L 10 U 825/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 17 U 4559/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 825/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 29.01.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung und Entschädigung seiner psychischen Erkrankung wie eine Berufskrankheit (Wie-BK).

Der im Jahr 1980 geborene Kläger ist seit Mitte August 2000 ausgebildeter "Call-Center-Agent". Er arbeitete in einem Call-Center der Firma W. Telemedien Services, zunächst in der Niederlassung M. , ab November 2001 bis Ende August 2007 in der Niederlassung Sch ... Ab dem 01.06.2008 wurde ihm eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt.

Wegen seit dem Jahr 2006 zunehmender Depressionen und Kopfschmerzen sowie einem zuletzt aufgetretenen Tinnitus begehrte der Kläger gegenüber der Beklagten die Durchführung eines BK-Feststellungsverfahrens. Auf der Grundlage der Stellungnahme der Gewerbeärztin E. lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07.05.2008 die Feststellung seiner depressiven Erkrankung als BK ab. Die Erkrankung sei auch nicht wie eine BK anzuerkennen. Im Widerspruchsverfahren stellte der Kläger umfassend seine beruflichen Belastungen und seine gesundheitlichen Beschwerden dar. Er sei wegen Mobbing krank geworden. Er legte u.a. verschiedene Unterlagen zu psychischen Belastungen bei der Arbeit in Call-Centern und allgemein bei Erwerbstätigkeiten sowie Rechnungen über Psychotherapiesitzungen vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.08.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Stress, Mobbing und depressive Erkrankungen seien in der Berufskrankheitenliste nicht aufgeführt. Auch eine Anerkennung wie eine BK käme nicht in Betracht, da Stress und Mobbing in allen Berufsgruppen gleichermaßen auftreten würden. Dabei werde nicht verkannt, dass die konkrete Tätigkeit des Klägers Auslöser für seine gesundheitlichen Beschwerden gewesen sein könne. Dies sei für die Anerkennung als Wie-BK aber nicht ausreichend.

Deswegen hat der Kläger am 11.09.2008 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben. Er hat den Gesundheitsreport (Auswertungen 2008 Arbeitsunfähigkeiten und Arzneiverordnungen Schwerpunkt: Psychische Störungen) der Techniker Krankenkasse (TK) vorgelegt. Wegen dessen Inhalt wird auf Blatt 28 bis 40 der Akte des SG Bezug genommen.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29.01.2010 abgewiesen. Die Erkrankung des Klägers zähle offenkundig nicht zu den BKen nach § 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Es bestehe auch keine Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung einer Wie-BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII. Gesicherte medizinische Erkenntnisse für eine gruppentypische Risikoerhöhung von Telefonisten durch Mobbing und Stress seien nicht ersichtlich. Der TK-Gesundheitsreport reiche hierfür nicht aus. Er könne allenfalls Anlass für weitere medizinische Forschungen sein. Der Nachweis einer besonderen beruflichen Belastung von Telefonisten scheitere zudem bereits daran, dass der TK-Report auch für Arbeitslose eine Rate von psychischen Störungen von 28,3 % (bei Telefonisten 31,9 %) aufweise, was eine berufliche Quelle eher unwahrscheinlich erscheinen lasse. Mobbing und Stress könnten die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Wie-BK schon dem Grunde nach nicht erfüllen, da sie je nach Betroffenem eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Symptome und Beschwerden auslösen könnten und in den unterschiedlichsten beruflichen und privaten Betätigungsfeldern auftreten würden, so dass eine besondere abstrakte Gefährdung bestimmter Personengruppen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung kaum vorstellbar sei. Zudem stellten sich die vom Kläger im Verwaltungsverfahren als besonders belastend geschilderten Umstände seiner Tätigkeit mehr als Besonderheiten des Einzelfalles denn als typische Charakteristika der Berufsgruppe der Telefonisten dar.

Gegen den ihm am 03.02.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 18.02.2010 Berufung eingelegt. Er trägt vor, das SG hätte zumindest ein aussagekräftiges Sachverständigengutachten bei einem Institut für Arbeits- und Sozialmedizin einholen müssen. Der Problembereich "Stress in Call-Centern" werde in der Wissenschaft erheblich diskutiert, Unterlagen hierzu seien vorgelegt worden. Maßgeblich sei insbesondere der TK-Report. Es komme nicht darauf an, ob Mobbing und Stress auch in anderen Berufs- und Betätigungsfeldern auftreten könne, es gehe vielmehr um die Feststellung, dass in der Personengruppe "Telefonisten" eine gruppenspezifische Risikoerhöhung bestehe. Ohne aussagekräftige Gutachten könne dies nicht beurteilt werden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 29.01.2010 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.05.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.08.2008 zu verurteilen, eine Berufserkrankung des Klägers nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen sowie ihm eine Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt zur Erwiderung vor, es gebe keinerlei Hinweise, dass hier der Tatbestand des § 9 Abs. 2 SGB VII erfüllt sein könnte.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Beim Kläger liegt keine Wie-BK vor.

Soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Verletztenrente begehrt, ist die Klage allerdings bereits unzulässig (vgl. - auch zum Nachfolgenden - BSG, Urteil vom 30.10.2007, B 2 U 4/06 R in SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 5). Denn über die Gewährung von derartigen Sozialleistungen ist vor Klageerhebung in einem Verwaltungsverfahren zu befinden, das mit einem Verwaltungsakt abschließt, gegen den die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig ist (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG), weil auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung zwischen Versicherungsfall - siehe die Definition der Versicherungsfälle in §§ 7 ff SGB VII - und Leistungsfall - vgl. die §§ 26 ff SGB VII - zu unterscheiden ist. Eine derartige Entscheidung der Beklagten liegt nicht vor, auch wenn der Verfügungssatz des Bescheides die Aussage enthält, dass kein Leistungsanspruch bestehe. Verletztenrente indessen ist im Verwaltungsverfahren vom Kläger weder beantragt noch von der Beklagten konkret und für den Empfänger der Bescheide erkennbar geprüft worden und sie ist in den Bescheiden auch nicht erwähnt worden. Bei dieser Sachlage konnte für einen verständigen Empfänger der Bescheid kein Zweifel bestehen, dass die Beklagte allein über das Vorliegen einer Berufskrankheit entscheiden wollte und etwaige Leistungsansprüche nicht in Erwägung zog (so in einem vergleichbaren Fall auch BSG, Urteil vom 16.11.2005, B 2 U 28/04 R).

Im Übrigen ist die Klage zulässig. Der Kläger erstrebt bei sachdienlicher Auslegung seines prozessualen Begehrens (§ 123 SGG) im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG die Aufhebung der die Anerkennung der streitigen Wie-BK ablehnenden Verwaltungsentscheidungen und die gerichtliche Feststellung dieser Wie-BK. Dem auf Verurteilung der Beklagten zur behördlichen Anerkennung der Wie-BK gerichteten Antrag kommt bei dieser Sachlage keine eigenständige Bedeutung zu, insbesondere nicht i.S. einer Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG (BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 30/07 R).

Das SG hat umfassend und zutreffend ausgeführt, dass die Erkrankungen des Klägers - der Senat unterstellt hier wie schon zuvor das SG ohne weitere Nachprüfung die vorgetragenen Depressionen, chronischen Kopfschmerzen und den Tinnitus als gegeben - nicht als Wie-BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII festgestellt werden können. Der Senat sieht deshalb gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Zum Berufungsvorbringen des Klägers ist ergänzend anzumerken, dass sich das SG nicht gedrängt fühlen musste, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Ein einzelnes Sachverständigengutachten ist von vornherein nicht geeignet, breite medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über durch Mobbing und Stress verursachte psychische Erkrankungen, die zur so genannten Verordnungsreife führen könnten, zu ersetzen (zur fehlenden Verordnungsreife auch das vom SG zitierte Urteil des LSG Berlin vom 15.07.2003, L 2 U 145/01 m.w.N., zitiert nach Juris).

Die zahlreichen, vom Kläger eingereichten Unterlagen einschließlich des TK-Reports 2008 geben keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen. Der Senat verkennt nicht, dass "Stress in Call-Centern" Gegenstand von Veröffentlichungen ist. Doch wie schon das SG kann sich der Senat nicht davon überzeugen, dass tragfähige Anhaltspunkte für eine erhebliche gruppenspezifische Risikoerhöhung für Telefonisten durch Mobbing und Stress bestehen und zwar insbesondere auch nicht auf der Grundlage des vom Kläger besonders hervorgehobenen TK-Reports 2008. Zwar werden die Telefonisten in diesem Report in einer Tabelle über 20 Berufsgruppen mit gehäuften Diagnosen psychischer Störungen mit einer Diagnoserate von 31,9 % an erster Stelle genannt. Zu Recht hat das SG jedoch darauf hingewiesen, dass bemerkenswert ist, dass Arbeitslose mit einer Diagnoserate von 28,3 % (Differenz zu den Telefonisten damit nur 3,6 Prozentpunkte) erwähnt sind. Eine besonders herausgehobene Position der Telefonisten, die berufsspezifisch erklärt werden könnte, kann schon deshalb ungeachtet der vom Kläger dargestellten allgemeinen Belastungssituation von Telefonisten anhand dieser Zahlen nicht festgestellt werden. Hinzu kommt, dass die Erhebungsgrundlage für die im TK-Report ermittelten prozentualen Werte nicht klar mitgeteilt wird. Aus den Angaben ergibt sich lediglich, dass in den angegebenen Berufen Anfang 2006 jeweils mindestens 500 männliche sowie 500 weibliche Personen gearbeitet haben. Bei einer Erhebungsgröße von 1000 Personen macht ein Prozentpunkt aber gerade einmal zehn Fälle aus. Schon dies zeigt, dass es dieser Studie an einer hinreichenden statistischen Basis für valide Schlüsse fehlt. Hinzu kommen fehlende Daten zur konkreten Anzahl der jeweils zugeordneten Erkrankten, ihres Geschlechts sowie der bisherigen Dauer dieser Tätigkeit und einschlägiger Vorerkrankungen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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