L 8 R 949/10 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 7 R 967/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 R 949/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 5.11.2010 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verurteilt, dem Antragsteller Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankung zu gewähren. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt H, H, beigeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Bewilligung einer stationären Entwöhnungsmaßnahme.

Der am 00.00.1982 geborene Antragsteller hat in der gesetzlichen Rentenversicherung ab dem 1.9.2001 46 Monate mit Pflichtbeiträgen, zuletzt durchgängig in der Zeit vom 1.11.2007 bis zum 20.2.2009, zurückgelegt. Er ist betäubungsmittelabhängig und im Zusammenhang hiermit strafrechtlich vielfach in Erscheinung getreten.

Den vom Senat beigezogenen Strafakten und dem in den Verwaltungsakten der Antragsgegnerin befindlichen Sozialbericht der Drogenberatung Kreis H v. 23.9.2010 (im Folgenden: Sozialbericht) lässt sich zu bisherigen Therapieversuchen Folgendes entnehmen: Im Jahr 2003 brach der Antragsteller eine Rehabilitationsmaßnahme nach drei Monaten ab. 2004 führte er eine solche Maßnahme regulär durch. Nach Entlassung aus einer Haftstrafe begab der Antragsteller sich 2005 in ein betreutes Wohnen, wurde aber Ende 2006 erneut rückfällig. Anfang 2007 führte er aus eigenem Entschluss eine Entgiftung durch und begann eine ambulante Therapie, die er jedoch ebenfalls abbrach. Danach schlossen sich eine nochmalige Entgiftung und der Aufenthalt in einer Übergangseinrichtung in H an. Anfang 2008 wurde der Antragsteller erneut rückfällig. Eine Langzeittherapie lief Ende 2008 ergebnislos ab. Ab Anfang 2009 erhielt der Antragsteller eine Methadonsubstitution.

In strafrechtlicher Hinsicht wurde der Antragsteller zuletzt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren (AG Frankfurt am Main, Beschluss v. 14.9.2009, 918 Ls - 3530 Js 231056/08) bzw. zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten (AG Frankfurt am Main, Urteil v. 19.9.2007, 932 Ds 10380 - 332 Js 6870/07 - i.V.m. Widerrufsbeschluss v. 19.2.2009) verurteilt. Die Gerichte (neben dem AG Frankfurt auch das AG Wiesbaden in dem in die Gesamtstrafe eingeflossenen Urteil v. 24.9.2008, 80 Ds - 5790 Js 24143/08) erteilten jeweils ihre Zustimmung zu einer Zurückstellung nach § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG).

Nachdem die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Hessen dem Antragsteller eine Entwöhnungsmaßnahme von zwei Monaten in der Therapeutischen Einrichtung F bewilligt hatte (Bescheid v. 10.3.2010), stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt die Vollstreckung der Freiheitsstrafen zugunsten der Behandlung ab dem 5.8.2010 für die Dauer von längstens zwei Jahren zurück (Entscheidungen v. 29.6.2010, 3530 Js 231056/08 und 2.7.2010, 332 Js 6870/07). Der Antragsteller nahm die Therapie am 5.8.2010 auf, brach sie aber am 15.8.2010, zunächst ohne Angaben von Gründen, ab und zog nach M, wo er am 23.9.2010 erneut die Bewilligung medizinischer Rehabilitationsleistungen beantragte.

In einem daraufhin eingeholten ärztlichen Gutachten für die Westfälische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, gestützt auf eine ambulante Untersuchung am 16.9.2010, gab der Arzt Dr. X an, es liege zwar keine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit vor. Bei geminderter Erwerbsfähigkeit könne jedoch durch eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden. Bei dem Antragsteller liege eine Suchtkrankheit mit typischen Suchtmerkmalen vor. Eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation in einem Fachkrankenhaus für Suchtkranke sei erforderlich. Es sei die volle Erwerbsfähigkeit und Wiedereingliederung des Antragstellers in das Erwerbsleben zu erwarten. Der Antragsteller habe "persönliche" Motivationsgründe. Im Sozialbericht heißt es zusammenfassend, die Situation des Antragstellers verlange danach, ihm eine erneute Entwöhnungsmaßnahme zu bewilligen.

