L 6 U 55/07

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 4 U 53/06
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 55/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 28. März 2007 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob bei der Klägerin eine Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2402 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (Erkrankungen durch ionisierende Strahlen – BK 2402) anzuerkennen ist und ihr deshalb Leistungen zu gewähren sind.

Die 1949 geborene Klägerin arbeitete nach ihrer Berufsausbildung zur Medizinisch Technischen Assistentin (MTA) von September 1967 bis August 1969 in einem Röntgeninstitut in D. in ihrem Beruf, war – nach entsprechender Erwachsenenqualifizierung 1972 – von November 1969 bis Dezember 1974 als Röntgenassistentin im ehemaligen VEB Chemische Werke B in S tätig, arbeitete von Januar 1975 bis Januar 1986 in der Klinik für Radiologie der Universität H.-W und war von September 1987 bis März 2004 als Röntgenassistentin im Städtischen Klinikum D. beschäftigt. Nachdem die Klägerin vom 8. April 2004 an arbeitsunfähig erkrankt war, wurde bei ihr am 7. Mai 2004 ein niedrig malignes Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) diagnostiziert.

Am 27. Juli 2004 wandte sich die Klägerin an die Beklagte und machte einen beruflichen Zusammenhang des NHL geltend.

Nach den Auskünften der Landesanstalt für Personendosimetrie und Strahlenschutzausbildung Mecklenburg-Vorpommern vom 31. August und 22. November 2004 war die Klägerin im Zeitraum 1967 bis 1986 mit einer Dosis von 2,0 Millisievert (mSv) gegenüber Photonenstrahlung exponiert. Bei Elektronen- und Neutronenstrahlung lagen die Messergebnisse bei 0,0 mSv. Von April 1992 bis Juli 2004 fand sich ebenfalls keine registrierte Strahlendosis (0,0 mSv). Mit Schreiben vom 22. September 2004 teilte der Präventionsdienst der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege der Beklagten mit, dass die Klägerin im Zeitraum von 1967 bis 1969 zu etwa 80 % des Arbeitsumfangs in der Therapie und zu 20 % in der Diagnostik tätig gewesen sei. Zur Therapie sei ein 60 KV Halbtiefengerät und zum Röntgen ein TUR 250 eingesetzt worden. Der bautechnische Strahlenschutz sei vom Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz abgenommen und zum Betrieb freigegeben worden. Der personenbezogene Strahlenschutz habe sich vom derzeitigen Stand nicht wesentlich unterschieden. Die monatlichen Auswertungen der Personendosimeter seien bei der Klägerin ohne Befund gewesen. Die Strahlenschutzkleidung sei regelmäßig getragen und auf Sicherheit überprüft worden. Auch das strahlenschutzgerechte Verhalten beim Umgang mit ionisierender Strahlung sei nach den Angaben des damaligen Arbeitgebers an der Tagesordnung gewesen.

Unter dem 7. Oktober 2004 führte die Präventionsabteilung der Beklagten zur Beschäftigungszeit der Klägerin in der Betriebspoliklinik B (November 1969 bis Dezember 1974) aus: Mit einem transportablen Röntgengerät, das zu den modernsten der in der DDR verwendeten Geräte gehört habe, regelmäßig überprüft worden und nach fünf bis sieben Jahren erneuert worden sei, seien Aufnahmen an den Betten gemacht worden. Weiterhin habe die Klägerin jeden Tag Zähne geröntgt. Da immer nur ein Zahn habe erfasst werden können, seien manchmal zehn bis zwölf Aufnahmen pro Patient angefallen. Der Abstand zum Gerät sei hier besonders gering gewesen, so dass die Klägerin sicherlich eine Streustrahlung abbekommen habe. Ein Dosimeter habe die Klägerin immer unter der Bleischürze getragen. Die Hände, der Hals und der Kopf seien ungeschützt gewesen. Außerdem habe die Klägerin auch bei Kontrasteinläufen assistiert und sei mit Durchleuchtungen in der Röntgenabteilung befasst gewesen. Während der Zeit ihrer Tätigkeit in der Klinik für Radiologie der Universität H.-W (Januar 1975 bis Januar 1986) seien vor allem Mägen, Knochen und Lungen geröntgt worden. Zum Erstellen der Aufnahmen habe sich die Klägerin jedoch in einem anderen Raum befunden. Pro Tag etwa einmal seien bei gebrechlichen Patienten oder Kindern auch Halteaufnahmen anzufertigen gewesen. Während ihrer Beschäftigung im Städtischen Klinikum D. (September 1987 bis März 2004) habe die Klägerin bis Mai 1990 zunächst im Ultraschallbereich gearbeitet und sei dann in die Röntgendiagnostik gewechselt. Dort seien Angiographien, Assistenzen beim Anlegen des Kontrastmittel-Katheters sowie Aufnahmen am Bett während Operationen angefallen. Ab Juli 1995 habe die Klägerin die Leitung der Strahlentherapie übernommen. Manchmal sei dort auch eine kleine Diagnostik durchgeführt worden, seien Lungen-, Becken- und Knochenaufnahmen zu machen und sei die Klägerin mit einem fahrbaren Gerät bei Operationen zugegen gewesen. Zu ihren Aufgaben habe insbesondere die mittels Bildverstärker durchgeführte Kontrolle des richtigen Sitzes von in den Körper (z.B. Lunge) eingeführten Sonden gehört. Bei den Oberflächenbestrahlungen sei die Klägerin von einer am Gerät befindlichen Kanzel abgeschirmt gewesen. Nach Einführung der Hochvollthermie im Jahre 2001 sei insoweit kein Kontakt mit Strahlung aufgetreten.

In seiner gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 30. November 2004 vertrat Dr. S. die Ansicht, die Voraussetzungen einer BK 2402 seien nicht erfüllt, da keine Hinweise auf eine berufliche Verursachung des NHL ersichtlich seien. Allerdings sei die Ätiologie einer solchen Erkrankung weitgehend unklar. Diskutiert würden u.a. Störungen des Immunsystems, virale oder bakterielle Infektionen, genetische Prädispositionen sowie chemische Noxen. Auch ionisierende Strahlung stehe unter dem Verdacht, die Auslösung eines NHL zu begünstigen. Diese Aussage beruhe auf der Beobachtung von Patienten in der Strahlentherapie. Hierbei handele es sich im Vergleich zu Personen, die beruflich unter Beachtung der Strahlenschutzanforderungen strahlenexponiert seien, allerdings um weitaus höhere Dosen.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2005 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung des NHL als BK 2402 sowie die Erbringung von Leistungen ab.

Hiergegen erhob die Klägerin am 1. Februar 2005 Widerspruch und legte zur Begründung neben weiterführender Literatur insbesondere die in ihrem Auftrag erstellte gutachtliche Stellungnahme der Naturwissenschaftlerin (Mathematik und Physik) Prof. Dr. S. vom 20. März 2005 vor. Diese führte aus, dass der Ganzkörperdosisgrenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen bis 1990 bei 50 mSv pro Jahr (danach bei 20 mSv) gelegen habe. Dies bedeute aber nicht, dass unterhalb dieses Wertes keine Schäden aufträten. Denn eine bestimmte unschädliche Schwellendosis könne nicht angenommen werden (so genannter stochastischer Effekt). Allein für die Zeit von 1987 bis 1990, in der Angaben zur Dosisüberwachung fehlten, könne die Klägerin also 150 mSv Lymphozytendosis (3 x 50 mSv) erhalten haben. Gerade diejenigen Arbeitsplätze der diagnostischen Radiologie wiesen die höchsten Strahlenbelastungen auf, bei denen der Arzt oder die Assistentin sich neben dem Patienten aufhalten, um einen Kontrasteinlauf vorzunehmen oder den Patienten zu fixieren. Von 1967 bis 1986 sei vorliegend eine abgeschirmte Personendosis von 2 mSv registriert, was einer Außendosis von 200 mSv entspreche. Nicht abgedeckt seien jedoch der Kopf-Hals-Bereich sowie die Achselhöhlen gewesen, wo sich Ansammlungen vieler Lymphozyten befänden. Auch sei zu beachten, dass Dosimeter eine Ansprechschwelle hätten, die bei etwa 0,1 mSv liege. Dies bedeute, dass die Klägerin während der überwachten Zeit ihrer Tätigkeit bis zu etwa 10 mSv monatlich im Hals-Kopf-Bereich erhalten haben könne. Werde davon ausgegangen, dass sie von 1967 bis 1989 im Mittel 13 Stunden im Jahr, was 1,1 Stunden im Monat bzw. 3 Minuten am Tag entspreche, einer Dosis von 280 mSv im Kopf-Hals-Bereich ausgesetzt gewesen sei, bedeute dies im Ergebnis eine mittlere Lymphozytendosis von 70 mSv. Wenngleich keine ideale Referenzgruppe für die Klägerin existiere, sei es insgesamt überwiegend wahrscheinlich, dass diese abgeschätzte Verdopplungsdosis von 70 mSv, also die Dosis, die das NHL mit einer Wahrscheinlichkeit erzeuge, welche dem Spontanrisiko entspreche, überschritten worden und die Erkrankung damit berufsbedingt sei.

