L 20 AY 145/10 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 24 AY 71/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AY 145/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 07.10.2010 geändert. Den Klägern wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen Prozesskostenhilfe ab dem 30.09.2010 (Antragstellung) bewilligt und Rechtsanwalt H, F beigeordnet. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Kläger begehren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren, in dem sie im Rahmen der Regelung des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.08.2007 ungekürzte Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen nach § 3 AsylbLG geltend machen.

Die Beklagte nahm auf den Überprüfungsantrag der Kläger vom 19.5.2009 insoweit in dem Bescheid vom 12.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2009 unter dem Gesichtspunkt des sog. Aktualitätsgrundsatzes bei der nachträglichen Erbringung höherer Leistungen Abzüge vor, weil sie zum Teil eine Bedarfsdeckung für nicht nachholbar ansieht. Am 30.11.2009 haben die Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhoben, jedoch (erst) am 30.09.2010 unter Vorlage des Formulars und entsprechender Belege zu ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe beantragt. Aus der Erklärung ist zu entnehmen, dass im August 2010 der Kläger zu 1) über Nettoeinkünfte in Höhe von 1.204,64 EUR und die Klägerin zu 2) über Einkünfte in Höhe von 400,00 EUR verfügte. Daneben wurde Kindergeld gezahlt. Die Kläger zu 3) bis 5) - insbesondere der volljährige Kläger zu 3) - verfügten über keine eigenen Einkünfte. Die Unterkunftskosten - möglicherweise einschließlich der Kosten für die Warmwasserbereitung - beliefen sich auf 613,07 EUR.

Bereits mit Schreiben vom 26.07.2010 hat das SG den Beteiligten im Hinblick auf ein bei dem Bundessozialgericht (BSG) unter dem Az. B 8 AY 1/10 R anhängiges Musterverfahren vorgeschlagen, das Verfahren zum Ruhen zu bringen.

Mit Schriftsatz vom 29.07.2010 hat die Beklagte beantragt, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, dies jedoch mit der Einschränkung verbunden, dass die Kläger zuvor ihre Bedürftigkeit nachzuweisen hätten. Außerdem reichte sie eine interne Berechnung über die Bedürftigkeit der Kläger nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) ein, wonach diese zusammen einen monatlichen Leistungsanspruch in Höhe von 59,00 EUR hätten. Zusätzlich sei der Betrag jedoch wohl noch um die Warmwasserpauschale zu bereinigen. Außerdem bestehe voraussichtlich ein Wohngeldanspruch, so dass nicht von einer Bedürftigkeit der Kläger ausgegangen werden könne. Bei ihren Berechnungen ging die Beklagte von einem monatlichen Nettoeinkommen des Klägers zu 1) in Höhe von 1.309,30 EUR (1.571,98 EUR brutto) aus.

Die Kläger wiesen darauf hin, dass die Beklagte dem Ruhen des Verfahrens nur unter einer Bedingung zugestimmt habe. Bedürftigkeit liege weiterhin vor. Nach einer rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe sei beabsichtigt, das Ruhen des Verfahrens zu beantragen.

Mit Beschluss vom 7.10.2010 - zugestellt am 13.10.2010 - hat das SG den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil im Zeitpunkt der Antragstellung die Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht mehr erforderlich gewesen sei. Zu der streitigen Rechtsfrage sei beim BSG ein Musterverfahren anhängig. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 könne es den Beteiligten eines sozialgerichtlichen Verfahrens zugemutet werden, eine Musterentscheidung des BSG abzuwarten und das eigene Verfahren solange ruhend zu stellen. Anwaltliche Hilfe sei insofern nicht erforderlich, und Prozesskostenhilfe sei zu versagen.

Hiergegen haben die Kläger am 12.11.2010 Beschwerde eingelegt.

