S 12 VG 26/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 VG 26/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 9/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) i.V.m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) streitig.

Der Sohn des Klägers, Herr I. H. M., wurde am 00.00.0000 Opfer eines Tötungsdelikts. Der am 00.00.0000 geborene Kläger stellte daraufhin, vertreten durch seinen Sohn L. über die Kreispolizeibehörde E. bei dem Beklagten am 00.00.0000 einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG i.V.m. BVG. Diesen Antrag konkretisierte der Kläger am 00.00.0000, indem er sinngemäß ausführte, er habe aufgrund der psychischen Belastung nach der Tat Beruhigungsmittel einnehmen müssen, weswegen er eine Treppe heruntergestürzt sei. Hierdurch habe er sich Verletzungen zugezogen. Auch habe sich im diesem Zusammenhang die beim vorliegende Zuckererkrankung verschlimmert.

Der Beklagte hat Arztberichte des L. Krankenhauses St. F. in K. sowie einen Befundbericht der Hausärztlichen Gemeinschaftspraxis Dres. J., Dr. C. und T. durch seinen ärztlichen Dienst ausgewertet. Dieser kam zu der Einschätzung, dass aus sozialmedizinischer Sicht der Antrag abgelehnt werden müsse. Der Kläger sei bereits seit geraumer Zeit schwerst krank gewesen. So habe schon länger unter einer erheblichen Herzinsuffizienz gelitten, weswegen bereits 0000 ein mehrmonatiger Krankenhausaufenthalt mit Langzeitbeatmung notwendig geworden war. Bei hochgradigem Übergewicht habe auch schon seit mehreren Jahren ein Diabetes mellitus Typ II bestanden. Er war auch bereits an der rechten Hüfte zweimalig mit Gelenksprothese implantatorisch versorgt. Der Kläger habe sich zwar in der Tat beim Sturz von einer Treppe einen Sprunggelenksbruch zugezogen, dessen Heilung zögerlich verlaufen sei. Im Rahmen dieser Verletzung sei es dann auch zu einer Entgleisung des Diabetes gekommen, so dass mit einer Insulintherapie begonnen worden sei. Auch habe der behandelnden Hausarzt eine massive reaktive Depression in Folge des Todes des Sohnes bestätigt. Der Sturz von der Treppe sei indes keine Schädigungsfolge, sondern Folge eigener Fahrlässigkeit des Klägers gewesen, da dieser die Treppe mit ungeeignetem Schuhwerk (Hausschlappen) betreten habe. Auch der Diabetes sei nicht kausale Schädigungsfolge. Schließlich sei auch die nachvollziehbare reaktive Depression nicht Schädigungsfolge im Sinne eines Schockschadens.

Mit Bescheid vom 00.00.0000 wurde der Antrag daraufhin vom Beklagten abgelehnt.

Mit Fax vom 00.00.0000 legte der Kläger, vertreten durch seinen Prozess-bevollmächtigten, Widerspruch ein. Er führte aus, aufgrund der Art und Weise des Tötungsdelikts könne eine posttraumatische Belastung nicht ausgeschlossen werden. Auch sei zu berücksichtigen, dass der Kläger im Rahmen der Hauptverhandlung gegen den Täter Audioaufzeichnungen der tödlichen Schüsse sowie im Anschluss daran das Sterben seines Sohnes mit angehört habe. Dem Widerspruch beigefügt war ein Attest des Medizin-Zentrums L. vom 00.00.0000.

Der Beklagte holte daraufhin ein neuro-psychiatrisches Gutachten des Neurologen und Psychiaters M. ein. Dieser kommt zu dem Ergebnis, der Kläger leide nicht an einer psychischen Beeinträchtigung, die mit der notwendigen Sicherheit auf die Tötung seines Sohnes zurückzuführen sei. Die vom Hausarzt diagnostizierte reaktive Depression sei als kurzfristige reaktive Störung einzuordnen, die derzeit unter einer laufenden Therapie zurückgebildet sei. Im Übrigen sei bei dem Kläger eine hirnorganische Beeinträchtigung festzustellen. Der Beklagte holte hierzu eine Stellungnahme durch Landesmedizinal-direktor Dr. S. ein. Dieser kam auf Grundlage des Gutachtens zu der Einschätzung bei dem Kläger habe eine akute Belastungsreaktion vorgelegen, die indes keine sechs Monate angedauert habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Hiergegen wendet sich der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, mit der am 00.00.0000 erhobenen Klage. Zur Begründung führt er aus, der Sohn des Klägers sei Opfer eines Mordes geworden. Während des Strafverfahrens sei auch eine Handy-Audio-Aufnahme angehört worden, auf denen die Schüsse sowie das Sterben des Sohnes zu hören gewesen sei. Der Kläger habe diese Aufnahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung ebenfalls angehört.

