L 2 U 196/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 40 U 5001/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 196/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 326/10 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme (ICD-10; DSM IV) erforderlich.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom
6. März 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung von weiteren Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v.H.

Der 1962 geborene Kläger war als Gartenbauhelfer beschäftigt. Am 14.07.2003 leerte er in einem Park Abfallkörbe und sammelte herumliegenden Abfall ein. Bei dieser Tätigkeit kam es zu einer Detonation eines gefundenen kugelförmigen Gegenstandes. Diese Detonation erkannte die Beklagte mit Anerkenntnis vor dem Bayerischen Landessozialgericht als Arbeitsunfall an und erließ am 16.10.2006 einen entsprechenden Ausführungsbescheid.

Nach der Detonation wurde im Krankenhaus A-Stadt ein Knalltrauma des rechten Ohres diagnostiziert und mit einer Infusionstherapie therapiert.

Die Beklagte holte ein Gutachten auf HNO-ärztlichem Gebiet von Dr. H. sowie auf neurologischem und psychiatrischem Gebiet von Dr. S. ein. Dr. H. bejahte in seinem Gutachten vom 18.11.2006 eine pancochleäre Hörstörung auf der rechten Seite, einen rechtseitigen Tinnitus sowie eine neu hinzugetretene Hyperakusis als Unfallfolgen und schätzte die Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) ab Juni 2006 auf 20 v.H. Dr. S. stellte in seinem neuropsychiatrischen Zusatzgutachten vom 06.03.2007 fest, beim Kläger liege eine posttraumatische Belastungsstörung mit gering- bis mittelgradiger depressiver Symptomatik und geringer Angstsymptomatik sowie der Verdacht auf eine Somatisierungsstörung ohne Hinweis auf eine posttraumatische intrakranielle Komplikation vor. Die MdE betrage 20 v.H. Der Sachverständige Dr. H. schlug daraufhin eine Gesamt-MdE von 30 v.H. vor.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. erstellte am 23.07.2007 ein nervenärztliches Gutachten nach Aktenlage. Er verneinte eine posttraumatische Belastungsstörung, weil auf psychiatrischem Fachgebiet kein Erstschaden nachgewiesen sei. Es habe zeitnah zum Unfallereignis keinerlei psychiatrische Auffälligkeiten und keine psychischen Symptome gegeben. Diese seien mit einem Intervall von nahezu drei Jahren aufgetreten. Zudem seien bei dem Unfall weder die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung noch einer akuten Belastungsstörung aufgetreten. Der HNO-Arzt Dr. S. kam in einem Gutachten nach Aktenlage am 14.09.2007 zum Ergebnis, die Innenohrschwerhörigkeit rechts und der Tinnitus rechts seien Unfallfolge und mit einer Gesamt-MdE um 15 v.H. zu bewerten.

Mit Bescheid vom 10.10.2007 wies die Beklagte einen Anspruch des Klägers auf Rente ab. Als Folgen des Unfalls wurden festgestellt: Innenohrschwerhörigkeit rechts und chronischer Tinnitus rechts. Nicht als Unfallfolge anerkannt wurde eine depressive Symptomatik.

Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 03.12.2007).

Am 03.01.2008 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht München (SG). Er leide an einer Minderung der Hörfähigkeit sowie einem Tinnitus, der eine massive gesundheitliche Belastung darstelle. Dies habe zu wiederholten krankheitsbedingten Ausfallzeiten geführt, weshalb das Arbeitsverhältnis durch Kündigung des Arbeitgebers geendet habe. Die psychische Störung sei Unfallfolge. Die Kündigung sei nur wegen der Unfallfolgen und daraus resultierender Fehlzeiten erfolgt. Der Kläger verwies auf einen Bericht der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie G. vom 14.12.2007. Dort wurde der Kläger vom 30.10.2007 bis 04.12.2007 wegen einer schweren depressiven Episode und vordiagnostizierter posttraumatischer Belastungsstörung behandelt.