Nach Befragung ihres beratungsärztlichen Dienstes lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf medizinische Leistungen ab (Bescheid v. 1.10.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 22.10.2010). Die erforderliche Erfolgsaussicht sei nicht gegeben. Der Antragsteller habe in der Vergangenheit mehrfach Gelegenheit gehabt, an Entwöhnungsbehandlungen teilzunehmen. Diese und wiederholte stationäre Behandlungen wegen seiner Abhängigkeitserkrankung hätten nicht zu einer abstinenten Lebensweise geführt. Nach allem sei nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abschließen werde. Es bestünden Zweifel an seiner Bereitschaft zur Verhaltensänderung.

Mit dem Antrag auf einstweilige Anordnung hat der Antragsteller vorgetragen: Er habe die Maßnahme in F abgebrochen, weil er dort mit anderen Drogenabhängigen therapiert worden sei, die er aus der Drogenszene als seine damaligen Dealer gekannt habe. Er habe in F jederzeit wieder Drogen nehmen können. Zudem sei seine in M lebende Freundin schwanger. Er wolle mit ihr eine Familie gründen und daher seine Entwöhnungsbehandlung in Wohnortnähe fortsetzen. Seit dem 26.8.2010 nehme er einmal wöchentlich an einer Gesprächssitzung mit dem Suchtberater teil. Hierin sei auch seine Freundin teilweise eingebunden.

Die Antragsgegnerin ist dem Antrag unter Hinweis auf ihre Bescheide entgegengetreten und hat ergänzend die Auffassung vertreten, der Antragsteller müsse sich alternativ auf eine Maßnahme bei dem nach § 35 BtMG anerkannten Träger Synanon verweisen lassen.

Das Sozialgericht (SG) Detmold hat dem Antragsteller zwar Prozesskostenhilfe (PKH) bewilligt (Beschluss v. 28.10.2010), den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aber abgelehnt (Beschluss v. 5.11.2010). Es hat insbesondere gemeint, dass für eine Rehabilitationsmaßnahme nicht die erforderlichen Erfolgsaussichten bestünden.

Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller, der zwischenzeitlich im Hinblick auf den Nichtantritt der Rehabilitationsmaßnahme wieder inhaftiert ist, sein Begehren weiter.

Der Senat hat die genannten Strafakten beigezogen und ausgewertet. Auf telefonische Anfrage hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main bestätigt, dass im Falle der Bewilligung einer Rehabilitationsmaßnahme ein erneuter Antrag auf Zurückstellung gemäß § 35 BtMG voraussichtlich zugunsten des Antragstellers beschieden würde.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die begehrte einstweilige Anordnung ist zu erlassen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) können die SGe einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (Anordnungsanspruch) erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Anordnungsgrund). Die Voraussetzungen der einstweiligen Anordnung sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]), müssen also überwiegend wahrscheinlich sein. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich zulässig und begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund entsprechend (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rdnr. 29 m.w.N.).

1. Der Antragsteller hat zunächst den Anordnungsanspruch auf Bewilligung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme glaubhaft gemacht.

a) Der Antragsteller erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, weil er in den letzten zwei Jahren vor der (erneuten) Antragstellung sechs Monate mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung hat (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI]).

b) Auch die in § 10 SGB VI geregelten persönlichen Voraussetzungen für eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme sind glaubhaft gemacht.

aa) Der Senat hat keine durchgreifenden Zweifel, dass die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers aufgrund seiner Drogenabhängigkeit, einer Krankheit i.S.d. § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, gemindert ist. Zwar hat der Sachverständige Dr. X diese Frage in dem formularmäßigen Fragebogen der Antragsgegnerin verneint. Er hat aber im Übrigen ausgeführt, die geminderte Erwerbsfähigkeit könne durch eine Rehabilitationsmaßnahme wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden, ist also erkennbar doch von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ausgegangen. Unabhängig davon hat auch die DRV Hessen eine derartige Minderung angenommen. Die Antragsgegnerin hat keine Gesichtspunkte vorgetragen, die dieser Beurteilung entgegenstünden.

