L 4 R 545/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 1676/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 545/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 30. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhebt im Zugunstenverfahren Anspruch auf höhere Altersrente seit 01. Oktober 2008; er bestreitet die Wirksamkeit einer von ihm erklärten Klagerücknahme.

Der am 1943 geborene Kläger hat ausweislich des Versicherungsverlaufs 540 Monate Beitragszeit zurückgelegt. Zuletzt war er vom 06. September 1999 bis 17. Juli 2001 versicherungspflichtig beschäftigt und bezog anschließend noch Leistungen wegen Arbeitslosigkeit, zuletzt Arbeitslosenhilfe bis zu deren Abschaffung mit 31. Dezember 2004.

Auf den Antrag vom 25. November 2004 bewilligte die Beklagte (damals noch Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) durch Bescheid vom 24. Januar 2005 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit ab 01. Januar 2005 mit einem auf 0,865 verminderten Zugangsfaktor und einem anfänglichen Nettobetrag von EUR 1.260,74. Mit dem Widerspruch hiergegen wandte sich der Kläger gegen die Bewertung verschiedener rentenrechtlicher Zeiten und rügte u.a. das Fehlen einer Kindererziehungszeit und Berücksichtigungszeit betreffend die am 1979 geborene Tochter. Letzteres wurde durch Bescheid vom 28. Juli 2005 wegen mangelnder überwiegender Erziehung des Kindes abgelehnt. Nachdem der Kläger seinen Widerspruch hinsichtlich dieses Streitpunktes sowie der Bewertung des Jahres 1965 (Wehrdienst bis 07. März 1965 und anschließende Nachversicherung) aufrechterhalten hatte, erließ die Widerspruchsstelle der Beklagten den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 14. November 2005. Diesen griff der Kläger nicht an.

Am 20. Januar 2009 ging der Antrag des Klägers auf Neuberechnung der Altersrente rückwirkend ab dem 01. Oktober 2008, dem Monat nach Vollendung des 65. Lebensjahres ein. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG; Beschluss vom 11. November 2008 - 1 BvL 3/05 u.a. -) habe Beitragszahler mit 45 Beitragsjahren privilegiert und deshalb den Anspruch auf die volle Rente ohne Abschläge begründet. Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 26. Januar 2009 ab, den Bescheid vom 24. Januar 2005 zurückzunehmen. Die vom BVerfG begründete Vertrauensschutzregelung erfasse nur vor dem 01. Januar 1942 Geborene. Demgemäß werde der Kläger von der Vertrauensschutzregelung nicht erfasst.

Der Kläger erhob Widerspruch. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Vertrauensschutzregelung für ihn nicht zur Anwendung komme. Auch er habe durch dauerhafte Beitragszahlung zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung beigetragen. Der Gleichheitsgrundsatz sei verletzt. Die Widerspruchsstelle der Beklagten erließ den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 20. April 2009. Im bindend gewordenen Rentenbescheid vom 24. Januar 2005 sei weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden. Das Bundessozialgericht (BSG) habe dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob die Vertrauensschutzregelung für vor dem 01. Januar 1942 Geborene mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar sei. Letzteres habe das BVerfG am 11. November 2008 verneint. Der Kläger sei nicht vor 1942 geboren.

Der Kläger erhob am 22. Mai 2009 zum Sozialgericht Mannheim (SG) Klage. Er halte die Privilegierung vor dem 01. Januar 1942 Geborener für eine Ungleichbehandlung. Auch er sei als Pflichtversicherter eine tragende Säule zur Finanzierung des Systems der Rentenversicherung gewesen.

Die Beklagte trat der Klage unter Hinweis auf die mehrmals dargelegte Rechtslage entgegen.

Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung des SG am 22. Oktober 2009 (Dauer von 12.15 Uhr bis 12.30 Uhr) enthält den Hinweis, die Sach- und Rechtslage sei, insbesondere unter Berücksichtigung des Beschlusses des BVerfG vom 11. November 2008, 1 BvL 3/05, ausführlich erörtert worden. Daraufhin habe der Kläger erklärt: "Ich nehme die Klage zurück." Dies sei vorgelesen und genehmigt worden.

Am 29. Oktober 2009 ging beim SG der Schriftsatz des Klägers ein, es sei ihm nicht sofort erkenntlich gewesen, dass er die Klage zurückgenommen habe. Dies habe er noch im Gerichtsgebäude als Missverständnis erkannt, eine Klärung aber nicht erreichen können. In der Sache verbleibe er dabei, dass die Vertrauensschutzregelung nur für vor dem 01. Januar 1942 Geborene eine Ungleichbehandlung darstelle. Auf Hinweise des SG vom 30. Oktober 2009 verblieb der Kläger dabei, jede vor Gericht geführte Verhandlung müsse mit der Verkündung eines Beschlusses geschlossen oder beendet werden. Es liege der Restitutionsgrund im Sinne von § 580 Nr. 7 Buchst. b Zivilprozessordnung (ZPO) vor, da er eine Urkunde aufgefunden habe, die eine günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Er widerrufe nunmehr (Eingang 17. November 2009) seine Erklärung bezüglich der Zurücknahme der Klage.

Durch Gerichtsbescheid vom 30. Dezember 2009 stellte das SG fest, dass das Klageverfahren S 8 R 1676/09 durch Klagerücknahme beendet sei. Zur Begründung legte es dar, die Klage sei rechtswirksam zurückgenommen. Die Klagerücknahme sei unanfechtbar und auch unwiderruflich. Die Grundsätze des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) über die Anfechtung von Willenserklärungen fänden aus Gründen der Rechtssicherheit auf Prozesshandlungen keine Anwendung. Ein Widerruf müsse spätestens gleichzeitig mit der Klagerücknahme eingehen, was nicht geschehen sei. Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne von § 579 oder § 580 ZPO lägen nicht vor.

Hiergegen hat der Kläger am 01. Februar 2010 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Es sei richtig, dass die inhaltlichen Hinweise der Richterin in der momentanen Situation so eindeutig gewesen seien, dass er einer Klagerücknahme nicht widersprochen und deren Auswirkung nicht sofort erkannt habe. Er habe die Aussage, er ziehe die Klage zurück, nicht so formuliert oder ausgesprochen. In der Sache verbleibe er dabei, dass die Privilegierung lediglich der vor 1942 Geborenen eine unverständliche und nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung darstelle.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 30. Dezember 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 26. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. April 2009 zu verurteilen, den Bescheid vom 24. Januar 2005 zurückzunehmen und ihm ab 01. Oktober 2008 höhere Altersrente ohne verminderten Zugangsfaktor zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Der Kläger habe im Übrigen eingeräumt, er habe der Protokollierung der Klagerücknahme nicht widersprochen.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 30. Dezember 2009 zutreffend entschieden, dass das Klageverfahren S 8 R 1676/09 durch die in der Niederschrift des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2009 festgehaltene Rücknahmeerklärung des Klägers erledigt ist.

Die den Rechtsstreit beendende Prozesshandlung findet sich in der Erklärung des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2009. In der Niederschrift dieses Termins ist festgehalten, dass der Kläger die Klage zurücknehme. Dies kann - wie hier - vor Rechtskraft eines Urteils erfolgen (vgl. § 102 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (Satz 2 dieser Vorschrift).

Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 2009 eine solche Erklärung tatsächlich abgegeben. Dies folgt aus der Niederschrift über diesen Termin, der insoweit Beweiskraft zukommt (vgl. § 122 SGG i.V.m. § 165 ZPO). Bei der Zurücknahme der Klage handelt es sich um einen nach § 160 Abs. 3 Nr. 8 ZPO in die Niederschrift aufzunehmenden wesentlichen Vorgang des Gerichtstermins. Erforderlich ist nicht, dass der Kläger die wörtlich festgehaltene Erklärung selbst mündlich so formuliert hat. Es genügt, dass die Richterin die Rücknahmeerklärung laut diktiert, sie anschließend vorgelesen und den Kläger daraufhin gefragt hat, ob er diese Erklärung so abgebe, was jener auch bejaht haben muss. Damit ist eine wirksame Prozesserklärung, die den Rechtsstreit beendet hat, abgegeben worden. Dies hat der Kläger im Kern so auch nicht bestritten. Der Kläger räumt selbst ein, dass die inhaltlichen Hinweise der Richterin in der momentanen Situation so eindeutig gewesen seien, dass er einer Klagerücknahme nicht widersprochen habe.

Die Rücknahme der Klage ist eine Prozesshandlung, die das Gericht und die Beteiligten bindet. Sie kann grundsätzlich nicht widerrufen oder wegen Irrtums angefochten werden (vgl. BSG, Beschluss vom 19. März 2002 - B 9 V 75/01 B in Juris; BSG SozR Nr. 3 zu § 119 BGB; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 102 Rdnr.7c m.N. aus der Rechtsprechung anderer Gerichtshöfe). Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne von § 579 oder § 580 ZPO liegen nicht vor; insbesondere ist nicht verständlich, wie vom Kläger gelegentlich angeführt, er habe im Sinne von § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO eine Urkunde aufgefunden, die eine günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Eine Urkunde hat der Kläger nicht angegeben oder vorgelegt.

Obwohl dem Senat nach alledem eine verbindliche Aussage zum materiellen Begehren des Klägers verwehrt ist, sei angemerkt, dass das BVerfG im Beschluss vom 11. November 2008 - 1 BvL 3/05 - BVerfGE 122, 151 mit Gesetzeskraft entschieden hat, dass nur denjenigen Versicherten, die bereits vor dem Inkrafttreten des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes am 01. Januar 1997 mindestens das 55. Lebensjahr vollendet hatten und deshalb zu den rentennahen Jahrgängen zählten, die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nach den dafür geltenden Altersgrenzen noch nach dem Rentenreformgesetz 1992 zu beziehen ermöglicht werden musste. Nur diese Versicherten hätten in ihrem Vertrauen auf den Fortbestand der früheren Regelungen geschützt werden müssen. Die Wahl des Stichtages 01. Januar 1942 sei daher sachgerecht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass, da eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung oder eine Abweichung von höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht erkennbar ist (vgl. § 160 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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