Er beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 26.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000 zu verurteilen, dem Kläger aufgrund der wegen des Tötungsdelikts vom 00.00.0000 erlittenen Schädigungsfolgen Leistungen nach dem OEG i.V.m. dem BVG in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da diese rechtmäßig sind.

Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält Versorgung, wer im Geltungsbereich des Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Ein solcher Angriff auf den Kläger selbst liegt nicht vor, allerdings ist sein Sohn (Primär-)Opfer einer gewaltsamen Tötung geworden. Neben den Primäropfern stehen in bestimmten Fällen auch den sog. "Sekundäropfern" Ansprüche nach dem OEG zu. Hierbei handelt es sich zum Beispiel um Personen, die etwa infolge eines gegen einen nahen Angehörigen gerichteten tätlichen Angriffs einen sog. "Schockschaden" erlitten haben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind auch diese grundsätzlich in den Schutzbereich des § 1 Abs. 1 OEG einbezogen (vgl. etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 8/01 R = SozR 4-3800 § 1 Nr. 2; Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R = BSGE 91, 107 ff.).

Voraussetzung hierfür ist - ebenso wie bei Primäropfern - eine unmittelbare Schädigung, also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R = BSGE 91, 107 ff.; Urteil vom 08.08.2001 - B 9 VG 1/00 R = BSGE 88, 240). Bei Sekundäropfern ist insoweit an den das Primäropfer schädigenden Vorgang anzuknüpfen. Sie müssen demnach durch Wahrnehmung dieses Vorganges oder eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sein (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R = BSGE 91, 107 ff.; Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 8/01 R = SozR 4-3800 § 1 Nr. 2). Darüber hinaus müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt. Umgekehrt muss der Mangel eines zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges zu dem das Primäropfer schädigenden Vorgang nicht schaden, wenn das Sekundäropfer eine enge personale Beziehung zum Primäropfer hat (Bundessozialgericht, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R = BSGE 90, 190 ff.). So ist die Unmittelbarkeit in zeitlicher und örtlicher Hinsicht regelmäßig dann gegeben, wenn ein Sekundäropfer Augenzeuge der Tat geworden ist (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 17.03.1982, 9a/9 RV 41/80 = SozR 3100 § 5 Nr 6). Auf Grund personaler Nähe hat das Bundessozialgericht die Unmittelbarkeit aber - jedenfalls bei einem nahen Angehörigen - auch dann bejaht, wenn das Sekundäropfer erst später Kenntnis von der vorsätzlichen gewaltsamen Tötung des Primäropfers erhält und dadurch eine Schädigung erfährt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 07.11.1979, 9 RVg 1/78 = BSGE 49, 98).

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für die Annahme eines engen Zusammenhanges gegeben. Der Kläger hat unmittelbar nach der Tat von der vorsätzlichen Tötung seines Sohnes gehört. Die Kammer sieht daher unproblematisch eine besondere persönliche Nähe, aber auch - jedenfalls zum ersten Zeitpunkt der Kenntniserlangung (nicht indes zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Hauptverhandlung, vgl. dazu unten) - die zeitliche Nähe als gegeben an.

