L 10 U 1318/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 1844/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 1318/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 11.02.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1302, 1307 oder 1317 (künftig BK 1302, 1307 bzw. 1317) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Der Kläger war von August 1976 bis November 1989 zum Teil mit längeren Unterbrechungen als abhängig Beschäftigter, von Dezember 1989 bis August 2002 als Selbstständiger im Bereich des Gartenbaus tätig.

Gesundheitliche Beschwerden machte der Kläger für die Zeit ab den Jahren 1997/1998 in Zusammenhang mit Schornsteinreinigungen in seinem Wohnhaus, bei denen es zu erheblichen Staub- und Rußbelastungen gekommen sei, geltend. Prof. Dr. D. (Medizinischer Direktor der K. Sch. - Zentrum für Pneumologie und Thoraxchirurgie) diagnostizierte in diesem Zusammenhang nach einer stationären Behandlung des Klägers im September 1999 ein hyperreagibles Bronchialsystem sowie eine rezidivierende Hyperventilation und teilte im Entlassungsbericht ergänzend mit, die subjektiven Beschwerden seien nach seinem Eindruck zu einem guten Teil psychisch überlagert. Im Oktober 2003 wurde der Kläger, nachdem er Steine in die Scheiben der von ihm und seiner Familie zwischenzeitlich bewohnten Sozialwohnung sowie in die Scheiben des Rathauses seiner Heimatgemeinde geworfen hatte, auf richterliche Anordnung für mehrere Wochen stationär in den Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Ch. G. (nachfolgend K. Ch.) untergebracht. Dr. H. (Chefarzt der dortigen Klinik für Gerontopsychiatrie, Psychotherapie und Psychiatrie) diagnostizierte eine paranoide Persönlichkeitsstörung, differenzialdiagnostisch nannte er eine chronisch wahnhafte Entwicklung. Aus der Familienanamnese ergab sich, dass zwei Brüder und die Mutter des Klägers aufgrund psychotischer, paranoider und schizoaffektiver Symptomatik ebenfalls schon stationär psychiatrisch behandelt wurden.

Im Mai 2005 erfolgte eine stationäre Behandlung des Klägers im Fachkrankenhaus N. (Psychiatrie und Psychosomatik, Abhängigkeitserkrankungen, Umweltmedizin, Rehabilitation). Der Leitende Arzt Dr. Sch. diagnostizierte eine Multiple Chemical Sensitivity (nachfolgend MCS), eine chronische Erschöpfung, chronische Schmerzen, eine häusliche Schimmelpilzexposition und eine episodisch herabgesetzte Impulskontrolle. Als Differenzialdiagnosen nannte er eine sonstige Persönlichkeitsstörung und eine schubförmig verlaufende Psychose.