Das SG holte ein Gutachten auf HNO-ärztlichem Gebiet bei Prof. Dr. S. ein. Diese führte in ihrem Gutachten vom 12.06.2008 aus, beim Kläger liege auf der rechten Seite eine beginnende Schwerhörigkeit vor, die aber nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückgeführt werden könne. Folge des Knalltraumas sei ein Tinnitus rechts. Ein drittes unterbrochen auftretendes Ohrgeräusch könne nicht anerkannt werden. Dieses pulsierende Rauschen sei eher charakteristisch für einen zervikalen Tinnitus. Auch der als Unfallfolge geltend gemachte Drehschwindel mit Fallneigung nach links sei nicht mit einem Knalltrauma vereinbar, sondern ein Hinweis, dass eine andere Erkrankung im Spiel sein müsse. Für den Tinnitus sei die MdE mit 10 v.H. anzusetzen.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. kam in seinem Gutachten vom 04.08.2008 zum Ergebnis, dass auf seinem Fachgebiet keine Unfallfolgen festzustellen seien. Die Spiegel der nach Angaben eingenommenen Medikamente lägen im nicht messbaren Bereich. Dies spreche dafür, dass ungeachtet der Angaben des Klägers diese Medikamente nicht eingenommen worden sind. Ein psychiatrischer Erstschaden liege beim Kläger nicht vor. Gesichert als Unfallfolge sei ein rechtsseitiger Innenohrschaden, welcher bereits im HNO-ärztlichen Gutachten gewürdigt worden sei. Psychiatrische Untersuchungsbefunde, mehr als drei Jahre nach dem Unfall mitgeteilt, seien nicht auf den Unfall zurückzuführen. Der Kläger legte daraufhin ein fachärztliches Attest des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. R. vom 22.10.2008 sowie der Diplompsychologin G. P. vom 28.10.2008 vor. Diese teilte mit, der Kläger befinde sich seit 24.07.2006 wegen einer mittelschweren reaktiven depressiven Episode und Somatisierungsstörungen in ihrer Behandlung. Die depressive Erkrankung sei durch ein Knalltrauma sowie die daraus entstehenden gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen erheblich reaktiviert und verstärkt worden. Der Kläger wandte ein, das Gutachten des Dr. K. sei nicht verwertbar, weil die Anamnese nicht in der albanischen Muttersprache des Klägers, sondern durch Vermittlung eines kroatischen Dolmetschers erhoben worden sei.

Dr. K. wies in einer ergänzenden Stellungnahme darauf hin, dass laut Mitteilung der behandelnden Ärzte beim Kläger bereits seit dem Jahre 2001 eine depressive Erkrankung bestanden habe, und dass zum anderen die bestehende psychische Störung vorwiegend auf dem Boden der komplexen früheren Störung entstanden sei.

Mit Urteil vom 06.03.2009 wies das SG die Klage ab, wobei es sich im Wesentlichen auf die Gutachten von Prof. Dr. S. und Dr. K. stützte.

Hiergegen hat der Kläger am 14.05.2009 Berufung eingelegt. Er hat erneut darauf hingewiesen, dass die Anamnese bei Dr. K. nicht in seiner Muttersprache erhoben worden sei. Des Weiteren habe die behandelnde Diplompsychologin P. die Erkrankung auf den Unfall zurückgeführt.

Daraufhin hat der Senat ein weiteres nervenärztliches Gutachten bei Dr. D. eingeholt. Dieser hat am 26.05.2010 ausgeführt, der Kläger habe nicht nur eine kroatische Staatsbürgerschaft, sondern spreche darüber hinaus kroatisch fließend, wie mit Hilfe des albanischen Dolmetschers zu erfahren war. Des Weiteren hat er darauf hingewiesen, dass der Kläger seit 2006 in Psychotherapie sei, die auf Deutsch stattfinde. Dr. D. hat weiter ausgeführt, in den Angaben der Dipl. Psych. P. und des Dr. K., die den Kläger erst seit 2006 behandelten, fänden sich keine Hinweise für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die diagnostischen Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung seien nicht belegt. Ein schwergradiges depressives Zustandsbild sei nicht festzustellen gewesen, ganz abgesehen davon, dass auch die verabreichte Medikation hier im deutlichen Widerspruch stünde. Mit ergänzender Stellungnahme vom 05.10.2010 hat Dr. D. dargelegt, dass eine zusätzliche MdE auf nervenärztlichem Fachgebiet für den Tinnitus über die 26. Woche hinaus nicht bestehe.

In der mündlichen Verhandlung wurde die Ehefrau des Klägers als Zeugin vernommen. Auf die Niederschrift der Sitzung wird hierzu verwiesen.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 06.03.2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10.10.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine posttraumatisch Belastungsstörung als Unfallfolge anzuerkennen und dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Unfallfolgen und Verletztenrente.

Der Kläger macht als weitere Unfallfolge neben der bereits anerkannten Innenohrschwerhörigkeit rechts und dem chronischen Tinnitus rechts eine posttraumatische Belastungsstörung geltend. Diese wurde mit Bescheid vom 10.10.2007 als Unfallfolge abgelehnt.

Diese Entscheidung der Beklagten wurde durch die im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten des Dr. K. und des Dr. D. auf nervenärztlichem Fachgebiet bestätigt. Zwar kann ein Gesundheitsschaden auch im psychischen Bereich entstehen. Das Bundessozialgericht (BSG vom 09.05.2006, Az.: B 2 U 1/05 R) fordert eine möglichst genaue und klare Erfassung der bestehenden Gesundheitsstörungen, um die Ursachen beurteilen und ggf. die MdE bewerten zu können. Speziell bei psychischen Gesundheitsstörungen ist eines der üblichen Diagnosesysteme mit Verwendung der entsprechenden Schlüssel und Bezeichnungen (z.B. ICD-10 = 10. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO von 1989) oder das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) heranzuziehen. Ein solcher Gesundheitsschaden im psychischen Bereich - insbesondere die beantragte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) - ist jedoch nicht nachgewiesen.