Durch die Kenntnis vom gewaltsamen Tode seines Sohnes ist es bei dem Kläger auch zu einer reaktiven Depression gekommen. Diese stellte aber keinen über die normale psychische Belastung hinausgehenden Schock im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dar und führte insbesondere nicht zum Vorliegen leistungsbegründender Schädigungsfolgen. Gemäß § 1 OEG i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG sind nämlich Gesundheitsstörungen, die lediglich vorübergehender Natur sind, nicht zu berücksichtigen, wobei als vorübergehend ein Zeitraum bis zu sechs Monaten gilt (vgl. dazu auch Teil A Ziffer 2 lit. f) der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG [Versorgungsmedizin-Verordnung] vom 10.12.2008 [Versorgungsmedizinische Grundsätze]). Die seinerzeitige reaktive Depression hat sich nämlich zeitnah zurückgebildet. Dies steht für die Kammer aufgrund des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens des Neurologen und Psychiaters M. fest. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einem erfahrenen medizinischen Gutachter unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit und Vollständigkeit der insoweit erhobenen medizinischen Befunden zu zweifeln. Substantiierte Einwendungen dagegen sind von den Beteiligten auch nicht vorgebracht worden. Gegen das Vorliegen einer nach dem OEG zu entschädigenden Schädigungsfolge im Sinne eines Schockschadens sprechen für die Kammer - unter Berücksichtigung der Feststellungen des Gutachtens - folgende Aspekte: Im Rahmen der Begutachtung konnte der erfahrene Gutachter beim Kläger eine über das normale Maß hinausgehende Trauerarbeit nicht feststellen. Auch fanden sich weder Hinweise für Übererregung (Hyperarousel), Nachhallerinnerungen (Intrusion) oder etwa vermehrte Irritierbarkeit. Vielmehr hob der Gutachter die geringere emotionale Anteilnahme und Betroffenheit des Klägers hervor. Die aktuell beim Kläger bestehenden seelischen Beeinträchtigungen sind vor diesem Hintergrund nicht auf das Tötungsdelikt zurückzuführen, sondern sind vielmehr Folge hirnorganischer Veränderungen, die im Zusammenhang mit einer beim Kläger 0000 erforderlich gewordenen Langzeitbeatmung stehen. Auch die Tatsache, dass der Kläger seinerzeit Antidepressiva eingenommen hat, führt zu keiner anderen Bewertung. Insbesondere führt die Einnahme dieser Medikamente nicht dazu, dass die beim Kläger eingetretene Verletzung der unteren Extremitäten und die Verschlimmerung des bereits vorhandenen Diabetes mellitus als Schädigungsfolgen anzuerkennen wäre. Hiergegen spricht bereits, dass der Kläger den Sturz durch eigenes fahrlässiges Verhalten maßgeblich herbeigeführt hat, indem er die Treppe mit ungeeignetem Schuhwerk betreten hat, wovon die Kammer aufgrund der zeitnah erstellten Arztberichte ausgeht.

Soweit der Kläger ausführt - und hierauf bezieht sich seine Klagebegründung in erster Linie - er habe durch das Anhören der Aufzeichnung vom Tötungsakt und dem Sterben seines Sohnes im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Schwurgericht eine Schock erlitten, so wäre dies nach Auffassung der Kammer unbeachtlich. Zu diesem Zeitpunkt war das Unmittelbarkeitskriterium, welches Voraussetzung für die Einbeziehung des Sekundäropfers in den Schutzbereich des OEG ist, nicht mehr gegeben. Zwar kann die Kammer es nachvollziehen, dass der Kläger der Hauptverhandlung gegen den Täter beiwohnen wollte. Dennoch wusste der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits seit einiger Zeit, dass sein Sohn tot war und dass die Umstände des Todes zur Sprache kommen würden. Er hätte auch die Gelegenheit gehabt, sich dem Abspielen der Audioaufnahme zu entziehen. Er wusste, dass es die Aufnahme gibt und dass sie die Tat und das Sterben des Sohnes aufgenommen hatte. Dass der Kläger durch die Aufnahme erneut erschüttert wurde, wäre ebenfalls verständlich Diese Erschütterung ist - wie sich aus dem eingeholten Gutachten ergibt - letztlich objektiv aber ebenfalls sehr gering geblieben. Es ist indes nach Auffassung der Kammer - unabhängig von der tatsächlichen Schwere der Erschütterung - bei dieser Sachlage und zu diesem Zeitpunkt der Schutzbereich des OEG für Entschädigungen von Sekundäropfern nicht mehr eröffnet. Abschließend sei darauf verwiesen, dass die Tatsache, dass anderen Familienmitgliedern wegen des Tötungsdelikts Leistungen nach dem OEG zugestanden worden sind, keine präjudizielle Wirkung für den Kläger hat. Die Voraussetzungen für einen Anspruch nach dem OEG sind bei jedem Antragsteller individuell zu prüfen und liegen beim Kläger, wie oben ausgeführt, nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved