L 2 U 166/10 B

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 1/10
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 166/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zu den Voraussetzungen des § 192 Abs. 4 SGG: § 192 Abs. 4 SGG setzt im Verwaltungsverfahren unterlassene erkennbare und notwendige Ermittlungen voraus. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, d. h. des Erlasses des Widerspruchsbescheides, müssen die später vom Gericht durchgeführten Ermittlungen notwendig, d. h. entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung unverzichtbar gewesen sein. Erkennbar waren die Ermittlungen nur dann, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit, ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. - mangels einer solchen - von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste.
Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 16.09.2010 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Kosten des auf Veranlassung des Sozialgerichts Dresden (SG) von Priv.-Doz. Dr. P. eingeholten Gutachtens zu tragen hat. Im Hauptsacheverfahren stritten die Beteiligten über einen Anspruch auf Heilbehandlung wegen des Ereignisses vom 04.08.2009.

Der 1964 geborene Kläger verspürte am 04.08.2009 beim gemeinsam mit zwei Kollegen erfolgten Anheben eines ca. 100 kg schweren Lkw-Reifens im Rahmen der versicherten Tätigkeit ein einmaliges Zucken im rechten Arm mit stechendem Schmerz. Unmittelbar danach suchte er den Durchgangsarzt Dr. E. auf, der eine tastbare Lücke des rechten Oberarms sowie Schmerzen bei Supination gegen Widerstand erhob und eine Ruptur der Bizepssehne diagnostizierte. Die Frage "Sprechen Hergang und Befund gegen die Annahme eines Arbeitsunfalls?" verneinte er.

Mit Schreiben vom 10.08.2009 teilte die Beklagte dem Durchgangsarzt mit, der Kläger habe keinen unfallbedingten Gesundheitsschaden erlitten. Ein Arbeitsunfall habe daher nicht vorgelegen. Sie forderte ihn auf, die Heilbehandlung zu Lasten der Beklagten abzubrechen.

Nach Beiziehung von Auskünften der Krankenversicherung des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 06.10.2009 die Gewährung von Heilbehandlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen des Ereignisses vom 04.08.2009 ab. Das Anheben des Lkw-Reifens sei nicht geeignet, den aufgetretenen Riss der langen Bizepssehne des rechten Arms zu verursachen. Auf den Widerspruch des Klägers fertigte ein Mitarbeiter der Beklagten am 23.11.2009 folgenden Vermerk: "Dieser Hergang ist nach der gutachterlichen Literatur, z.B. Schönberger-Mehrtens-Valentin, 7. Auflage, nicht geeignet, die körpernahe Bizepssehne zu ruptieren." Die Beklagte wies auf dieser Grundlage den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 03.12.2009 zurück.

Sein Begehren hat der Kläger mit der am 04.01.2010 zum SG erhobenen Klage weiter verfolgt. Auf Veranlassung des SG hat der Chirurg Priv.-Doz. Dr. P. am 12.07.2010 ein Gutachten nach Untersuchung des Klägers gefertigt. Am 04.08.2009 habe der Kläger eine Ruptur der langen Bizepssehne rechts erlitten. Die arbeitsbedingte Verrichtung sei jedoch nicht die wesentliche Ursache für die Zerreißung gewesen. Allein wesentliche Ursache seien vielmehr die degenerativen Veränderungen an der Sehne gewesen. Daraufhin hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13.09.2010 die Klage zurückgenommen.

Das SG hat der Beklagten mit Beschluss vom 16.09.2010 die Kosten des von Priv.-Doz. Dr. P. eingeholten Gutachtens auferlegt. Nach § 192 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) könne das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht würden, dass die Beklagte erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen habe, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die Entscheidung liege im Ermessen des Gerichts, wobei stets die Umstände des Einzelfalls maßgebend seien. Die Prüfung der Umstände habe vorliegend ergeben, dass die Beklagte erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen habe. Für die Beurteilung, ob der Bizepssehnenriss durch die versicherte Tätigkeit wesentlich (mit)verursacht wurde, reiche der vor Erlass des Widerspruchsbescheides gefertigte Vermerk eines Mitarbeiters der Beklagten nicht aus. Vielmehr sei es erforderlich, eine medizinische Begutachtung zur Klärung des Zusammenhangs zwischen den durch die Operation gesicherten Befunden und dem Ereignis zu veranlassen. Dass der im gerichtlichen Verfahren gehörte medizinische Sachverständige den Riss der Bizepssehne allein wesentlich auf eine degenerative Schadensanlage zurückführe, ändere hieran nichts.

Gegen den am 17.09.2010 vom SG abgesandten Beschluss hat die Beklagte am 06.10.2010 beim SG Beschwerde eingelegt, die am 13.10.2010 beim Sächsischen Landessozialgericht eingegangen ist. Im Durchgangsarztbericht vom 04.08.2009 sei der Unfallhergang folgendermaßen beschrieben: "Beim Verladen von Reifen auf einen Lkw war ein plötzlicher Schmerz, wie ein Riss im re. Arm, Geräusch wie ein Knall". Schon aufgrund dieser Hergangsschilderung habe die Beklagte mit Schreiben vom 10.08.2009 gegenüber dem behandelnden Arzt die weitere Heilbehandlung zu ihren Lasten abgebrochen. Die Unfallschilderung enthalte bereits keine Anhaltspunkte für eine traumatische Schädigung. Selbst wenn man hier ein plötzliches, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis unterstelle, könne der Riss der langen Bizepssehne als Körperschaden nicht durch diesen Bewegungsablauf rechtlich wesentlich verursacht worden sein. Dies ergebe sich aus der herrschenden Meinung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 402 ff.). Der unfallbedingte Riss der langen Bizepssehne setze zwingend eine direkt einwirkende Kraft (Schlag, Quetschung) voraus. Eine solche sei vom Kläger nicht bestätigt worden. Dieses Fachwissen habe die Beklagte ihrer Beurteilung zugrunde zu legen. Eine Einholung eines Gutachtens sei daher nicht gerechtfertigt gewesen. Das vom SG eingeholte Gutachten habe primär der besseren Überzeugung des Klägers gedient, sich zur Rücknahme der Klage zu entschließen. Eine Verurteilung der Beklagten zur Tragung der Kosten gemäß § 192 Abs. 4 SGG sei jedoch nicht gerechtfertigt. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Vorschrift des § 192 Abs. 4 SGG durch Gesetz vom 26.03.2008 neu eingeführt worden sei. Zwischen ihr und § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bestehe ein Spannungsverhältnis.

Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen und die Verwaltungsakte der Beklagten vor.

II.

Die zulässige Beschwerde der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das SG mit Beschluss vom 16.09.2010 die Beklagte verpflichtet, die Kosten des auf Veranlassung des SG eingeholten Gutachtens von Priv.-Doz. Dr. P. zu tragen.

Nach § 192 Abs. 4 in der ab 01.04.2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 (BGBl. I S. 444) kann das Gericht durch gesonderten Beschluss der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.

Die Norm ist vorliegend anwendbar, da sich das Unfallereignis nach dem Inkrafttreten der Norm ereignet hat und folglich das Verwaltungsverfahren hiernach stattgefunden hat.

§ 192 Abs. 4 SGG setzt "im Verwaltungsverfahren" unterlassene "erkennbare und notwendige Ermittlungen" voraus. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, d. h. des Erlasses des Widerspruchsbescheides, müssen die später vom Gericht durchgeführten Ermittlungen "notwendig", d. h. entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung (§§ 20, 21 SGB X) unverzichtbar gewesen sein; dass sie bloß (möglicherweise) sinnvoll waren, reicht demgegenüber nicht aus (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.04.2010 – L 18 (8) R 199/05 -, zitiert nach Juris, Rdnr. 14). "Erkennbar" waren die Ermittlungen dabei nur dann, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. – mangels einer solchen – von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.08.2009 – L 4 KR 108/09 B -, zitiert nach Juris, Rdnrn. 6 ff.; SG Ulm, Beschluss vom 08.03.2010 – S 13 R 386/09 -, zitiert nach Juris, Rdnrn. 9 ff.; Mey, SGB 2010, S. 72; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 192, Rdnr. 18e).

Die Beklagte hat im Verwaltungsverfahren notwendige Ermittlungen unterlassen. Die Notwendigkeit hierzu war ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung für die Beklagte erkennbar.

1. Ohne Zweifel handelte es sich bei dem Ereignis vom 04.08.09 um ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis i.S.d. § 8 Abs. 2 Satz 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Äußere Einwirkungen sind nicht nur unmittelbare physikalische, sondern u. a. auch körpereigene Bewegungen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 13 m. w. N.). Die Freiwilligkeit der unfallbringenden Tätigkeit kann der Annahme eines Unfalls jedenfalls dann nicht entgegenstehen, wenn die Tätigkeit gerade Gegenstand des geschützten Risikos ist. Deshalb erleidet der einen Unfall, der in Ausübung einer betrieblichen Tätigkeit freiwillig eine schwere Last anhebt, wenn es hierdurch zu einem Muskel-, Sehnen- oder Meniskusriss oder einem Bandscheibenvorfall kommt (BSG, Urteil vom 06.12.1989 – 2 RU 7/89 -; zitiert nach Juris; Sächsisches LSG, Urteil vom 11.11.2004, - L 2 U 9/04 LW -; Erlenkämper/Fichte, Sozialrecht, 5. Auflage 2002, S. 31).

2. Zur Beurteilung der Kausalität zwischen Unfallereignis und eingetretenem Gesundheitsschaden waren für die Beklagte erkennbar weitere Ermittlungen notwendig.

a) Es kann dahinstehen, ob nach der Rechtsprechung des BSG die Beurteilung eines Kausalzusammenhangs ohne Einholung zumindest einer Stellungnahme eines medizinisch Fachkundigen erfolgen kann. Nach der Rechtsprechung des BSG ist zur Prüfung der Kausalität zwischen einem Ereignis und einer eingetretenen Gesundheitsstörung die Theorie der wesentlichen Bedingung anzuwenden. Diese schließt die Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche bzw. seelische Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R -, Rdnr. 17). Maßgeblich ist der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand (BSG, a.a.O.). Das BSG geht jedoch davon aus, dass eine bloße Literaturauswertung zur Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands in der Regel nicht genügt, weil dessen Beurteilung zumeist medizinische Fachkunde voraussetzt. Die Klärung des der Ursachenbeurteilung zugrunde zu legenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands wird im Rahmen der Befragung eines Sachverständigen erfolgen müssen, wenn der Ursache-Wirkungszusammenhang umstritten ist (BSG, a.a.O., Rdnr. 27). Das BSG hat im genannten Urteil weiter ausgeführt: "Die Klärung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands macht die Einholung von Sachverständigengutachten und die eigenständige verantwortliche Beurteilung des konkreten Einzelfalls durch einen Sachverständigen nicht entbehrlich. Dieser Erkenntnisstand ist aber die Basis für die Beurteilung des Sachverständigen, von der er nur wissenschaftlich begründet abweichen kann, und macht sein Gutachten für die Beteiligten und das Gericht transparent und nachvollziehbar."

b) Jedenfalls sind zur Beurteilung der Kausalität zwischen Unfallereignis und eingetretenem Gesundheitsschaden für die Beklagte erkennbar dann weitere Ermittlungen notwendig, wenn nach der nach höchstrichterlicher Rechtsprechung heranzuziehenden herrschenden medizinischen Fachmeinung vergleichbare Ereignisse als geeignet angesehen werden, den Gesundheitsschaden zu verursachen.

Entgegen den Ausführungen der Beklagten wird nach der einschlägigen medizinischen Fachliteratur, auf die sich auch die Beklagte stützt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S.405; ebenso: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S.497) nicht nur eine direkt einwirkende Kraft (Schlag, Quetschung) als geeignet angesehen, die lange Bizepssehne zu zerreißen. Vielmehr werden auch vielfältige indirekte Unfallmechanismen, z. B. das Heben eines Torflügels von unten und oben, wobei beide Hände max. voneinander entfernt und die Bizepssehnenmuskulatur maximal angespannt ist, als geeignet für den Riss der Bizepssehne angesehen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 405; ebenso: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S.497; vgl. auch BSG, Urteil vom 06.12.1989 – 2 RU 7/89 -, zitiert nach Juris).

Die Fachliteratur beinhaltete die genannten Erkenntnisse auch bereits zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Bescheide (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, 2003, S.497).

Der vom Kläger beschriebene Unfallhergang ist mit dem oben beschriebenen geeigneten Unfallmechanismus vergleichbar.

c) Die im Verwaltungsverfahren unterlassenen Ermittlungen mussten im sozialgerichtlichen Verfahren nachgeholt werden.

d) Anhaltspunkte für Ermessensfehler sind von der Beklagten nicht vorgetragen worden. Sie estehen nicht.

Nach alledem war die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des SG zurückzuweisen.

Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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