Im Juli 2005 zeigte der Nervenarzt Dr. B. unter Verweis auf eine Neuropathie, eine Myopathie, eine Hörminderung, eine schwere Leistungsminderung und eine chemische Überempfindlichkeit im Hinblick auf die Verwendung von Pestiziden während der Tätigkeit als Gärtner den Verdacht auf eine BK an. Grundlage war u.a. eine im Oktober 2000 durch den Diplom-Psychologen K. durchgeführte testpsychologische Untersuchung, bei der der Kläger u.a. von einer enormen Müdigkeit und Energielosigkeit bei Belastung mit entsprechenden Abgasen berichtete. Diplom-Psychologe Klein ging von einer auffälligen Minderung der kognitiven Informationsverarbeitungskapazität aus. Die Beklagte holte bei den behandelnden Ärzten Befundberichte ein. Der Orthopäde Dr. T. teilte mit, ihm sei nichts von einer Polyneuropathie bekannt. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S.-R. gab an, der Kläger habe ihr gegenüber nicht über polyneuropathische Beschwerden geklagt. Im Übrigen verwies sie u.a. auf den von ihr zuletzt im September 2005 erstellten Arztbrief, in dem sie die Diagnose eines paranoiden Typs einer psychopathischen Persönlichkeit stellte. Der Umweltmediziner Dr. M. gab an, die Diagnose einer Polyneuropathie sei von Dr. B. gestellt worden. Er selbst berichtete von einem schweren, umweltbezogenen Krankheitsbild mit einer MCS, einem chronischen Erschöpfungs-Syndrom und einer chronischen Belastung mit Schimmelpilzen im Wohnbereich bei gleichzeitiger Typ-IV-Immunreaktion auf Schimmelpilze. Ferner zog die Beklagte den Entlassungsbericht des Fachkrankenhauses Nordfriesland, in dem der Kläger erneut im Februar 2006 stationär behandelt wurde, bei. Auf der Grundlage eines Gesprächs mit dem Kläger im März 2006 erstellte der Technische Aufsichtsbeamte Breuer für den Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten eine Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen. Tätigkeiten mit Halogenkohlenwasserstoffen seien nicht durchgeführt worden. In den Pflanzenschutzmitteln seien nur in geringem Umfang Lösemittelanteile enthalten gewesen, sodass gefährdende Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verwendung von organischen Lösemitteln nicht anzunehmen seien. Bei der Mehrzahl der angewandten Pflanzenschutzmittel habe es sich um Carbamate und Organophosphate gehandelt, die der Gruppe der organischen Phosphorsäureester zuzuordnen seien. Da die Exposition vergleichsweise geringfügig und selten gewesen und vom Kläger auch Schutzausrüstung verwandt worden sei, könne nicht davon ausgegangen werden, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen als gegeben anzusehen seien. In diesem Zusammenhang berichtete der Kläger von einem Vorfall während der Beschäftigung von März 1984 bis September 1986, bei dem es nach Kontakt mit dem Insektizid PD 5 zu Erbrechen, starken Kopfschmerzen und weiteren Symptomen gekommen sei. Nachdem die Staatliche Gewerbeärztin Dr. H. die BKen Nrn. 1302, 1307 und 1317 mangels einer nicht wahrscheinlich gemachten haftungsbegründenden Kausalität nicht zur Anerkennung vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.2007 die Anerkennung einer BK ab. Die Erkrankungen des Klägers seien nicht ursächlich auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Deswegen hat der Kläger am 14.05.2007 beim Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben. Das SG hat Prof. Dr. Sch. (K. Ch.) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Auf der Grundlage seiner eigenen Untersuchung am 19.06.2008 und der am gleichen Tag im Rahmen einer Zusatzbegutachtung durch die Diplom-Psychologin Valerius durchgeführten neuropsychologischen Untersuchung hat Prof. Dr. Sch. beim Kläger vertebragene Beschwerden mit pseudoradikulärer Ausstrahlung und wechselnde Missempfindungen links am Fuß pseudoradikulär, wechselnd in L5 und S1 sowie eine psychisch akzentuierte Persönlichkeit mit paranoiden Zügen diagnostiziert. Das Vorliegen einer Enzephalopathie, einer Myelopathie, einer Polyneuropathie, einer Myopathie sowie eines extra-/intracerebralen Gefäßprozesses hat er ausgeschlossen. Vor allem zum Wohl der Kinder des Klägers hat er eine weitere psychiatrische Untersuchung, Begutachtung und schließlich Behandlung für notwendig erachtet. Auf Einwendungen des damaligen Bevollmächtigten des Klägers hat er zu den Schreiben von Dr. B. ausgeführt, es sei für einen Neurologen geradezu unverantwortlich, wie man einem Patienten so schwere Diagnosen nach einmaliger Untersuchung ohne ausreichende anamnestische und objektive Befunde anhängen könne. Weiter hat Prof. Dr. Sch. ergänzt, er selbst habe sich bei der Untersuchung des Klägers geradezu bedroht gefühlt und sich immer wieder überlegt, ob er abrechen solle. Die MCS betrachte er nicht als wissenschaftlich anerkannte Erkrankung. Eine rechtlich oder medizinisch gesicherte Kausalität der Entstehung der multiplen Beschwerden existiere nicht - so auch im vorliegenden Fall. Die moderne neurologische Wissenschaft, auf den schulmedizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen fußend, führe aus, es gebe keinen überzeugenden Beleg dafür, dass die MCS allein auf Grund toxischer Effekte nach chemischen Expositionen zu erklären sei. Momentan sei die naheliegende Erklärung, dass am ehesten eine oder mehrere psychische Störungen die verschiedenen Symptome, die von Patienten mit einer MCS vorgebracht werden, erklärten. Natürlich habe er den Kläger auch auf Umweltgifte hin untersucht, jedoch keine Hinweise für toxische Schäden gefunden. Eine spezielle Untersuchungsmöglichkeit zum Nachweis einer MCS gebe es nicht.

Den vom Kläger gegen Prof. Dr. Sch. im Wesentlichen wegen dessen Ausführungen zur MCS gestellten Befangenheitsantrag hat das SG durch Beschluss (S 10 U 1574/09 A), bestätigt durch die Beschwerdeentscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (L 9 U 2598/09B) zurückgewiesen.

Mit Urteil vom 11.02.2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK seien nicht erfüllt. Der Vorfall im Zeitraum zwischen den Jahren 1984 und 1986 sei nicht nachgewiesen, daher könne dahingestellt bleiben, ob er im Rahmen der Prüfung einer BK überhaupt zu berücksichtigen sei, oder ob es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt habe. Zudem habe der Kläger den Beginn seiner Beschwerden erst auf die Jahre 1997/1998 datiert. Darüber hinaus sei eine neurologische Erkrankung nicht nachgewiesen und ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem angeblich schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden nicht hinreichend wahrscheinlich. Ob die MCS als eigenständige Erkrankung anzuerkennen sei, könne dahingestellt bleiben, da bislang ungeklärt sei, welcher Auslöser zu dem Beschwerdebild führe. Mithin sei nicht feststellbar, ob bestimmte Personengruppen durch ihre berufliche Tätigkeit einer stärkeren Exposition gegenüber dem Auslöser ausgesetzt seien als die übrige Bevölkerung.

Gegen das ihm am 19.02.2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.03.2010 Berufung eingelegt. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf eine erneute Stellungnahme von Dr. B. vom Juni 2010, in der dieser von "typischen Gewächshausschäden" spricht und hierzu auf zwei beigefügte, von ihm verfasste "typische Briefe der Schwergeschädigten aus den Gewächshäusern" verweist.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 11.02.2010 und den Bescheid der Beklagten vom 23.05.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.04.2007 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine BK Nr. 1302 bzw. 1307 bzw. 1317 der Anlage 1 zur BKV vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat sich zur Sache nicht weiter geäußert.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet über die nach den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Wie vom SG zutreffend ausgeführt, erstrebt der Kläger im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG die Aufhebung der die Anerkennung der streitigen BKen ablehnenden Verwaltungsentscheidung und die gerichtliche Feststellung zumindest einer dieser BKen. Ob - was das SG in den Entscheidungsgründen angesprochen, aber dahingestellt gelassen hat - der einmalige Vorfall mit dem Insektizid PD5 im Zeitraum März 1984 bis September 1986 ein Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) war, ist nicht Gegenstand des Rechtsstreits. Die Beklagte entschied in den angefochtenen Bescheiden nicht über einen Arbeitsunfall. Der Kläger hat dementsprechend auch nicht beantragt, das Vorliegen eines Arbeitsunfalls festzustellen.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung einer BK 1302, 1307 bzw. 1317. Zutreffend verneinte die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden das Vorliegen dieser BKen.

BKen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung oder mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach den § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB VII). Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören die hier geltend gemachten Nummern: - 1302: "Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe", - 1307: "Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen" - 1317: "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische". Voraussetzung für die Anerkennung und ggf. Entschädigung einer Erkrankung als BK ist in diesen Fällen zum einen, dass der schädigende Stoff ("Listenstoff") generell geeignet ist, das betreffende Krankheitsbild - bei der BK 1317 zwingend eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie - zum Entstehen zu bringen oder zu verschlimmern. Zum anderen muss die vorliegende Erkrankung konkret-individuell durch entsprechende Einwirkungen des Listenstoffs wesentlich verursacht bzw. verschlimmert worden und diese Einwirkungen müssen wesentlich durch die versicherte Tätigkeit verursacht worden sein. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i.S. des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht. Der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gilt jedenfalls für den konkret-individuellen Kausalzusammenhang zwischen der mit der versicherten Tätigkeit in innerem Zusammenhang stehenden Verrichtung und der schädigenden Einwirkung ("haftungsbegründende Kausalität") und zwischen dieser und dem Eintritt der Erkrankung ("haftungsausfüllende Kausalität").

Wie schon das SG geht auch der Senat davon aus, dass die Feststellung der streitgegenständlichen BKen bereits an den nicht gegebenen arbeitstechnischen Voraussetzungen (Einwirkung von Halogenkohlenwasserstoffe, organische Phosphorverbindungen bzw. organische Lösungsmittel oder deren Gemische) scheitert. Mit dem in Rechtsprechung und Literatur bei verschiedenen BKen verwendeten Begriff der arbeitstechnischen Voraussetzungen sind die für die Anerkennung einer Krankheit als BK erforderlichen besonderen Einwirkungen i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII gemeint (BSG, Urteil vom 27.06.2006, B 2 U 20/04 R in SozR 4-2700 § 9 Nr. 7, dort zur BK Nr. 2110).

Die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1302 sind offensichtlich nicht gegeben. Nach dem Ermittlungsergebnis des TAD, dem ein ausführliches Gespräch mit dem Kläger zugrunde lag, führte der Kläger im Rahmen seiner Berufsausübung keine Tätigkeiten, bei denen er Kontakt zu Halogenkohlenwasserstoffen hatte, durch.

Auch die Bewertung des TAD, dass der beruflich bedingte Kontakt des Klägers mit organischen Phosphorverbindungen und organischen Lösungsmitteln nicht zur Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BKen 1307 und 1317 führte, überzeugt den Senat.

Bei der Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen geht es darum, welche Einwirkungen vorgelegen haben und wie sie beschaffen gewesen sein müssen, um von einer beruflichen Ursache der eingetretenen Erkrankung ausgehen zu können. Dabei ist es Aufgabe der Verwaltung und der Gerichte, die im Text der BKV nur unbestimmt beschriebenen Einwirkungen zu präzisieren. Dazu kann die Festlegung gehören, welches Maß an von der BK erfassten Einwirkungen im Verlauf der versicherten Berufstätigkeit mindestens erreicht worden sein muss, damit überhaupt ein Kausalzusammenhang mit der Erkrankung in Betracht kommt.

Vorliegend ergibt sich aus dem Wortlaut der BKen 1307 und 1317 kein Mindestmaß für die Einwirkung der gefährdenden Listenstoffe. Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass das Ausmaß der Einwirkung unerheblich ist, also jegliche auch noch so geringe Einwirkung ausreichend wäre. Schließlich setzt schon die Ermächtigungsgrundlage des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII besondere berufliche Einwirkungen voraus, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.02.2010, zitiert nach Juris). So wies das BSG an anderer Stelle (Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 6/04 R in SozR 4-2700 § 9 Nr. 5 zur BK 2301 - Lärmschwerhörigkeit -) darauf hin, dass die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die Gerichte wegen der oftmals unbestimmten Fassung der BKen verpflichtet sind, deren Inhalt über deren Wortlaut hinaus nach den allgemein anerkannten juristischen Regeln und Methoden (Wortlaut, Zusammenhang, Historie, Zweck) zu bestimmen, auch vor dem Hintergrund, dass der Verordnungsgeber die BKen zum Teil bewusst offen formuliert, damit Verwaltung und Rechtsprechung die sich ändernden Erkenntnisse berücksichtigen können, ohne dass der Wortlaut der Verordnung geändert werden muss. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe hat es für die Interpretation und sogar eine Einschränkung des Wortlauts in Form einer teleologischen Reduktion nicht für erforderlich gehalten. Die Fragen nach der Art und dem Ausmaß der von der BK erfassten Einwirkungen sind (BSG, Urteil vom 27.06.2006, a.a.O.) unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten.

Der Senat stützt sich hier auf die Sachkunde des TAD. Nach dessen Feststellungen waren die in den ohnehin nur unregelmäßig angewandten Pflanzenschutzmittel enthaltenen Lösemittelanteile zu gering, als dass von einer Gefährdung ausgegangen werden kann. Auch der seltene Kontakt mit Pflanzenschutzmitteln, die organische Phosphorverbindungen enthielten, führte zu einer vergleichsweise geringfügigen Exposition. Bis in das Jahr 1989 wurden die Pflanzenschutzmittel unter Anwendung der kompletten Körperschutzmittel nach Herstellerangaben im Wesentlichen im Gießverfahren ausgebracht. Für die Zeit danach konnte zwar der Gebrauch von Körperschutzmitteln vom Kläger nicht mehr bestätigt werden. Jedoch erinnerte sich der Kläger für die Zeit bis in das Jahr 2002 - also über einen Zeitraum von 13 Jahren - nur noch an ein viermaliges Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln im Gießverfahren. Insgesamt ist damit im Hinblick auf Vergleichsarbeitsplätze - so überzeugend der TAD - von einer geringfügigen Exposition auszugehen. Der Senat kann sich mithin keine Überzeugung davon verschaffen, dass der Kläger den genannten Listenstoffen durch seine berufliche Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt war.

Doch selbst wenn angesichts der Kontakte des Klägers mit den Listenstoffen vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BKen 1317 und 1307 ausgegangen werden würde, ergibt sich keine für den Kläger günstigere Entscheidung.

Die Feststellung der BK 1317 scheitert (auch) daran, dass das Vorliegen einer Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie nicht nachgewiesen ist. Der Senat stützt sich dabei insbesondere auf das überzeugende Gutachten von Prof. Dr. Sch.

Nach einer umfangreichen und differenzierten Untersuchung hat Prof. Dr. Sch. keine Anhaltspunkte für eine Polyneuropathie finden können. Insbesondere haben sich die Nervenleitgeschwindigkeiten und die evozierten Potenziale unauffällig gezeigt. Der neurologische Befund hat sich sogar als vorzüglich erwiesen. Zwar hat der Kläger gegenüber dem Sachverständigen Missempfindungen im Bereich der Zehen und Hände angegeben. Er hat dies jedoch erst auf besonderes Nachfragen vorgebracht, sodass der Rückschluss von Prof. Dr. Sch. die Beschwerden als klinisch und alltäglich kaum relevant einzuordnen, berechtigt ist. Dafür spricht auch, dass Dr. Sp.-R. gegenüber der Beklagten mitteilte, dass der Kläger nie über polyneuropathische Beschwerden klagte. Die Diagnose einer Polyneuropathie wurde auch von den behandelnden Ärzten des F. N. nach zweimaliger stationärer Behandlung nicht gestellt. Dies steht in Einklang mit dem Befundbericht des Orthopäden Dr. T., dem eine Polyneuropathie ebenfalls nicht bekannt war. Auch Dr. M. brachte in dem für die Beklagten erstellten Befundbericht sinngemäß zum Ausdruck, dass er eine Polyneuropathie nicht diagnostiziert hatte. Er verwies lediglich auf die insoweit von Dr. B. vertretene Auffassung. Dessen Bewertung ist für den Senat jedoch nicht überzeugend. Die von Dr. B. im Bericht vom Juli 2005 aufgeführten Befunde mit Diagnose: "handschuh- und sockenförmige Hypästhesie und Hyperpathie, also Polyneuropathie" sind von keinem anderen Arzt bestätigt, vielmehr hat Prof. Dr. Sch. Polyneuropathie ausschließen können.

