss zu seinen Versicherungsbeiträgen begehrt, hat er dies im Wege einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage geltend zu machen, so dass insoweit § 86 Abs 2 Satz 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes darstellt.

Eine einstweilige Regelung ist zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179), vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236 und vom 25.02.2009 NZS 2009, 674; Niesel/Herold-Tews , Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. Rn. 652)

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der Ast glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. , § 86b Rn. 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 aaO; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 -
1 BvR 2971/06 -).

Im Hinblick auf die durch die Rechtsprechung erkannte Unzulänglichkeit der gesetzlichen Regelungen und die fehlende Möglichkeit, die damit verbundenen Rechtsfragen in einem Eilverfahren abschließend zu klären, ist ein Erfolg in der Hauptsache nicht auszuschließen, auch wenn dies allein auf der Grundlage der einfachgesetzlichen Vorschriften nicht möglich erscheint (vgl. hierzu im einzelnen LSG Hessen, Beschluss vom 22.03.2010 -
L 9 AS 570/09 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.06.2009 -
L 2 SO 2529/09 ER B; LSG Niedersachsen-?Bremen, Beschluss vom 03.12.2009 -
L 15 AS 1048/09 B ER, BayLSG, Beschluss vom 21.04.2010 - L 7 AS 201/10 B ER - juris -). Bei offenen Erfolgsaussichten - wie vorliegend - ist daher im wesentlichen auf den Anordnungsgrund abzustellen.

Unter Beachtung dieser Kriterien ist dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht zu entsprechen, denn ein Anordnungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht. Eine vorläufige Regelung ist nicht geboten, denn der streitgegenständliche Leistungszeitraum (15.11.2009 bis 31.05.2010) ist bereits abgelaufen, so dass lediglich Leistungen für die Vergangenheit im Streit stehen und die Dringlichkeit der Angelegenheit nicht zu belegen ist.

Es ist ständige Rechtsprechung des Senates, dass für Leistungsansprüche, die allein für die Vergangenheit im Streit stehen, in aller Regel ein Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit nicht glaubhaft zu machen ist. Hierbei ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Senates vom 12.04.2010 - L 11 B 18/10 AS ER - juris -).

Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl. Keller aaO § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und sich ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht.

Unabhängig davon, dass allein das Auflaufen von Beitragsrückständen die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit nicht belegen kann (vgl. hierzu eingehend LSG Hessen, Beschluss vom 22.03.2010 aaO), hat der ASt im Beschwerdeverfahren nichts dazu vorgetragen, dass für den streitgegenständlichen Leistungszeitraum vom 15.11.2009 bis 31.05.2010 Beitragsrückstände bestehen würden. Vor dem SG hat der ASt zwar eine Beitragsrechnung seiner privaten Krankenversicherung vom 15.02.2010 vorgelegt. Hierbei handelt es sich jedoch ersichtlich um die erstmalige Fälligstellung von Beiträgen für die Monate November 2009 bis einschließlich Februar 2010 (Rückstände) bzw. März 2010 (laufend), nachdem der ASt der Ag am 19.01.2010 mitgeteilt hatte, er habe sich rückwirkend zum 01.11.2009 privat krankenversichert. Insoweit hat er jedoch nicht dargelegt, ob und in welchem Umfang er die Beitragsrechnung - aus den bereits mit Bescheid vom 21.12.2009 bewilligten Leistungen oder in anderer Weise - beglichen hat. Auch im Beschwerdeverfahren hat der ASt nichts dazu vorgetragen, ob Beitragsrückstände aufgelaufen sind und welcher Weise der Versicherer hierauf reagiert hat. Für den Senat ist auch nicht ersichtlich, dass der ASt die Differenz zwischen dem tatsächlichen Beitrag und dem Zuschuss nicht getragen hat und durch eine entstandene Deckungslücke in existenzielle Not geraten wäre, die es durch Nachzahlung der Leistungen für die Vergangenheit zu beseitigen gelte. Im Beschwerdeverfahren hat der ASt lediglich noch darauf verwiesen, im Falle einer bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit bestehe die Gefahr, der Versicherer könne das Ruhen der Versicherungsleistungen feststellen. Dieser Vortrag rechtfertigt jedoch auch keine andere Betrachtungsweise, denn soweit der ASt eine selbständige Tätigkeit oder eine (sozial)versicherungsfreie Beschäftigung aufnimmt, ist zu beachten, dass die Hilfebedürftigkeit iSd § 193 Abs 6 Satz 5 Halbsatz 1 VVG erst endet, wenn der ASt in der Lage ist, seinen Bedarf einschließlich der tatsächlichen Krankenversicherungsbeiträge zu decken. Zumindest bezüglich des Basistarifes eines privaten Krankenversicherers sind die Beiträge in vollem Umfang vom zu berücksichtigenden Einkommen abzusetzen (§ 11 Abs 2 Nr. 3 a SGB II). Bis dahin ist der Versicherer gehindert das Ruhen der Leistungen festzustellen
(§ 193 Abs 6 Sätze 2 und 5 VVG). Im Falle der Aufnahme einer mehr als geringfügigen abhängigen Beschäftigung wird der ASt - bei realistischer Betrachtung seiner Verdienstmöglichkeiten - der Versicherungspflicht nach § 5 Abs 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) unterliegen, so dass hier im Ergebnis nicht absehbar ist, ob und welchem zeitlichen Rahmen durch die Nichtzahlung von Beiträgen das Ruhen der Leistungen und damit Einschränkungen im Krankenversicherungsschutz hinzunehmen wären. Nachdem eine existenzbedrohende Notlage nicht darlegt ist, die es durch eine umgehende Nachzahlung von Leistungen zu beseitigen gilt und die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen könnte, ist dem ASt zuzumuten, das Hauptsacheverfahren in Bezug auf den streitgegenständlichen Leistungszeitraum abzuwarten.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und ergibt sich aus dem Unterliegen der ASt.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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