Abschließend ermittelte die Präventionsabteilung der Beklagten unter dem 28. Juli 2005 für das Berufsleben der Klägerin im Sinne einer worstcase-Berechnung eine Gesamtbelastungsdosis von 110,8 mSv.

Nachfolgend holte die Beklagte von dem Umweltmediziner Prof. Dr. F. nach Aktenlage das Gutachten vom 8. Februar 2006 ein. Dieser gelangte zum Ergebnis, den beruflichen Einwirkungen komme bezogen auf das Auftreten des NHL im vergleichsweise jungen Alter von 55 Jahren sowie angesichts fehlender außerberuflicher Risikofaktoren wesentliche Bedeutung zu. Zudem gälten mehrere Schwangerschaften bzw. Geburten als Schutzfaktor, so dass bei der Klägerin, die zwei Kinder habe, eigentlich ein vermindertes Risiko vorliege. Die Bedeutung der Strahlendosis sei zweitrangig. Maßgeblich sei die kanzerogen wirkende Qualität der Strahlung. Allerdings hänge die Auslösung eines NHL durch ionisierende Strahlung beim Fehlen anderer Risikofaktoren auch von der Gesamtdosis ab. Wegen der besonderen Infektionsanfälligkeit der Klägerin sei von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 vom Hundert auszugehen.

Nachdem die Beklagte am 16. Februar 2006 telefonisch mit dem Strahlenbiologen Prof. Dr. S. Rücksprache gehalten hatte, wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 2006 als unbegründet zurück, da die beruflichen Einwirkungen das NHL nicht rechtlich wesentlich verursacht hätten. Die Klägerin sei während ihrer beruflichen Tätigkeit keiner über das normale Maß einer Röntgenassistentin erhöhten Strahlendosis ausgesetzt gewesen. Epidemiologische Studien zur Verursachung von Krebserkrankungen durch ionisierende Strahlen seien bisher zu den Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, zu Personen nach hohen beruflich bedingten Strahlenexpositionen (britische Nukleararbeiter, amerikanische Radiologen), zu Patienten nach hohen medizinisch bedingten Strahlenexpositionen (Strahlentherapie bei Morbus Bechterew, Magengeschwür bzw. Zervicalkarzinom) sowie zu den Beschäftigten der W durchgeführt worden. Danach werde bei Erkrankungen des Knochenmarks von einer Verdopplungsdosis von 200 mSv ausgegangen. Im Bereich zwischen 10 bis 100 mSv sei das Erkrankungsrisiko dagegen so gering, dass es sich aus den Schwankungen der spontanen Krebsrate nicht heraushebe. Zielorgan für die Verursachung eines NHL sei allerdings das lymphatische System, so dass die Verdopplungsdosis hier deutlich höher anzusiedeln sei. Demnach sei bei der Klägerin mit einer maximalen Personendosis von 111 mSv keine Verursachungswahrscheinlichkeit von mindestens 50 % gegeben, entspreche die Wahrscheinlichkeit einer strahlenbedingten Verursachung also nicht mindestens dem Spontanrisiko.

Am 30. Mai 2006 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Dessau Klage erhoben und ihr Begehren weiter verfolgt.

Mit Urteil vom 28. März 2007 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2006 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, bei der Klägerin ein niedrig malignes NHL als BK 2402 festzustellen und ihr insoweit Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen. Zur Begründung hat es sich auf die Einschätzungen von Prof. Dr. S. und Prof. Dr. F. gestützt, die überzeugten. Nach diesen existierten für das niedrig maligne NHL keine ausreichenden epidemiologischen Daten zur Dosis-Wirkungs-Beziehung, so dass auch keine ansonsten als geeigneter Maßstab zur Quantifizierung der Wahrscheinlichkeit in Betracht kommende Verdopplungsdosis herangezogen werden könne. Den insoweit gleichwohl von Prof. Dr. S. bei 70 mSv angesetzten Wert habe die Klägerin überschritten. Worauf die von der Beklagten bei 200 mSv verortete Verdopplungsdosis beruhe, sei nicht nachvollziehbar.

