L 11 AS 798/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AS 747/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 798/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Frage der Erreichbarkeit gemäß § 7 Abs 4a SGB II: es ist nicht darauf abzustellen, dass ein Berechtigter mangels finanzieller Mittel keine öffentlichen Verkehrsmittel benützen kann.
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 11.10.2010 abgeändert.
II. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, vorläufig Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes in Höhe von 287,00 EUR monatlich ab 01.12.2010 bis zur
Entscheidung über den gegen den Bescheid vom 27.09.2010 eingelegten
Widerspruch zu zahlen.
III. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
IV. Die Antragsgegnerin hat die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Antrag-stellers zu tragen.



Gründe:

I.
Streitig ist die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 01.07.2010.
Am 28.06.2010 beantragte der Antragsteller (ASt) die Weiterbewilligung von Alg II ab 01.07.2010. Zuvor war für den Fall der Bewilligung von Leistungen ab 01.07.2010 eine Absenkung der Regelleistung um 10 vH für die Zeit vom 01.06.2010 bis 31.08.2010 von der Antragsgegnerin (Ag) angeordnet worden (Bescheid vom 21.05.2010), so dass bei einer Absenkung um 36,00 EUR Alg II in Höhe von 251,55 EUR zu zahlen wäre.
Die Weiterbewilligung lehnte die Ag mit Bescheid vom 27.09.2010 ab. Der ASt sei nicht erreichbar. Er sei nicht in der Lage, täglich ohne zumutbaren Aufwand die Ag zu erreichen. Er trampe erforderlichenfalls von seinem Aufenthaltsort K. - er wohne allerdings in A-Stadt - nach W ... Dagegen legte der ASt Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.
Bereits am 24.09.2010 hat der ASt einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Würzburg (SG) begehrt. Er müsse mangels Reisekostenerstattung trampen. Ihm stehe kein Budget für die Reisekosten zur Verfügung. Er begehre die sofortige Auszahlung der zurückgehaltenen Grundsicherung.
Das SG hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 11.10.2010 abgelehnt. Die Hauptsache werde keinen Erfolg haben. Der ASt halte sich nicht im Nahbereich des Arbeitsamtes auf. Wegen des Trampens sei fraglich, ob er täglich ohne zumutbaren Aufwand die Ag erreichen könne. Leistungen für die Vergangenheit seien im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht zu erbringen.
Dagegen hat der ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Er könne sich eine Bahnfahrt nicht leisten.
Die Ag hat mitgeteilt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln benötige der ASt mindestens 1 Stunde 55 Minuten zur Anreise. Er habe jetzt erstmals am 04.11.2010 angegeben, ggfs. öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und zum Teil auch begründet. Dem ASt ist vorläufig ab 01.12.2010 bis zur Entscheidung über den Widerspruch durch die Ag Alg II in Höhe von 287,00 EUR zu zahlen. Für die Zeit vom 01.07.2009 bis 30.11.2009 ist die Beschwerde zurückzuweisen.

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtsstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.

Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74, vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. Rdnr 652).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiellrechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung -ZPO-; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 8.Aufl, § 86b Rdnr 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist gegebenenfalls auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 -1 BvR 2971/06 -).

In diesem Zusammenhang ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern sie muss abschließend geprüft werden (BVerfG vom 12.05.2005 aaO).
Es handelt sich vorliegend um existenzsichernde Leistungen. Die Sach- und Rechtslage kann dabei nicht abschließend geprüft werden, denn die Höhe des Anspruchs auf Alg II ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens ebenso wenig nachprüfbar wie die Frage, ob sich der ASt noch im zeit- und ortsnahen Bereich i.S. des § 7 Abs 4a SGB II i.V.m. § 2 Satz1 Nr 3, Satz 2 Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können (Erreichbarkeits-Anordnung -EAO-) aufhält. Dabei ist zwar unabhängig vom konkreten Einzelfall auf die allgemeine Erreichbarkeit der Ag ohne unzumutbaren Aufwand abzustellen. Von K. aus ist ggf. die Ag täglich mit einem Kfz oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Es kann dabei nicht darauf ankommen, dass der ASt diese Strecke tatsächlich per Anhalter zurücklegt bzw. zurücklegen muss, gerade weil ihm durch die Versagung der Leistung keine Mittel zur Verfügung stehen, um eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Ag (vor-)finanzieren zu können. Zu klären ist allerdings, ob eine Erreichbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand gegeben ist, d.h. ob K. tatsächlich noch im zeit- und ortsnahen Bereich liegt. Hierzu führt die Ag aus, der ASt benötige mindestens 1 Stunde 45 Minuten für die Anreise, halte sich daher nicht mehr im zeit- und ortsnahen Bereich auf. Ob dies zutrifft und ob die zeitliche Grenze entsprechend § 121 Abs 4 SGB III zu ziehen ist, ist jedoch offen und i.R.d. einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht zu klären. Auch hat der ASt die evtl. Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel bereits im Widerspruchsschreiben vom 08.10.2010 angesprochen. Ein Anordnungsgrund liegt auch vor. Dem ASt werden existenzsichernde Leistungen versagt. Im Rahmen der vorzunehmenden Folgenabwägung ist im Wesentlichen zu berücksichtigen, dass der ASt keinerlei existenzsichernde Leistungen zumindest seit 01.07.2010 zur Verfügung hat und weitere Einkünfte, die zusätzlich zu berücksichtigen wären, nicht vorhanden zu sein scheinen.
Die Höhe der vorläufig zu erbringenden Leistungen orientiert sich mangels anderweitiger Anhaltspunkte an der Berechnung der Ag im Bescheid vom 21.05.2010 zzgl der dort vorgenommenen Kürzung. Diese Leistung ist für die Zeit ab 01.12.2010 bis zur Entscheidung über den gegen den Bescheid vom 27.09.2010 eingelegten Widerspruch vorläufig von der Ag zu erbringen.
Für die Zeit vor dem 01.12.2010, also für einen vergangenen Zeitraum, hat die Ag keine vorläufigen Leistungen zu erbringen. Es ist ständige Rechtsprechung des Senats, dass für Leistungsansprüche, die allein für die Vergangenheit in Streit stehen, in aller Regel ein Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit, nicht glaubhaft zu machen ist. Hierbei ist der maßgebende Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt wird, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann. Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in der Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird und sich ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistung der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl. Beschluss des Senats vom 08.11.2010 - L 11 AS 652/10 B ER -). Beides ist vorliegend nicht gegeben.
Nach alledem war der Beschluss des SG teilweise aufzuheben und die Ag zur vorläufigen Leistungserbringung ab 01.12.2010 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides durch die Ag zu verpflichten. Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.


Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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