L 20 AY 161/10 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 24 AY 150/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AY 161/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen (SG) vom 04.11.2010 geändert. Den Klägern wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt H aus F beigeordnet.

Gründe:

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Kläger vom 29.11.2010 gegen den Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des SG vom 04.11.2010 ist begründet.

Der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs und Leistungeklage der Kläger vom 21.04.2010 gegen den Bescheid der Beklagten vom 18.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2010 kann hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne der §§ 73a Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. 114 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zur Überzeugung des Senats nicht abgesprochen werden.

Dabei dürften jedoch - entgegen der vom Bevollmächtigten mit der Beschwerdebegründung vertretenen Auffassung lediglich (höhere) Leistungen im Zeitraum 01.01.2005 bis zum 31.08.2008 streitig sein. Der Bescheid vom 18.12.2009 entscheidet einen sog. Zugunstenantrag der Kläger für den genannten Zeitraum. Die mit Widerspruch angefochtenen Bewilligungsbescheide für nachfolgende Leistungszeiträume dürften nicht gemäß §§ 86, 96 SGG Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens sein. Der 8. Senat des Bundessozialgericht (BSG) geht zwar davon aus, dass Folgezeiträume gemäß § 86 SGG Gegenstand eines anhängigen Widerspruchsverfahrens werden können. Jedoch dürfte dies allein die Konstellation einer Anfechtungs- und Leistungsklage betreffen.

Unabhängig davon aber wirft die begehrte Entscheidung in der Hauptsache eine schwierige, bislang höchstrichterlich nicht geklärten Rechtsfrage auf, so dass den Klägern - wie beantragt - Prozesskostenhilfe zu gewähren ist (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NJW 1997, 2102; NJW 2004, 1789; BSG SozR 4-1500 § 62 Nr. 9). Der Senat hält die Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für evident verfassungswidrig (vgl. [Aussetzungs- und Vorlage-] Beschlüsse des Senats vom 26.07.2010 - L 20 AY 13/09 und vom 22.11.2010 - L 20 AY 1/09; vgl. auch Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.04.2010 - L 7 AY 3482/09 B).

Die in diesem Zusammenhang vom Senat eingehend dargelegten Bedenken an der Verfassungsgemäßheit der Leistungen gemäß § 3 AsylbLG sind auch für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des "im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar Gebotenen" im Sinne von § 1a AsylbLG anzuführen, wenn nach dieser Vorschrift nach einhelliger Verwaltungspraxis eine im Vergleich zu § 3 AsylbLG weitergehende Leistungsbeschrämkung erfolgt.

Die Überlegungen des SG, der Gesetzgeber könne dann, wenn das BVerfG die "Rechtswidrigkeit" der §§ 1a, 3 AsylbLG feststelle, beauftragt werden, eine verfassungsgemäße Vorschrift zu erlassen, was aber nicht dazu führe, dass die Gerichte ermächtigt würden, eigenmächtig höhere Leistungsbeiträge für die Vergangenheit festzusetzen, lässt nicht erkennen, ob das SG die Überlegungen des Senats zur Verfassungsgemäßheit der Leistungen nach §§ 1 a, 3 AsylbLG teilt, mit der Folge dass es seinerseits eine Aussetzung des Rechtsstreits und eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Grundgesetz zu überdenken hätte. Angesichts der Rechtsprechung des erkennenden Senats und der im Hauptsacheverfahren darob anzustellenden Überlegungen wirft das Verfahren in der Hauptsache unabhängig davon, ob das BVerfG dem Gesetzgeber eine Frist zur Beseitungung eines ggf. erkannten verfassungswidrigen Zustandes setzt, grundsätzlich klärungsbedürftige Fragen auf.

Im Übrigen erscheint es - was angesichts der vorstehenden Überlegungen letztlich dahinstehen kann - keineswegs zwingend, dass die Leistungsnormen des AsylbLG durch das BVerfG - so dieses die Verfassungswidrigkeit feststellt - bis zum Erlass einer Neuregelung für anwendbar erklärt werden. Im die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) betreffenden Urteil vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09) hat das BVerfG zwar ausgeführt:

"Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, die Leistungen rückwirkend für die Zeit ab Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch am 1. Januar 2005 neu festzusetzen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtszustand nicht rückwirkend beseitigen, wenn dies einer geordneten Finanz- und Haushaltsplanung zuwiderläuft oder die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt war und dem Gesetzgeber aus diesem Grund eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist (vgl. BVerfGE 120, 125 (168) m.w.N.). Diese Grundsätze gelten auch für die im Streit stehenden Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Nach welchen verfassungsrechtlichen Maßstäben im Einzelnen sich die Bemessung solcher Leistungen richtet, war in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang nicht geklärt. Die rückwirkende Neufestsetzung etwaiger höherer Leistungen für den gesamten Zeitraum ab dem 1. Januar 2005 hätte zudem wegen der Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X unvertretbare fiskalische Wirkungen. Von einer Rückwirkung der Neuregelung kann der Gesetzgeber absehen, weil im Hinblick auf die beanstandeten Vorschriften eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht feststellbar ist, sondern diesen allein ein nicht realitätsgerechtes Verfahren der Ermittlung des Existenzminimums zugrunde liegt."

Wie bereits dargelegt, hält der Senat jedoch die Leistungen nach § 3 AsylbLG für bereits evident unzureichend.

Der Senat weist abschließend vorsorglich darauf hin, dass die Klage beim SG bereits vor Bekanntwerden des Beschlusses des Senats vom 26.07.2010 anhängig war, den Beteiligten mithin die Möglichkeit, sich dem Ausgang des beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahrens zu unterwerfen bzw. ein Vorverfahren ruhend zu stellen, von vornherein nicht gegeben war. Das Klageverfahren erweist sich daher hier auch nicht als mutwillig.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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