Gegen das ihr am 23. April 2007 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10. Mai 2007 unter Wiederholung ihrer Ausführungen Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau vom 28. März 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die Entscheidung des SG und sieht sich durch das auf ihren Antrag im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten bestätigt.

Der Senat hat den Strahlenbiologen Prof. Dr. M. (Universitätsklinikum E) nach Aktenlage mit der Erstellung des Gutachtens vom 15. Dezember 2008 nebst ergänzender Stellungnahme vom 19. Dezember 2009 beauftragt. Prof. Dr. M. hat dargelegt, wissenschaftlich sei sehr umstritten, ob ein NHL überhaupt durch ionisierende Strahlung ausgelöst werde, was für Frauen noch mehr als für Männer gelte. So habe z.B. eine auf den Beobachtungszeitraum der Jahre 1960 bis 1997 bezogene Studie, bei der die Daten von mehr als 44.000 Mitgliedern des Kabinenpersonals von Fluglinien in acht europäischen Ländern eingeflossen seien, keine Erhöhung von NHLen für Frauen erbracht. Auch die im Strahlenschutz vertretene Annahme eines stochastischen Effekts (kein unschädlicher Schwellenwert) sei etwa angesichts der natürlichen Hintergrundstrahlung von ca. 1 mSv pro Jahr (mit Radon und Radontöchtern 2,4 mSv) sowie routinemäßiger Röntgendiagnostik in der strahlenbiologischen Wissenschaft außerordentlich zweifelhaft. Als Verursacher für NHLe würden in erster Linie Virusinfektionen genannt. Im Verdacht stünden auch Schwermetalle, einige organische Lösungsmittel, Herbizide, Insektizide und Fungizide. Sofern von einer Verursachung auch durch ionisierende Strahlung ausgegangen werde, seien auf jeden Fall hohe Dosen nötig. Vorliegend bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin im Verlauf ihres Berufslebens einer entsprechend hohen Dosis ausgesetzt gewesen sei. Unter Berücksichtigung der von Beklagten vorgenommenen Berechnung ergebe sich ein auf 118 mSv korrigierter Wert, da die Klägerin im Universitätsklinikum sowie im Städtischen Klinikum D. insgesamt gut zwei Jahre länger als von der Beklagten angenommen tätig gewesen sei. Eine solche Dosis sei auch durchaus realistisch, wie die bei amerikanischen Radiologieassistenten in den Jahren 1960 bis 1976 und 1977 bis 1984 erhobenen Mittelwerte von 3,6 bzw. 2,3 mSv zeigten (33 Jahre Exposition der Klägerin x 3,6 = 118,8 mSv). Werde das vom National Institute for Occupational Safety and Health der USA (NIOSH) zur Abschätzung der beruflich bedingten Verursachungswahrscheinlichkeit verschiedener Krebsformen im Bereich militärischer Atomtechnik entwickelte System herangezogen, ergäbe sich bei Verwendung der ermittelten 118 mSv ein Wert von 1,3 %. Diese niedrige Zahl sei vor dem sehr fraglichen Hintergrund der Auslösung eines NHL durch ionisierende Strahlung gerade bei Frauen nicht überraschend. Um nach dem NIOSH-Programm eine 50 %ige Verursachungswahrscheinlichkeit zu erreichen, sei bei der Klägerin während der Expositionszeit von 33 Jahre eine Ganzkörperdosis von 10 Sv nötig.