Sie sind der Ansicht, sie müssten das Verfahren schon deswegen weiter betreiben, weil die Beklagte der Meinung sei, es liege schon keine Bedürftigkeit vor, sodass die Klage unabhängig von der Entscheidung des BSG in dem anhängigen Musterverfahren abzuweisen sei. Die Erwägungen in der von dem SG in Bezug genommenen Entscheidung des BVerfG seien nicht einschlägig. Es liege hier insofern eine Besonderheit vor, als die Ansprüche der Kläger bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung latent gefährdet seien. Die Beklagte habe sich in vergleichbaren Verfahren bereits geweigert, dem Rechnung tragenden Vergleichsvorschlägen zuzustimmen. Zudem stehe nicht fest, wann mit einer Entscheidung des BSG in dem Mustervefahren zu rechnen sei. Ebensowenig sei klar, ob das BSG in seiner Entscheidung nicht neue Kriterien aufwerfe, die wiederum Anlass zu Auseinandersetzungen geben könnten. Schließlich sei die Berechnung der Beklagten zur Bedürftigkeit der Kläger nach dem SGB II unzutreffend. Sie habe zu Unrecht den Bedarf nach den niedrigeren für das Jahr 2005 gültigen Regelsätzen berechnet und nicht berücksichtigt, dass der Kläger zu 3) zwischenzeitlich volljährig sei. Bei zutreffender Berechnung ergebe sich ein Leistungsanspruch nach dem SGB II in Höhe von 233,60 EUR. Der Wohngeldanspruch betrage demgegenüber nur 49,00 EUR (bei der Berechnung dieses Anspruches legt auch die Klägerseite ein monatliches Bruttoeinkommen des Klägers zu 1) in Höhe von 1.571,98 EUR zugrunde).

Nach Auffassung der Beklagten ist die Beschwerde zurückzuweisen. Sie räumt jedoch ein, den Leistungsanspruch der Kläger nach dem SGB II unzutreffend berechnet zu haben. Sie geht für den Fall, dass zwischenzeitlich keine gravierenden Änderungen eingetreten sind, nunmehr auch von einer Bedürftigkeit der Kläger aus. Im Übrigen schließt sie sich den Ausführungen des SG in dem angefochtenen Beschluss an. Auch der erkennende Senat habe bereits angeregt, vergleichbare Fälle bis zu einer Entscheidung des BSG zum Ruhen zu bringen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Prozesskostenhilfe wird nach § 73a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) gewährt, wenn die Betroffenen nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können, die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

1. Hinreichende Erfolgsaussichten können der Rechtsverfolgung nicht von vornherein abgesprochen werden. Dies gilt im Hinblick auf die Frage der konkreten Berechnung des Nachzahlungsanspruches nach § 44 SGB X in der vorliegenden Fallkonstellation bereits aufgrund des Urteils des Senats vom 17.05.2010 - L 20 AY 10/10, hinsichtlich dessen das zitierte Revisionsverfahren - B 8 AY 1/10 R - beim BSG anhängig ist. Auf die Klärung dieser Frage würde es nur dann nicht ankommen, wenn unter Berücksichtigung der Grundsätze, die das BSG (Urteil vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 Rn. 18 ff.) im Bereich des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) aufgestellt hat, hier davon auszugehen wäre, dass bereits im Zeitpunkt der Antragstellung am 19.5.2009 Bedürftigkeit der Kläger in diesem Sinne nicht mehr bestand bzw. deren Bedürftigkeit in der Folgezeit weggefallen ist. Die Beklagte selbst geht hiervon inzwischen nicht (mehr) aus. Ggf. ist vor diesem Hintergrund im Rahmen des Hauptsacheverfahrens noch zu klären, wie sich die Einkommens- und Vermögenssituation der Kläger - insbesondere des Klägers zu 1) - in dem Zeitraum vom 1.9.2007 bis heute im Einzelnen darstellte. Neben diesem tatsächlichen Gesichtspunkt bestünde ggf. noch Klärungsbedarf hinsichtlich der Rechtsfrage, wie genau die Grundsätze aus der zitierten Entscheidung des BSG vom 29.9.2009 auf den Bereich des AsylbLG zu übertragen sind. Dies gilt insbesondere für die Ausfüllung des Begriffs der "Bedürftigkeit" also die Frage, woran diese in der vorliegenden Fallkonstellation zu messen ist. Hierzu liegen bisher noch keine Grundsatzentscheidungen des BSG oder von Obergerichten vor (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8 AY 5/07 R Rn. 16). Es erscheint insoweit jedenfalls nicht ohne Weiteres zwingend, die Berechnung an den Regelungen des SGB II auszurichten. In Betracht kommt auch, die Regelungen des SGB XII oder des AsylbLG als Maßstab zugrunde zu legen oder zu berücksichtigen, ob die Betroffenen noch Anspruch auf andere Sozialleistungen wie z.B. Kinderzuschlag oder nach dem Wohngeldgesetz haben.