Bereits der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K., der vom SG zum Sachverständigen ernannt wurde, kam überzeugend zum Ergebnis, dass eine durchgehende depressive Verstimmung beim Kläger nicht festzustellen war. Zum selben Ergebnis kommt der Sachverständige Dr. D. im Berufungsverfahren. Dieser wurde mit einem weiteren Gutachten betraut, weil der Kläger angab, dass ihn Dr. K. auf Grund des "falschsprachigen Dolmetschers" nicht richtig verstanden habe. Dr. D. weist darauf hin, dass eine PTBS zu keinem Zeitpunkt belegt ist. Charakteristische Merkmale einer PTBS sind ein ungewolltes Wiederaufleben des traumatischen Ereignisses in Träumen und Gedanken, Vermeiden von Situationen, die an das Ereignis erinnern, Ängste oder Phobien, eine Einschränkung der emotionalen Reagibilität und anhaltende Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus wie Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Schreckreaktionen. Die PTBS folgt dem Trauma unmittelbar, selten mit einer Latenz bis zu sechs Monaten. Bei einer längeren Latenzzeit ist eine sorgfältige differenzialdiagnostische Abgrenzung notwendig (Schönberger/Mehrtens/Valtentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 144 f.).

Der Kläger hat erstmals im Jahre 2006 psychologische Hilfe in Anspruch genommen, also mehr als drei Jahre nach seinem Unfall. Dr. D. weist darauf hin, dass die diagnostischen Kriterien, wie sie in der ICD-10 oder auch dem DSM-IV niedergelegt sind, beim Kläger in keiner Weise belegt sind. Die ausschließlichen Angaben von Flashbacks reichen für diese Diagnose nicht aus. Die behandelnde Psychologin Dr. P. hat bei der Erstbehandlung vom 16.11.2006 bis 21.12.2006 eine mittelgradig depressive Episode diagnostiziert. In ihrer Bescheinigung vom 28.10.2008 führt Dr. P. aus, dass die depressive Erkrankung durch ein während der beruflichen Tätigkeit erlittenes Knalltrauma entstanden sein soll. Gleichzeitig aber gibt sie selbst an, dass sie den Kläger erstmals drei Jahre nach diesem Trauma behandelt hat. Hierbei berücksichtigt die Psychotherapeutin nicht, dass eine entsprechende Behandlung zwischenzeitlich nicht stattgefunden hat. Die Behandlung bei Dr. K. begann ebenfalls erst im Jahre 2006.

Auch das weitere Attest der Dr. P. vom 18.12.2009 führt zu keinem anderen Ergebnis. Die PTBS wird wiederum in keiner Weise belegt. Dr. D. weist darauf hin, dass in der Begutachtungssituation eine entsprechende Symptomatik wie Vermeidungsverhalten oder auch vegetative Zeichen nachweisbar sein müssen. Dies wurde weder bei der Vorbegutachtung durch Dr. S. noch bei Dr. K. noch bei der Begutachtung in Anwesenheit des albanischen Dolmetschers festgestellt. Die Psychotherapeutin P. geht ausschließlich von den subjektiven Angaben des Klägers aus; entsprechende Vorbefunde vor der ersten Vorstellung bei ihr aber liegen nicht vor, und eine entsprechende Behandlung ist ganz offensichtlich nicht nachgesucht worden. Dr. D. führt abschließend aus, dass ein schwergradiges depressives Zustandsbild nicht festzustellen ist, ganz abgesehen davon, dass auch die verabreichte Medikation hier im deutlichen Widerspruch steht. Nur weil vor dem Unfalltag kein Krankheitsgeschehen aufgezeichnet ist, ist nicht automatisch ein kausaler Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Erkrankung gegeben.

Im Übrigen ergibt sich auch aus den Berichten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie G., auf die sich der Kläger bezieht, nicht, dass eine PTBS vorliegt. Die Berichte sprechen vielmehr lediglich von einer "vordiagnostizierten" PTBS und nennen als eigene Diagnose eine rezidivierende depressive Störung.

Beim Kläger liegt eine depressive Verstimmung vor. Jedoch sind sich die Gutachter Dr. K. und Dr. D. darin einig, dass der Unfall nicht wesentliche Ursache dieser depressiven Verstimmung ist. Hierfür trägt der Kläger die objektive Beweislast. Auch die Atteste der Psychotherapeutin P. können zu keinem anderen Ergebnis führen, da erhebliche Zweifel an ihrer Diagnosestellung einer PTBS bestehen, wie oben bereits ausgeführt wurde.

Auch die Einlassung der Zeugin kann zu keiner anderen Beurteilung führen. Der Kläger hat sich bereits 2001 zu Dr. R. in Behandlung begeben. Der Anlass hierfür ist unerheblich, da die Kriterien einer PTBS, wie bereits dargelegt, nicht erfüllt sind. Nach Angaben der Zeugin ist der Kläger seitdem z.B. wegen Konzentrationsbeschwerden in psychiatrischer Behandlung gewesen.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verletztenrente wegen seines Unfalls vom 14.07.2003. Auch der Tinnitus führt zu keiner MdE in rentenberechtigendem Grade, was der Sachverständige Dr. D. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.10.2010 ausdrücklich bestätigt hat. Durch den Tinnitus sind danach keine erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen beim Kläger verursacht.

Die Berufung hat deshalb keine Aussicht auf Erfolg.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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