Schließlich hat der Senat auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Epidemiologen Prof. Dr. H. nach Aktenlage das Gutachten vom 30. September 2009 nebst ergänzender Stellungnahme vom 31. Oktober 2010 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, aufgrund der geringen Zahl valider und aussagekräftiger strahlenepidemiologischer Studien zum NHL sowie erheblicher methodischer Probleme (z.B. Systematik und Klassifikation der NHL, keine vollständige Erfassung niedrig maligner NHLe, konkurrierende Todesursachen, veraltete Tabellenwerke sowie international unterschiedlicher Bewertungskriterien der Kausalität) sei zwar keine definitive Klärung möglich. Insgesamt spreche aber deutlich mehr für als gegen eine berufsbedingte Entstehung des NHL bei der Klägerin, wobei nicht auf die Mortalität (Sterblichkeit), sondern das Risiko des Auftretens eines NHL (Inzidenz) abzustellen sei. Um die Verursachungswahrscheinlichkeit des Auftretens eines NHL bei der Klägerin abschätzen zu können, müsse einerseits das Spontanrisiko ermittelt werden. Dessen Bestimmung sei allerdings schwierig bzw. überhaupt nicht valide möglich. Würden hierzu die in den Jahren 1984 bis 1993 in der Region Elbmarsch gewonnenen Studienergebnisse übernommen, ergebe sich bezogen auf das Erstdiagnosealter der Klägerin ein Spontanrisiko von 13,06 pro 100.000 Personen. Dieser Bezugsgröße sei die berufsbedingte Gesamtdosis gegenüber zu stellen. Würden zur Ermittlung der als Zwischengröße benötigten Personendosis für den Zeitraum der beruflichen Exposition anstatt den gemessenen 0,0 mSv Ersatzdosen von 0,4 bzw. 0,2 mSv angesetzt, resultiere ein Wert von 59,0 mSv. Aus dieser Personendosis sei dann eine Ortsdosis abzuschätzen, da die Klägerin das Dosimeter unter einer Bleischürze getragen habe. Die Ortsdosis liege unter Beachtung der einschlägigen Umrechnungsgrößen bei 3.037,32 mSv. Auf Grundlage dieses Wertes sei in einem nächsten Schritt als Hilfsgröße die Dosis des roten Knochenmarks zu bestimmen, die insgesamt 18 % ausmache. Zur Ermittlung der Körperdosis aus der Ortsdosis seien von der Strahlenschutzkommission Umrechnungsfaktoren publiziert worden, wobei die Dosis für das rote Knochenmark getrennt für den geschützten und ungeschützten Körperbereich zu berechnen sei. Für den geschützten Bereich liege die Körperdosis beim Strahlungseinfall von vorn bei 4,51 mSv und von hinten bei 19,16 mSv. Entsprechend ergebe sich für den ungeschützten Kopf-Hals-Bereich eine Körperdosis von 141,47 mSv. Auf dieser Grundlage sei nunmehr die Dosis des lymphatischen Systems zu ermitteln, die unter Beachtung der angenommenen Körperdosiswerte im geschützten Bereich bei 15,2 mSv (vorn) bzw. bei 65,0 mSv (Strahlungseinfall von hinten) und im ungeschützten Bereich bei 241,6 mSv liege. Hinzuzurechnen sei schließlich noch die Dosis des lymphatischen Gewebes durch diagnostische Röntgenuntersuchungen, die bezogen auf den Zeitraum von 1966 bis 1995 zusammen 26,5 mSv ausmache. Insgesamt betrage die berufsbedingte Gesamtdosis somit gerundet 348 mSv (15,2 mSv + 65,0 mSv + 241,6 mSv + 26,5 mSv). Die so ermittelten Werte seien nunmehr in das NIOSH-Modell einzugeben, das die Verursachungswahrscheinlichkeit in Perzentilen darstelle. Der 50 %-Perzentil-Wert bilde die Wahrscheinlichkeit ab, die bei 50 % der Programmdurchläufe unter- und bei den anderen 50 % überschritten werde. Beim 99-Perzentil-Wert, der in Amerika maßgeblich sei, resultiere für die Klägerin eine Verursachungswahrscheinlichkeit von 90,54 bzw. 86,20 %. Werde die in Deutschland übliche 50 %-Perzentil-Größe herangezogen, lägen die Werte bei 35,86 bzw. 30,59 %. Die von Prof. Dr. M. im Bereich von 10 Sv Ganzkörperdosis veranschlagte Verdopplungsdosis stehe im deutlichen Widerspruch zu den von ihm selbst zitierten Originalpublikationen, aus denen ein Wert im Bereich von etwa 500 mSv ableitbar sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 143 SGG statthafte, form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) sowie auch ansonsten zulässige Berufung ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2006 beschwert die Klägerin nicht im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil sie keinen Anspruch auf Feststellung des bei ihr diagnostizierten NHL als BK 2402 hat. Darauf gestützte Leistungsansprüche scheiden damit aus.