2. Entgegen der Ansicht des SG und der Beklagten kann die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch nicht - unter dem Gesichtspunkt der Mutwilligkeit - damit gerechtfertigt werden, dass die Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht erforderlich sei (§ 121 Abs. 2 ZPO).

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 entschieden, es reiche aus verfassungsrechtlicher Sicht aus, wenn dem Betroffenen nach Ergehen einer Musterentscheidung noch alle prozessualen Möglichkeiten offen stünden, umfassenden gerichtlichen Schutz zu erlangen. Solange ein Betreiben des eigenen Verfahrens in zumutbarer Weise zurückgestellt oder ruhend gestellt werden könne, sei nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte davon ausgingen, dass eine anwaltliche Vertretung nicht erforderlich sei.

Diesen Grundsätzen schließt sich der Senat an (vgl. zu einem ähnlichen Fall auch Beschluss des Senats vom 10.12.2010 - L 20 AY 112/10 B). Im vorliegenden Fall kommt - wie der Klägerbevollmächtigte zu Recht eingewandt hat - allerdings die Besonderheit hinzu, dass ein Ruhen des Verfahrens für die Kläger besondere Risiken birgt. Denn wie bereits vorstehend dargestellt sind Leistungen nach § 44 SGB X in den Fällen nicht nachzuzahlen, in denen die Bedürftigkeit zwischenzeitlich gänzlich entfallen ist. Maßgebender Beurteilungszeitpunkt ist insofern die letzte Tatsacheninstanz; ein erst danach eintretender Bedarfswegfall ist mit Rücksicht auf die Effektivität des Rechtsschutzes unbeachtlich (vgl. BSG, Urteil vom 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R Rn. 21).

Die Kläger haben aus diesem Grunde ein nachvollziehbares Interesse daran, dass ihr Verfahren möglichst schnell einer Klärung bis in die letzte Tatsacheninstanz zugeführt wird. Dieses Interesse wäre einzig dann ausgeschlossen, wenn sich etwa die Beklagte vergleichsweise dazu verpflichtet hätte, je nach Ausgang des beim BSG anhängigen Verfahrens - B 8 AY 1/10 R - die Klägerin ggf. besser zu stellen und zugleich einen nach einem bestimmten Stichtag eingetretenen Wegfall der Bedürftigkeit ggf. unberücksichtigt zu lassen. Davon war jedoch jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife (hier: 30.9.2010) nicht auszugehen. Weder das SG noch die Beklagte hatten einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet.

Sofern die Beklagte darauf hinweist, dass der Senat im Falle L 20 AY 10/10 in der mündlichen Verhandlung vom 17.05.2010 selbst auf die Entscheidung des BVerfG vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 hingewiesen habe, so erschöpft diese Entscheidung des BVerfG das vorliegende prozesskostenhilferechtliche Problem nicht zur Gänze. Die Grundsätze in jener Entscheidung sind vielmehr erst dann auf den vorliegenden Fall übertragbar, wenn das Risiko eines zwischenzeitlichen Wegfalls der Bedürftigkeit zwischen den Beteiligten einvernehmlich (durch entsprechende vergleichsweise Regelung etwa dahingehend, dass ein Wegfall der Bedürftigkeit nach einem bestimmten Stichtag den Nachzahlungsanspruch nicht mehr beeinträchtigt) beseitigt worden sein sollte.

Die Kläger sind nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen. Dies gilt auch für den Fall, dass sich gegenüber dem Monat August 2010 eine Verbesserung der Einkommenssituation des Klägers zu 1) auf 1.309,30 EUR (netto) monatlich ergeben haben sollte. Im Übrigen bestehen jedenfalls derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass es zwischenzeitlich zu einer wesentlichen Änderung der Einkommenssituation der Kläger gekommen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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