L 3 AS 3138/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 5203/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 3138/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin wird als unzulässig verworfen. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. Mai 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2010 streitig.

Die 1967 geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Bosnien-Herzegowina. Von 1997 bis 2001 absolvierte sie ein vierjähriges Studium an der Philosophischen Fakultät in Banja Luca und schloss es mit der Berufsbezeichnung "Professorin der deutschen Sprache und Literatur an Sekundarschulen" ab. Berufstätig war sie zuletzt bis August 2008 als Deutschlehrerin an der Ökonomischen Mittelschule in Banja Luca. Sie wanderte sodann nach Deutschland ein, wo sie am 10.10.2008 eine befristete Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit erhielt. Seit dem 12.10.2008 lebt sie nach eigenen Angaben von ihrem Ehemann getrennt.

Erstmals mit Bescheid vom 24.10.2008 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), und zwar vom 14.10.2008 bis zum 31.03.2009 jeweils - nur - die Regelleistung. Leistungen für Unterkunft und Heizung wurden zunächst nicht bewilligt, nachdem die Klägerin keine Aufwendungen hierfür hatte. Änderungsbescheide betreffend einen schwangerschaftsbedingten Mehrbedarf ab dem 09.12.2008 ergingen am 06.11.2008 und am 28.11.2008. Nachdem die Klägerin ab dem 01.01.2009 eine Wohnung für EUR 220,00 nettokalt und EUR 105,00 Betriebskostenvorauszahlung, zusammen mithin EUR 315,00, angemietet hatte, bewilligte die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 30.12.2008 für Januar bis März 2009 jeweils EUR 659,37, also weitere EUR 308,37. Ein Änderungsbescheid hierzu mit gleichbleibender Bewilligungshöhe erging am 30.01.2009. Außerdem bewilligte die Beklagte mit zwei Bescheiden vom 12.01.2009 für eine Erstausstattung der Wohnung EUR 1.145,00 und für die Renovierung weitere EUR 71,60. Am 09.01.2009 vermerkte die Beklagte anlässlich eines Hausbesuchs vom selben Tag, die Klägerin sei "erkennbar psychisch erkrankt". Sie habe angegeben, "heute einen Termin bei einem Facharzt für psychosomatische Erkrankungen" wahrzunehmen. Mit Bescheid vom 26.02.2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin für April bis September 2009 jeweils 659,36 EUR; die Differenz von einem Cent gegenüber der vorangegangenen Bewilligung beruhte auf einer Veränderung der "Energiepauschale".

Am 17.08.2009 stellte die Klägerin bei der Beklagten Folgeantrag. Sie gab an, es sei "geplant", Anfang Oktober 2009 ein Studium an der Pädagogische Hochschule Karlsruhe (PH) aufzunehmen. Sie kündigte an, eine Immatrikulationsbescheinigung nachzureichen. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 28.09.2009 der Klägerin für Oktober 2009 bis März 2010 jeweils EUR 677,21, nämlich die erhöhte Regelleistung von EUR 359,00 und nunmehr EUR 318,21 für Unterkunft und Heizung.

Mit e-mail vom 04.11.2009 bat die Klägerin die Beklagte, mit ihr einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Zur Begründung führte sie aus, "ich muss die Lösung finden, wie ich Studiengebühren bezahlen kann".

Mit Schreiben vom 09.11.2009 forderte die Beklagte die Klägerin auf, bis zum 26.11.2009 "einen ‚Ausbildungs-/Studiums-Vertrag‘ und die Immatrikulationsbescheinigung" und außerdem den "Aufenthaltsstatus ab 25.11.2009" vorzulegen. Es sei ihr - der Beklagten - bei Antragstellung nicht bekannt gewesen, dass die Klägerin ab dem 01.10.2009 ein Studium begonnen habe. Ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bestehe nicht, soweit der Hilfebedürftige eine Ausbildung absolviere, welche im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) förderungsfähig sei. Die Beklagte teilte weiter mit, die Klägerin sei zur Mitwirkung verpflichtet, komme sie dem in der gesetzten Frist nicht nach, würden die Geldleistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz versagt.

Das Studentenwerk Karlsruhe hatte bereits mit Bescheid vom 20.07.2009, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 22.10.2009, Ausbildungsförderung nach dem BAföG abgelehnt. Die Klägerin habe die Altersgrenze von 30 Jahren überschritten; eine ausnahmsweise Gewährung komme nicht in Betracht.

Am 20.11.2009 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben (S 7 AS 5203/09). Sie führte aus, sie wende sich gegen die "Nichtauszahlung meines Sozialgeldes für den Monat November 2009" und eine "Arbeitsdienstverletzung" eines Mitarbeiters der Beklagten. Sie studiere inzwischen an der PH Karlsruhe. Sie habe trotz der Bewilligung vom 28.09.2009 keine Leistungen erhalten. Die "Arbeitsdienstverletzung" liege darin, dass die Beklagte keinen "Studiumsvertrag" habe verlangen dürfen, da ein solcher nicht existiere.

Mit Bescheid vom 09.12.2009 hob die Beklagte den Bescheid vom 28.09.2009 für den gesamten Bewilligungszeitraum auf. Die Klägerin sei zumindest grob fahrlässig ihrer Verpflichtung, die Aufnahme ihres Studiums an der PH Karlsruhe ab 01.10.2009 mitzuteilen, nicht nachgekommen. Erst am 22.10.2009 habe sie die Immatrikulationsbescheinigung vorgelegt. Auszubildende in einer nach dem BAföG förderungsfähigen Ausbildung hätten keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. In besonderen Härtefällen könnten Leistungen als Darlehen gewährt werden.

Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie habe am 30.11.2009 angefangen zu arbeiten und werde etwa EUR 400,00 im Monat verdienen. Sie habe bereits bewiesen, dass sie keine Ansprüche auf Leistungen nach dem BAföG habe.

Auf einen Antrag der Klägerin vom 15.01.2010 hin ordnete das SG in dem Verfahren S 7 AS 83/10 ER mit Beschluss vom 21.01.2010 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Klägerin gegen den Bescheid vom 09.12.2009 an. In den Gründen führte das SG aus, der Bewilligungsbescheid vom 28.09.2009 sei bereits bei seinem Erlass rechtswidrig gewesen, da er eine feststehende Tatsache, nämlich den Studienbeginn zum 01.10.2009, nicht berücksichtigt habe. Eine Rücknahme dieses Bescheides für die Vergangenheit scheide aus, weil die Klägerin keine unrichtigen Angaben gemacht habe; sie habe in dem Fortzahlungsantrag vom 17.08.2010 wahrheitsgemäß mitgeteilt, ab Oktober ein Studium zu beginnen. Es sei auch nicht anzunehmen, dass sie die Rechtswidrigkeit der gleichwohl erfolgten Bewilligung zumindest grob fahrlässig verkannt habe. Gegenüber der Rücknahme der Bewilligung für die Zukunft beständen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit, da die Beklagte kein Ermessen ausgeübt habe, obwohl dieses hier notwendig gewesen sei.

Die Beklagte erließ sodann den Widerspruchsbescheid vom 09.02.2010, in dem sie den Aufhebungsbescheid vom 09.12.2009 abänderte und die Bewilligung vom 28.09.2009 nur für die Zeit von Januar bis März 2010 aufhob und den Widerspruch im Übrigen zurückwies. Wegen der Rücknahme der Bewilligung für die Vergangenheit machte sie sich die Ausführungen des SG in dem Beschluss vom 21.01.2010 zu eigen. Für die Zukunft stehe einer Rücknahme dagegen kein schutzwürdiges Vertrauen gegenüber, da die Klägerin über die noch nicht erhaltenen Leistungen nicht disponiert habe und außerdem das Studium jederzeit beenden könne. Die notwendige Abwägung gehe zu Lasten der Klägerin aus.

Nachdem die Klägerin den Widerspruchsbescheid erhalten hatte, hat sie am 04.03.2010 eine weitere Klage zum SG erhoben (S 7 AS 939/10). In diesem Rahmen teilte sie auch mit, sie habe aus ihrer Erwerbstätigkeit im Dezember 2009 EUR 250,00, im Januar 2010 EUR 198,00 und im Februar 2010 EUR 182,00 erhalten.

In der mündlichen Verhandlung vom 11.05.2010 hat das SG beide Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem Az. S 7 AS 5203/09 fortgeführt. Die Klägerin hat nach der Niederschrift unter anderem - soweit hier von Interesse - beantragt, den Bescheid vom 09.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2010 aufzuheben.

Mit Urteil vom 11.05.2010 hat das SG den Bescheid vom 09.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2010 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Bescheid vom 28.09.2009 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, da die Klägerin mit Aufnahme des Studiums am 01.10.2009 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II mehr gehabt habe. Das Studium der Klägerin an der PH sei nach § 2 BAföG grundsätzlich förderungsfähig, ein Leistungsanspruch der Klägerin nach dem BAföG scheitere dagegen an individuellen Versagungsgründen nach § 10 BAföG, nämlich ihrem Alter und der Tatsache, dass es sich um ein Zweitstudium handle. Es lägen weder die Ausnahmetatbestände des § 7 Abs. 6 SGB II noch eine besondere Härte, die zu einem Darlehensanspruch führe, vor. Gleichwohl sei der angefochtene Aufhebungsbescheid, anders als die Beklagte meine, auch hinsichtlich der Rücknahme für die Zukunft, mithin für die Zeit vom 01.01. bis zum 31.03.2010, rechtswidrig und aufzuheben. Es sei entscheidend, ob der Begünstigte subjektiv auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut und dieses Vertrauen objektiv ins Werk gesetzt habe. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin der festen Überzeugung gewesen sei, ihr stünden die bewilligten Leistungen zu. Deshalb habe sie ihre Lebensführung insoweit auf diese Leistungen eingerichtet und zunächst keine Veränderungen vorgenommen. Sie habe zunächst nur eine Erwerbstätigkeit aufgenommen, die zu keinem anrechenbaren Einkommen geführt habe. Ohne die bewilligten Leistungen sei sie nicht imstande gewesen, ihre Kosten der Unterkunft und Heizung zu begleichen. Lediglich mithilfe kleinerer Geldbeträge von Freunden habe sie sich ernähren können. In der Annahme, die Beklagte verweigere ihr zu Unrecht die bereits bewilligten Leistungen, habe sie ihren Lebenszuschnitt erst nach dem Bewilligungszeitraum dahingehend geändert, dass sie Wohngeld beantragt und eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen habe. Eine schnellere Umstellung ihrer Lebensführung vor Ablauf des 31.03.2010 sei der Klägerin nicht zumutbar gewesen.

Auf einen weiteren Antrag der Klägerin hin (S 7 AS 2741/10 ER) verpflichtete das SG mit Beschluss vom 22.07.2010 die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung, der Klägerin vorläufig die mit Bescheid vom 28.09.2009 bewilligten Leistungen für Kosten der Unterkunft für die Monate Januar bis März 2010 in Höhe von insgesamt 954,63 EUR zu zahlen. Die Beklagte sei bereits deshalb zu verpflichten gewesen, weil das SG im Urteil vom 11.05.2010 aufgrund Aufhebung des Bescheides vom 09.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2010 den Bescheid vom 28.09.2009 "gleichsam wieder in Kraft gesetzt" habe.

Gegen das Urteil vom 11.05.2010, das ihr am 19.06.2010 zugestellt worden war, hat die Klägerin am 02.07.2010 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt.

Die Beklagte, der das Urteil am 22.06.2010 zugestellt und die Berufung der Klägerin unter dem 16.07.2010 übermittelt worden waren, hat mit Schriftsatz vom 21.07.2010, bei dem LSG am selben Tage eingegangen, ebenfalls "Berufung" eingelegt. Hierbei hat sie das Aktenzeichen des Berufungsverfahrens genannt. Zutreffend war weiterhin das Datum der Zustellung des SG-Urteils (22.06.2010). Dagegen nannte die Beklagte in jenem Schriftsatz ein falsches Aktenzeichen des SG-Urteils und auch ein falsches Erlassdatum (22.10.2009). Mit Schriftsatz vom 04.08.2010 hat die Beklagte sodann die beiden genannten Falschangaben korrigiert, hierbei aber mitgeteilt, bei dem Schriftsatz vom 21.07.2010 habe es "lediglich um die Anschlussberufung" gehandelt. Wegen der Ausführungen der Beklagten im Einzelnen wird auf die beiden genannten Schriftsätze verwiesen verwiesen. In der Sache hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 27.09.2010 das Urteil des SG angegriffen.

Die Klägerin führt aus, die Beklagte habe ihr für die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2010 die "vollen Leistungen aus dem Bewilligungsbescheid vom 28.09.2009" zu gewähren. Sie hoffe, es sei nicht nötig, beim SG hinsichtlich des Beschlusses vom 22.07.2010 einen Vollstreckungsantrag zu stellen.

Die Klägerin beantragt, zum Teil sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, ihr die mit Bescheid vom 28. September 2009 bewilligten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für den Zeitraum vom 01. November 2009 bis 31. März 2010 auszuzahlen und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, zum Teil sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. Mai 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte teilt mit, sie habe den Beschluss des SG vom 22.07.2010 bereits ausgeführt und der Klägerin Miete für die Zeit von Januar bis März 2010 an die Vermieterin gezahlt. Im Übrigen sei eine Zahlung noch nicht erfolgt, da nach wie vor unklar sei, welche Löhne die Klägerin wann erhalten habe. Sie - die Beklagte - habe die Klägerin bereits unter dem 25.05.2010 aufgefordert, die relevanten Lohnabrechnungen bzw. Kontoauszüge vorzulegen. Unter Umständen habe die Klägerin auch die Kosten der Unterkunft für Januar bis März 2010 zu Unrecht erhalten, da die etwa anzurechnenden Löhne in dieser Zeit nicht bekannt seien. Unabhängig hiervon genieße die Klägerin auch hinsichtlich der Zeit vom 01.01. bis 31.03.2010 keinen Vertrauensschutz. Die Klägerin habe diese Leistungen nicht verbraucht, weil sie nicht an sie ausbezahlt worden seien. Auch für November und Dezember 2009 sei die Regelleistung noch nicht ausbezahlt worden. Dies sei zwar mehrfach versucht worden. Die Klägerin habe diese Leistungen jedoch regelmäßig wieder an die Beklagte zurücküberwiesen. Konkret habe die Klägerin eine Überweisung der Beklagten vom 11.02.2010 über EUR 1.354,42, nämlich die Leistungen für November und Dezember 2009, am 01.03.2010 zurücküberwiesen. Am 13.04.2010 habe sie - die Beklagte - Leistungen für Unterkunft und Heizung für November und Dezember 2009 in Höhe von 636,42 EUR an die Vermieterin der Klägerin überwiesen. Die am gleichen Tag überwiesene Regelleistung für diese Monate von 718,00 EUR habe die Klägerin am 21.04.2010 zurücküberwiesen. Eine dritte Überweisung dieser 718,00 EUR vom 23.06.2010 habe die Klägerin am 23.06.2010 zurücküberwiesen.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 26.10.2010, die Klägerin mit Schreiben vom 08.11.2010 einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet über die Rechtsmittel im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

1. Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 158 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Der Klägerin steht für die von ihr eingelegte Berufung mangels Beschwer kein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, vor § 143 Rn. 5 m.w.N.). Eine Beschwer eines Berufungsklägers liegt nämlich nur dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung ihm etwas versagt, das er beantragt hatte (Leitherer a.a.O. Rn. 6 m.w.N.). Dies trifft hier nicht zu, da das SG dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Klägerin vollumfänglich entsprochen hat.

Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob die Klägerin mit ihrer Berufung ihre Klage erweitert hat und eine solche Klageerweiterung nach § 99 Abs. 3 oder Abs. 1 SGG zulässig wäre. Die Klägerin hatte vor dem SG ausschließlich die Aufhebung des angefochtenen Aufhebungsbescheids begehrt, also eine reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGG) erhoben, in der Berufungsinstanz macht sie nunmehr aber einen - ebenso isolierten - Leistungsantrag geltend. Eine Klageerweiterung in der Berufungsinstanz setzt in jedem Fall eine zulässige Berufung, insbesondere eine Beschwer durch das angegriffene Urteil, voraus (vgl. Leitherer a.a.O. § 99 Rn. 12), an der es hier, wie ausgeführt, fehlt.

2. Dagegen hat die Berufung der Beklagten Erfolg.

a) Sie ist zulässig.

Der Senat ist der Ansicht, dass die Beklagte hier eine selbstständige Berufung und nicht nur eine unselbstständige Anschlussberufung eingelegt hat. Zwar kann auch im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 202 SGG i.V.m. § 524 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) eine Anschlussberufung eingelegt werden (vgl. Leitherer a.a.O. § 143 Rn. 5 ff.). Als bloße Anschlussberufung verlöre das Rechtsmittel der Beklagten seine Wirkung, wenn die Berufung des Berufungsklägers zurückgenommen oder - wie hier - verworfen wird (vgl. § 524 Abs. 4 ZPO und Leitherer, a.a.O. Rn. 5g unter Hinweis auf § 127 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]).

Entsprechend den zivilprozessualen Grundsätzen ist allerdings die konkrete Bezeichnung eines Rechtsmittels durch den Beteiligten unerheblich; so ist von einer selbstständigen Berufung auszugehen, wenn ihre formellen Voraussetzungen vorliegen (vgl. Rei¬chold in Thomas/Putzo, ZPO, 28. Aufl. 2007 § 524 Rn. 1 m.w.N.), wenn also die Berufungsfrist auch auf dieser Seite noch gewahrt ist und eine Beschwer vorliegt. Etwas anderes kann allenfalls gelten, wenn der Berufungsbeklagte deutlich macht, dass er das angegriffene Urteil grundsätzlich akzeptiert und er demzufolge damit einverstanden ist, dass seine Berufung wirkungslos wird, wenn die Hauptberufung der Gegenseite durch Rücknahme oder Verwerfung wirkungslos wird.

Der Schriftsatz der Beklagten vom 21.07.2010 ist als Berufung auszulegen. Er ist noch innerhalb der gegen die Beklagte laufenden Berufungsfrist bei dem LSG eingegangen, da der Beklagten das angegriffene Urteil des SG erst am 22.06.2010 zugestellt worden war. Die Beklagte hat ausdrücklich das Wort "Berufung" gewählt. Es war auch ausreichend erkennbar, gegen welches erstinstanzliche Urteil sich diese Berufung richten sollte. Das Aktenzeichen des laufenden Berufungsverfahrens und das Rubrum waren richtig genannt. Vor diesem Hintergrund ist es unerheblich, dass einige andere Angaben in dem Schriftsatz zu dem Urteil des SG (Aktenzeichen und Erlassdatum) falsch waren. Letztlich ist - nur - die Beklagte durch das angegriffene Urteil beschwert. Und die Beklagte hat letztlich auch in der Sache gegen das Urteil argumentiert und ausreichend deutlich gemacht, dass sie eine Rücknahme des Bewilligungsbescheids vom 28.09.2009 auch für die Zukunft für möglich hält.

Diese selbstständige Berufung wurde durch den weiteren Schriftsatz der Beklagten vom 04.08.2010 nicht verändert. Der Senat geht davon aus, dass die Beklagte den Begriff "Anschlussberufung" darin nur untechnisch verwandt hat. Wenn die Beklagte hier wirklich zu einer unselbstständigen Anschlussberufung hätte übergehen wollen, dann hätte sie hierzu zunächst die bereits eingelegte selbstständige Berufung zurücknehmen müssen. Eine Prozesshandlung mit derartig weitreichenden Folgen wie die Rücknahme einer fristgerecht eingelegten Berufung muss deutlich erklärt werden. Dies ist hier nicht geschehen.

b) Die Berufung ist auch begründet. Das SG hätte den Bescheid der Beklagten vom 09.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2010 nicht aufheben dürfen. Die Beklagte hat vielmehr in jenem Bescheid zu Recht den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 28.09.2010 - beschränkt auf den Zeitraum vom 01.01. bis 31.03.2010 - aufgehoben.

aa) Wie auch das SG angenommen hat, war der Bewilligungsbescheid vom 28.09.2009 von Anfang an rechtswidrig, sodass er grundsätzlich nach § 45 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückgenommen werden konnte. Bei seinem Erlass hatte sich die Klägerin bereits bei der PH Karlsruhe immatrikuliert, diese Immatrikulation war innerlich bereits bindend und es stand daher fest, dass die Klägerin ab dem 01.10.2009 ein Studium absolvieren würde, das nach dem BAföG dem Grunde nach förderungsfähig war, sodass sie ab diesem Tag keinen Anspruch mehr auf Leistungen nach dem SGB II haben würde (§ 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II). Zu berücksichtigen ist in der Tat auch, dass der Klägerin der Bescheid nach der Fiktion in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X erst am 01.10.2009 bekanntgegeben wurde und daher erst an diesem Tage wirksam wurde, an diesem Tag das Studium aber bereits begonnen hatte.

bb) Anders als das SG meint, steht der Klägerin für den Zeitraum vom 01.01. bis 31.03.2010 kein die Aufhebung des Bescheides vom 28.09.2010 ausschließender Vertrauensschutz zur Seite.

Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte jedoch nicht berufen, soweit die besonderen Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 SGB X vorliegen.

Ob bei der Klägerin Umstände im Sinne von Abs. 2 Satz 3 dieser Norm vorlagen, die Vertrauen ohne Weiteres ausschlössen, lässt der Senat hier offen. Richtig ist zwar, dass die Klägerin im Vorfeld der Bewilligung keine unrichtigen Angaben gemacht hatte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). Denkbar ist aber, dass ihr bereits ab der Bewilligung oder zumindest nach dem Hinweisschreiben der Beklagten vom 09.11.2009 bewusst oder im Sinne grober Fahrlässigkeit unbewusst war, dass sie keinen Anspruch mehr auf Leistungen nach dem SGB II innehatte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).

Jedoch fehlte der Klägerin im Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung am 09.12.2009 bereits ein schutzwürdiges Vertrauen. Die Beklagte hatte sie bereits mit Schreiben vom 09.11.2009 darauf hingewiesen, dass sie keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II habe, wenn sie eine im Rahmen des BAföG dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung absolviere. Demnach hat die Klägerin bereits ab diesem Zeitpunkt davon ausgehen müssen, dass sie aufgrund des Studiums¬beginns zum 01.10.2009 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II mehr hatte. Anhaltspunkte, dass es der Klägerin nicht zumutbar gewesen wäre, jedenfalls bis spätestens Ende 2009 ihr Studium bei der PH in Karlsruhe vorzeitig zu beenden, sind nicht ersichtlich. Anders als das SG ausgeführt hat, war der Klägerin keine längere Zeitspanne zu einer Umstellung ihrer Lebensverhältnisse zu gewähren. Die Klägerin hatte bereits vor Oktober von Leistungen nach dem SGB II gelebt. Die erneute Bewilligung ab Oktober hatte bei ihr nicht zu einer Veränderung ihrer Lebensumstände geführt, die etwa rückabzuwickeln gewesen wäre. Die Klägerin war ab Oktober weder umgezogen noch hatte sie z.B. eine Erwerbstätigkeit aufgegeben. Sie hatte daher im Hinblick auf die weitere Gewährung der bewilligten Leistungen keine unumkehrbaren Dispositionen getroffen. Ihren Leistungsansprüchen nach dem SGB II stand allein die Immatrikulation entgegen. Diese Immatrikulation war jedoch keine Folge der Bewilligung, wie es für einen Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Sätze 2 und 3 SGB X notwendig wäre. Vielmehr hatte sich die Klägerin bereits vor Erlass des Bewilligungsbescheids vom 28.09.2010 für das Studium entschieden und sich immatrikuliert. Hinzu kommt, dass die Klägerin jenen Umstand, der weiteren Leistungsansprüchen entgegen stand, kurzfristig durch einen Antrag auf Exmatrikulation beseitigen können, denn einem solchen Antrag hätte die PH nach § 62 Abs. 1 Gesetz über die Hochschulen in Baden-Württemberg (bwHG) stattgeben müssen, wobei es nach § 62 Abs. 4 Satz 2 bwHG möglich war, die Exmatrikulation nicht erst mit dem Ende des laufenden Semesters, sondern sofort zu erreichen.

cc) Auch die Ermessenserwägungen der Beklagten in dem Widerspruchsbescheid vom 09.02.2010 reichen aus.

Auch wenn ein schutzwürdiges Vertrauen im Sinne von Abs. 2 Sätze 1 und 2 nicht vorliegt, so kann eine Rücknahme aus Ermessenserwägungen ausscheiden. § 45 Abs. 1 SGB X verlangt grundsätzlich eine Ermessensentscheidung der Behörde. Die Ausnahmeregelung des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) greift hier nicht ein, da sie nur Fälle des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X betrifft, dann allerdings gleichermaßen Rücknahmen für die Vergangenheit und für die Zukunft (vgl. Düe in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 330 Rn. 23; BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 4 AS 48/07 R, Juris). Ob ein Vorwurf nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X der Klägerin zu machen ist, bleibt hier aber, wie bereits ausgeführt, offen. Auch die Rücknahme wegen fehlenden schutzwürdigen Vertrauens nach § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X ist aber eine Soll-Verpflichtung der Behörde, sodass eine Rücknahme nur in atypischen Einzelfällen ausscheidet, insbesondere wenn die Behörde selbst ein (erhebliches) Verschulden oder Mitverschulden an der rechtswidrigen Bewilligung trifft.

Ein solcher atypischer Ausnahmefall lag hier nicht vor. Zwar wusste die Beklagte bei Erlass des Bescheids vom 28.09.2009 oder hätte zumindest wissen können, dass die Klägerin ab Oktober 2009 studieren würde. Es ist ihr jedoch nicht vorzuwerfen, der Klägerin gleichwohl (nicht nur vorläufig) Leistungen nach dem SGB II bewilligt zu haben, z.B. weil über den Antrag der Klägerin auf Leistungen nach dem BAföG noch nicht abschließend entschieden war. Die Interessen der Klägerin hat die Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid vom 09.02.2010 ausreichend erwogen, indem sie die Bewilligung letztlich nur für die Zeit ab Januar 2010 zurückgenommen und der Klägerin daher auch die Leistungen für November und Dezember 2009 belassen hat, obwohl die Klägerin - wie bereits ausgeführt - spätestens nach dem Hinweis vom 09.11.2009 wusste, dass sie wegen ihres Studiums keinen Leistungsanspruch mehr hatte.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

4. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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