L 11 AS 794/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 18 AS 1511/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 794/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Mangels abschließender Prüfung der Sach- und Rechtslage ist eine Güter- und Interessenabwägung vorzunehmen.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 01.10.2010 wird zurückgewiesen.

II. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten auch des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt S., A-Stadt, beigeordnet.




Gründe:


I.

Streitig ist der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II -) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die Antragstellerin (ASt) ist ungarische Staatsangehörige und beantragte Alg II. Sie sei schwanger und werde im Februar 2011 entbinden. Eine Arbeitserlaubnis - EU für die Tätigkeit als Zimmermädchen sei mit Bescheid vom 09.04.2010 abgelehnt worden. Einen Anspruch auf Alg II lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 10.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2010 ab. Die ASt gehöre nicht zu dem leistungsberechtigten Personenkreis iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II; § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II greife nämlich ein. Dagegen hat die ASt Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben, über die noch nicht entschieden ist (S 13 AS 1658/10).

Auf ihren Antrag auf Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz - der Vater des noch ungeborenen Kindes lebe in Deutschland und werde wohl im Oktober 2010 eingebürgert, sei aber noch verheiratet und sie selbst habe bei einer Rückkehr nach Ungarn weder Unterkunft noch Einkommen - hat das SG die Ag verpflichtet, der ASt vorläufig vom 20.09.2010 bis 28.02.2011, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Beschluss vom 01.10.2010). Eine abschließende Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen sei im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht möglich. Bei der daher vorzunehmenden Güter- und Interessenabwägung könnten Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens nicht ausgeschlossen werden.

Dagegen hat die Ag Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht worden. Die ASt hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig, aber nicht begründet.

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.

Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74; vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. RdNr 652).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9.Aufl, § 86b RdNr 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist gegebenenfalls auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 -1 BvR 2971/06 -).

In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (BVerfG vom 12.05.2005 aaO, BVerfG vom 25.02.2009 - 1 BvR 120/09 -).

Vorliegend stehen existenzsichernde Leistungen in Frage. Eine abschließende Klärung der Sach- und Rechtslage ist jedoch im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht möglich. Es ist daher eine Folgenabwägung unter Berücksichtigung der Belange der ASt vorzunehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die ASt schwanger ist und die Entbindung voraussichtlich im Februar 2011 erfolgen wird. Zudem soll es sich bei dem Vater des Kindes um einen vor der Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland stehenden Ungarn handeln. Eine sofortige Rückkehr der ASt nach Ungarn zu dieser Jahreszeit ohne Einkommen und Unterkunft erscheint nach den vorliegenden Umständen nicht als zumutbar, insbesondere unter Berücksichtigung einer eventuellen Erfolgsaussicht im Rahmen des Hauptsacheverfahrens. Im Rahmen der Güter- und Interessenabwägung ist von schweren, der ASt unzumutbaren Beeinträchtigungen auszugehen, die nachträglich nicht mehr beseitigt werden könnten. Die Verpflichtung der Ag zur vorläufigen Leistungserbringung längstens bis 28.02.2011, also für einen lediglich kurzen Zeitraum, für den nicht einmal Unterkunftskosten anfallen - ist daher rechtmäßig.

Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der ASt ist Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen. Sie hat lt. ihrem Antrag auf Alg II weder Einkommen noch Vermögen. Die Erfolgsaussichten sind nicht zu prüfen (§ 119 Abs 1 Satz 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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