Auch das Vorliegen einer Enzephalopathie hat Prof. Dr. Sch. unter Hinweis auf umfangreiche neurophysiologische Untersuchungen, eine dopplersonographische Untersuchung, eine Hirnstammreflexuntersuchung, ein Kernspin sowie eine testpsychologische Untersuchung überzeugend ausgeschlossen. Zwar hat die Diplom-Psychologin Valerius Befunde erhoben, die den Untersuchungsergebnissen des Diplom-Psychologen K., der im Ergebnis von einer erworbenen Hirnleistungsstörung ausging, insgesamt entsprochen haben. Allerdings hat sich der Diplom-Psychologin V. ein deutlicher Widerspruch zwischen den Aufmerksamkeits-/Kon-zentrati¬ons- und Gedächtnisdefiziten einerseits und dem ausgesprochen hohen Intelligenzniveau sowie insbesondere der überdurchschnittlich ausgeprägten exekutiven Leistungsfähigkeit andererseits gezeigt. Nachvollziehbar hat Diplom-Psychologin V. diesen Widerspruch mit einer nicht durchgängigen Motivation und Leistungsbereitschaft des Klägers und dem klinischen Eindruck einer deutlichen Antriebslosigkeit und Unlust erklärt. Auf dieser Grundlage kann sich der Senat keine Überzeugung vom Vorliegen von Befunden einer wesentlichen, die berufliche Leistungsfähigkeit einschränkenden kognitiven Beeinträchtigung, die man als Folge und Ausdruck einer belangvollen Enzephalopathie deuten könnte, bilden. Auch insoweit folgt der Senat nicht der Auffassung von Dr. B.

Betreffend die BK 1307 ist eine Erkrankung, die hinreichend wahrscheinlich durch Kontakte mit organischen Phosphorverbindungen verursacht wurde, nicht nachgewiesen. Eine belangvolle neurologische Erkrankung liegt beim Kläger - so überzeugend Prof. Dr. Sch. nicht vor. Neben den bereits angesprochenen Krankheitsbildern der Polyneuropathie und Enzephalopathie hat Prof. Dr. Sch. ausdrücklich auch eine Myelopathie, Myopathie und extra-/intracerebrale Gefäßprozesse ausgeschlossen. In seiner ergänzenden Stellungnahme hat er betont, den Kläger natürlich auf Umweltgifte hin untersucht zu haben. Einen Hinweis auf toxische Schäden hat er dabei jedoch nicht gefunden.

Die von Dr. B. und den Ärzten des Fachkrankenhauses Nordfriesland gestellte Diagnose einer MCS überzeugt den Senat nicht vom Vorliegen einer BK. Der Senat sieht sich insoweit nicht veranlasst, auf die zwischen dem Kläger und Prof. Dr. Sch. zu Tage getretene Meinungsverschiedenheit über die Anerkennung dieses Krankheitsbilds näher einzugehen. Maßgeblich für den Senat ist die überzeugende Darstellung von Prof. Dr. Sch., dass es nach den derzeitigen schulmedizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen jedenfalls keinen überzeugenden Beleg dafür gibt, dass die MCS allein auf Grund toxischer Effekte nach chemischer Exposition zu erklären ist. Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand werden psychische Störungen am ehesten als Erklärung der verschiedenen Symptome, die von Patienten mit einer MCS vorgebracht werden, herangezogen. Mithin fehlt es dem Senat selbst bei Unterstellung einer MCS an einer objektivierbaren wissenschaftlichen Grundlage für die Annahme eines hinreichend wahrscheinlichen Ursachenzusammenhangs zwischen der Erkrankung und den vom Kläger angeschuldigten Expositionen. Die vom Kläger eingereichte Stellungnahme von Dr. B. vom Juni 2010 über "typische Gewächshausschäden" bringt keinen Erkenntnisgewinn. Sachliche, nachvollziehbare Argumente gehen aus seinen Ausführungen nicht hervor. Zudem sprechen die eigenen Angaben des Klägers zum Entstehen und zu den auslösenden Momenten seiner Beschwerden gegen einen berufsspezifischen Zusammenhang. Denn hinsichtlich des Auftretens der Beschwerden in den Jahren 1997/1998 knüpfte der Kläger an eine Rußbelastung im eigenen Haushalt an. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt schon seit Dezember 1989 selbstständig und arbeitete dabei - so der Bericht des TAD - fast vollständig ohne Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Wiederholt wurde vom Kläger als Beschwerdeauslöser auch eine Schimmelpilzbelastung in der eigenen Wohnung thematisiert.

Letztlich geht der Senat auf der Grundlage des Gutachtens von Prof. Dr. Sch. davon aus, dass die maßgebliche Gesundheitsstörung des Klägers in einer akzentuierten Persönlichkeit mit paranoiden Zügen zu sehen ist. Eine dahingehende Diagnose wurde bereits im Rahmen der stationären Behandlung des Klägers in der Kl. Ch. unter besonderem Hinweis auf eine familiäre Vorbelastung und eindrücklicher Schilderung des Vorfalls (Steinwürfe in die Fenster der eigenen Wohnung und des örtlichen Rathauses), der zur Einweisung in die Klinik führte, gestellt. Auch die behandelnde Neurologin und Psychiaterin Dr. Sp.-R. diagnostizierte im September 2005 einen paranoiden Typ einer psychopathischen Persönlichkeit. Die Ärzte des Fachkrankenhauses Nordfriesland erwähnten zum Abschluss des stationären Aufenthalts im Jahr 2005 immerhin differentialdiagnostisch eine sonstige Persönlichkeitsstörung und eine schubförmig verlaufende Psychose. Soweit diese Differentialdiagnose im Entlassungsbericht zur Behandlung im Jahr 2006 nicht mehr auftaucht und nur noch u.a. eine Störung der Impulskontrolle diagnostiziert wurde, überzeugt diese Einschränkung angesichts der im Vorfeld von anderen Ärzten erhobenen Befunde und gestellten Diagnosen nicht.

Das psychiatrische Krankheitsbild ist zur Überzeugung des Senats nicht hinreichend wahrscheinlich auf die frühere Berufstätigkeit des Klägers zurückzuführen. Der Senat verkennt nicht, dass Prof. Dr. Sch. zweimal ausdrücklich angeregt hat, eine psychiatrische Begutachtung durchzuführen. Diese Anregung sieht der Senat jedoch vor dem Hintergrund, dass Prof. Dr. Sch. die Begutachtung im Hinblick auf eine von ihm als dringend notwendig angesehene therapeutische Einflussnahme für wichtig gehalten hat. Seinen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass er darüber hinaus Hinweise für eine Verursachung der psychiatrischen Erkrankung durch die Berufstätigkeit gesehen hat. Gegen einen solchen Zusammenhang spricht die schlüssige Beurteilung, die Dr. Hermle nach der stationären Behandlung des Klägers in der Kl. Chr. vornahm. Entgegen der Auffassung des Klägers, der seine Problematik nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit einer MCS sehen konnte und sich nur im Ansatz hinsichtlich seiner psychiatrischen Erkrankung einsichtig zeigte, ging Dr. H. letztlich von durch die psychiatrische Erkrankung bedingten, übersteigerten Wahrnehmungen des Klägers bei Bestehen einer misstrauisch feindseligen Grundhaltung gegenüber seiner Umgebung aus. Dies entspricht dem von Prof. Dr. Sch. dargelegten derzeitigen Erklärungsmodell zur Entstehung einer MCS (s.o.). Auch den Arztbriefen von Dr. Sp.-R. lassen sich keine Hinweise auf eine Verursachung der psychiatrischen Erkrankung durch die Berufstätigkeit entnehmen. Lediglich Dr. Sch. verknüpfte im Entlassungsbericht zur Behandlung im Februar 2006 eine Störung der Impulskontrolle zum Teil mit der von ihm angenommenen MCS. Wie bereits ausgeführt, geht der Senat jedoch davon aus, dass Dr. Sch. zu Unrecht das psychiatrische Krankheitsbild außer Acht lässt. Seine Einschätzung überzeugt den Senat daher nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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