Anzuwenden sind vorliegend die Vorschriften des Siebten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII). Denn der von der Klägerin geltend gemachte Versicherungsfall (BK), zu dem insbesondere auch die (erst) im Mai 2004 gesicherte Erkrankung gehört, könnte nur nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten sein (vgl. Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I, 1254 ff., §§ 212 ff. SGB VII).

Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind BKen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung (BKV) mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Die näheren Einzelheiten zum Erlass der BKV regelt § 9 Abs. 1 Sätze 2 und 3 sowie Abs. 6 SGB VII. Erfasst vom Tatbestand der BK 2402 werden Erkrankungen durch ionisierende Stahlen. Voraussetzung zur Anerkennung einer Erkrankung als BK 2402 ist damit, dass der Versicherte aufgrund seiner versicherten Tätigkeit Einwirkungen ionisierender Stahlen ausgesetzt gewesen sein muss, die bei ihm eine Erkrankung verursacht haben.

Ausgehend hiervon war die Klägerin während ihrer beruflichen Tätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Beschäftigte versichert bzw. stehen dem ihre in der DDR zurückgelegten Beschäftigungszeiten gleich, was zwischen den Beteiligten nicht strittig ist. In ihrem Beruf als MTA bzw. Röntgenassistentin war die Klägerin auch beruflichen Einwirkungen ionisierender Stahlen ausgesetzt, was von der Beklagten ebenfalls nicht in Zweifel gezogen wird. Diese berufliche Exposition ist nach dem insoweit einschlägigen Beweismaßstab jedoch nicht als wesentliche (Mit)-Ursache des NHL hinreichend wahrscheinlich zu machen.

Hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt dagegen nicht (vgl. hierzu näher Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 15; Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 17).

Danach ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der berufsbedingten Einwirkung ionisierender Strahlen und dem NHL zwar möglich. Hierfür lässt sich entsprechend den Darlegungen von Prof. Dr. F. etwa das wohl relativ junge Erkrankungsalter der Klägerin sowie der fehlende (volle) Nachweis konkurrierender Krankheitsursachen anführen. Ernste Zweifel an der geltend gemachten Ursachenbeziehung werden jedoch schon dadurch hervorgerufen, dass nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bereits umstritten ist, ob niedrig maligne NHLe – gerade bei Frauen – überhaupt durch ionisierende Strahlung ausgelöst werden können. Das hat unter Bezugnahme u.a. auf Studien einer Expertengruppe der Vereinten Nationen (UNSCEAR) oder des Deutschen Krebsforschungszentrums im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit aus den Jahren 2006 insbesondere Prof. Dr. M. deutlich gemacht. Auch Prof. Dr. S. und Prof. Dr. F. haben eingeräumt, dass vorliegend keine ideale Referenzgruppe existiert. Prof. Dr. H. hat neben der geringen Zahl valider und aussagekräftiger strahlenepidemiologischer Daten zum NHL überdies erhebliche methodische Probleme hervorgehoben und eine definitive Klärung sogar als unmöglich bezeichnet. Als Ursachen für die Entstehung von NHLen haben Dr. S. und Prof. Dr. M. in erster Linie Störungen des Immunsystems, Virusinfektionen, genetische Prädispositionen sowie chemische Noxen wie bestimmte organische Lösungsmittel, Herbizide, Insektizide und Fungizide sowie Schwermetalle angeführt. Schon danach ist ein Zusammenhang zwischen der beruflichen Belastung der Klägerin und ihrer Erkrankung nicht wahrscheinlich.

Selbst wenn aber davon ausgegangen wird, dass ionisierende Strahlung ihrer Art nach in der Lage ist, NHLe zu verursachen, verbleiben beim Senat auch angesichts des vorliegenden Umfangs der versicherten Einwirkung gewichtige Zweifel an einem solchen Zusammenhang.