bb) Es ist auch überwiegend wahrscheinlich, dass die geminderte Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) SGB VI). Eine derartige Besserungsaussicht ist von der DRV Hessen, von dem im vorliegenden Verwaltungsverfahren gehörten Sachverständigen Dr. X und im Sozialbericht übereinstimmend angenommen worden. Dem hält die Antragsgegnerin ohne Erfolg entgegen, dass die bereits (mehrfach) erfolglos durchgeführten Entwöhnungsbehandlungen Zweifel an der Bereitschaft des Antragstellers zur Verhaltensänderung rechtfertigten. Die Therapiemotivation des Antragstellers ist zuvor von den Strafgerichten, von der DRV Hessen und der Staatsanwaltschaft Frankfurt geprüft und bejaht worden. Der Sachverständige Dr. X und der Sozialbericht haben auch eingedenk des Abbruchs in der Maßnahme in F an dieser Beurteilung festgehalten. Ebenso hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main dem Senat auf telefonische Anfrage hin mitgeteilt, dieser Abbruch hindere eine erneute Zurückstellung nach § 35 BtMG nicht. Diese Beurteilungen erscheinen dem Senat schlüssig, nachdem der Antragsteller die Umstände des Abbruchs (Zusammensetzung des Patientenkollektivs, Wunsch nach wohnortnaher Therapie im Hinblick auf die Schwangerschaft seiner Freundin) dargelegt hat. Durchgreifende Zweifel an der Therapiemotivation des Antragstellers sind daher allein vom beratungsärztlichen Dienst der Antragsgegnerin formuliert worden, ohne dass die Gründe für die von allen anderen zuständigen Stellen abweichende Beurteilung näher dargelegt worden wären.

c) Die Entwöhnungsmaßnahme ist stationär durchzuführen (vgl. § 15 Abs. 2 SGB VI). Die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme ist ebenfalls von allen genannten Entscheidungsträgern und Sachverständigen bejaht worden. Diese Beurteilung steht in Einklang mit den in Anlage 3 zur "Vereinbarung Abhängigkeitserkrankung" genannten Kriterien der Spitzenverbände für die Bewilligung einer stationären Entwöhnung. Insbesondere ist der Antragsteller gegenwärtig nicht beruflich integriert. Da die Voraussetzungen einer stationären Maßnahme zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegen, braucht der Antragsteller sich nicht auf alternative Maßnahmeträger wie Synanon verweisen zu lassen.

d) Die Antragsgegnerin ist für die Gewährung der Maßnahme zuständig (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 der "Vereinbarung Abhängigkeitserkrankung").

2. Der Antragsteller hat auch den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Dringlichkeit der Maßnahme ergibt sich aus allen vorliegenden Unterlagen. Der angestrebte Rehabilitationserfolg würde nachhaltig gefährdet, wenn die gegenwärtig vorliegende günstige Situation eines unterstützenden sozialen Umfeldes nicht zur Durchführung der Entwöhnungsmaßnahme genutzt würde. Im Hinblick darauf ist es dem Antragsteller nicht zuzumuten, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.

3. Dass die Antragsgegnerin noch hinsichtlich des Leistungsumfangs Ermessen auszuüben hat (§ 13 Abs. 1 SGB VI), steht dem Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen. Es bestehen keine Zweifel, dass die Antragsgegnerin eine zur Durchführung der Entwöhnung geeignete Einrichtung, wie z.B. die Klinik X des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, die dem Antragsteller bei Vorlage einer Kostenzusage am 2.11.2010 bereits einen Aufnahmetermin genannt hatte, zeitnah finden wird.

4. Die Bewilligung von PKH beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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