Keiner der im Verfahren gutachtlich gehörten Sachverständigen hat aus dem Fehlen einer ausreichenden Datenbasis zur Dosis-Wirkungs-Beziehung – wie das SG – die Konsequenz gezogen, dass als Maßstab zur Quantifizierung der Wahrscheinlichkeit einer beruflichen Verursachung damit die Abschätzung einer Verdopplungsdosis entbehrlich ist. Vielmehr haben dies alle als unverzichtbar erachtet. Wird dies zugrunde gelegt und die bei der Klägerin als Maximalwert errechnete Gesamtbelastungsdosis herangezogen, lässt sich auch daraus keine berufsbedingte Krankheitsentstehung hinreichend wahrscheinlich machen.

So ist Prof. Dr. S. von einer Verdopplungsdosis von 70 mSv ausgegangen. Auch Prof. Dr. F. hat die maßgebliche Bedeutung der berufsbedingten Gesamtdosis ausdrücklich hervorgehoben. Diese hat die Beklagte mit 110,8 mSv bestimmt, was Prof. Dr. M. nachvollziehbar auf eine Dosis von 118 mSv korrigiert hat. Unter Beachtung dieser Größe hat er ungeachtet des aus strahlenbiologischer Sicht bezweifelten stochastischen Effekts auf Grundlage des NIOSH-Programms, das auch Prof. Dr. H. herangezogen hat, eine Verursachungswahrscheinlichkeit von 1,3 % ermittelt. Eine Verdopplungsdosis mit 50 %iger Verursachungswahrscheinlichkeit wäre insoweit erst bei einer Gesamtexposition von 10 Sv erreicht. Der Einwirkung von 118 mSv ist Prof. Dr. H. jedoch mit beachtlichen Argumenten entgegen getreten und hat stattdessen eine berufliche Gesamtdosis von 348 mSv ermittelt, wobei keine Vernachlässigung erheblicher Einwirkungsumstände zu Lasten der Klägerin ersichtlich ist. Ein solcher Wert erscheint insbesondere vor dem Hintergrund des unter der Bleischürze getragenen und erst ab einer Ansprechschwelle registrierenden Dosimeters, der ungeschützten Körperregionen sowie des in den Bereichen Therapie und Diagnostik unterschiedlichen Einwirkungsumfangs durchaus möglich. Wird demnach bei der Klägerin eine Einwirkung von 348 mSv als vollbeweislich gesichert unterstellt (vgl. zu den inhaltlichen Anforderungen dieses insoweit einschlägigen Beweismaßstabs BSG; Urteil vom 20. Januar 1987 – 2 RU 27/86 – SozR § 548 Nr. 84; Urteil vom 27. Juni 2006 – B 2 U 5/05 RSozR 4-5671 § 6 Nr. 2), resultiert laut der Berechnung Prof. Dr. H.s bei Ansatz des 99 %-Perzentil-Werts eine Verursachungswahrscheinlichkeit zwischen 86,20 und 90,54 %. Dass gerade dieser Prozentrang, der praktisch eine Unterschätzung jedweden Risikoaspekts verhindert, am besten zur Ableitung der Verursachungswahrscheinlichkeit geeignet ist, ist aber wissenschaftlich nicht gesichert. Zudem bleibt rechtlich ein Ausschluss einer Unterschätzung von Risiken weit hinter der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit zurück. Prof. Dr. M. hat darauf hingewiesen, dass stattdessen in Deutschland das auch als Median (Mittel- bzw. Zentralwert) bezeichnete 50 %-Perzentil als maßgeblich betrachtet wird, wofür etwa dessen Robustheit gegenüber Ausreißern spricht. Dem hat Prof. Dr. H. nicht widersprochen, die international verschiedenen Kausalitätskriterien bestätigt und insoweit nach dem NIOSH-Modell eine Verdopplungsdosis von 600 mSv festgestellt, was einer Verursachungswahrscheinlichkeit von 31 bis 36 % für die Klägerin entspricht. Demnach liegt auch bei Annahme einer beruflichen Gesamtbelastung von 348 mSv die Wahrscheinlichkeit einer strahlenbedingten Verursachung des NHL nicht mindestens beim Spontanrisiko, kommt zu diesem also kein zumindest gleichgewichtiges berufliches Risiko hinzu. Entsprechendes wird aber letztlich von allen Gutachtern als Voraussetzung für die Anerkennung der Erkrankung als BK 2402 gefordert.

Verbleiben danach ernste Zweifel an der Verursachung des bei der Klägerin bestehenden NHL durch die beruflichen Einwirkungen, war der Berufung stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved