L 3 U 145/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 9 U 132/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 145/09
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine lärmgefährdende Tätigkeit von lediglich 14 Jahren mit einem Dauerschallpegel von 85 dB macht die Entstehung eines arbeitsbedingten Gehörschadens unwahrscheinlich. Erst ab einer Expositionszeit von 18 Jahren ist ein entsprechender Ursachenzusammenhang anzunehmen.
Tritt ein Tinnitus erst nach Beendigung der lärmgefährdenden Tätigkeit auf, kann er nicht auf diese Tätigkeit zurückgeführt werden. Dies gilt auch für eine depressive Symptomatik, die mit dem Tinnitus einhergeht.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
München vom 13. Januar 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht
zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente aus dem Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr.2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Wege einer Zugunstenentscheidung im Sinne von § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Streitig ist zwischen den Beteiligten nicht nur die Gehörminderung als solche, sondern auch der bei dem Kläger bestehende Tinnitus sowie die psychische Funktionsstörung im Sinne einer Depression.

Der 1950 geborene Kläger ist als Werkzeugmacher, Maschinenmechaniker und Einsteller an Standmaschinen beruflich tätig gewesen. Nach den Feststellungen der Beklagten ist er bis Anfang 1995 einem Dauerschallpegel von ca. 85 dB ausgesetzt gewesen. Seit Anfang 1995 hat die Lärmbelastung nur noch um 76 bis 79 dB betragen.

Gestützt auf das HNO-ärztliche Gutachten der Dr. N. vom 03.08.1998, die Stellungnahme der HNO-Ärztin Dr. S. vom 14.12.1998 und der gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 06.05.1999 hat die Beklagte mit Bescheid vom 05.07.1999 als Folgen der Berufskrankheit anerkannt: "Geringgradige Hörminderung im Hochtonbereich beidseits." Nicht als Folgen der Berufskrankheit sind anerkannt worden: "Zusätzliche Hörminderung rechts durch Beeinträchtigung der Schallleitung; zeitweise bestehendes Ohrgeräusch links." Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Maße hat nicht vorgelegen.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hat der damalige Bevollmächtigte des Klägers die Stellungnahme der Dr. N. vom 14.03.2000 vorgelegt. Aus den Schwerhörigkeitsgraden beider Ohren ergebe sich eine MdE für die Schwerhörigkeit von 30 v.H. In Berücksichtigung des grenzwertig kompensierten Tinnitus mit einer MdE von 10 v.H. ergebe sich insgesamt eine MdE von 30 v.H.

Die Beklagte hat die Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. K. veranlasst. Dieser ist mit HNO-ärztlichem Gutachten vom 26.06.2000 zu dem Ergebnis gekommen, dass der lärmbedingte Anteil der MdE auf unter 10 % zu schätzen sei. Prof. Dr. K. hat mit ergänzender Stellungnahme vom 09.10.2000 bekräftigt, dass der Hörschaden, wie er sich anlässlich seiner Begutachtung dargestellt habe, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lärmbedingt sei. Gleiches gelte für das Ohrgeräusch, welches seit 1995 an Intensität zugenommen habe, obwohl seit diesem Zeitpunkt keine gehörschädigende Lärmexposition mehr bestanden habe. Dementsprechend hat die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 15.07.1999 mit Widerspruchsbescheid vom 28.06.2001 zurückgewiesen.

In dem sich anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht München mit Az.: S 23 U 518/01 sind keine weiteren Gutachten nach § 106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bzw. § 109 SGG eingeholt worden. Das Sozialgericht München hat die Klage mit Urteil vom 05.12.2003 abgewiesen und sich hierbei im Wesentlichen auf die gutachterlichen Ausführungen des Prof. Dr. K. gestützt.

Die ehemaligen Bevollmächtigten des Klägers haben mit Neufeststellungsantrag vom 03.08.2005 das Tonaudiogramm des Dr. M. vom 13.07.2005 vorgelegt. Der Präventionsdienst der Beklagten hat mit Stellungnahme vom 26.01.2006 ausgeführt, unter Zugrunde-legung ungünstigster Bedingungen habe sich ein Beurteilungspegel von 78 dB ergeben. Der Kläger sei nicht mehr lärmgefährdend tätig. Im Folgenden hat die Beklagte die Gewährung einer Rente mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 21.02.2006 abgelehnt. Da seit 1995 keine berufsbedingte Lärmbelastung mehr vorgelegen habe, sei eine nach dieser Zeit eingetretene Verschlechterung des Hörvermögens als berufsunabhängig zu werten.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hat der ehemalige Bevollmächtigte des Klägers das nervenärztliche Attest des Dr. K. vom 26.06.2006 vorgelegt. Dieser hat das Vorliegen einer Innenohrschwerhörigkeit beidseits mit anhaltendem Tinnitus links bestätigt. Nach seiner Ansicht sei dies eine der wesentlichen Ursachen der bestehenden depressiven Verstimmung.

Die Beklagte hat den Widerspruch gegen den Bescheid vom 21.02.2006 mit Widerspruchsbescheid vom 07.02.2007 zurückgewiesen. Eine Lärmschwerhörigkeit könne sich nach Wegfall der gehörschädigenden Lärmeinwirkung nicht mehr weiter verschlechtern.

Am 07.03.2007 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben. Nahezu zeitgleich hat die Beklagte am 15.03.2007 einen Bescheid nach § 44 SGB X erlassen, mit dem der Antrag des Klägers auf Leistungen aufgrund des bei ihm festgestellten Tinnitus abgelehnt worden ist. Auch hiergegen hat der Kläger Widerspruch erhoben, der mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2007 zurückgewiesen worden ist.

Am 09.08.2007 hat der Kläger auch hiergegen Klage zum Sozialgericht München erhoben. Beide Klagen sind mit Verbindungsbeschluss vom 21.09.2007 verbunden und unter dem Az.: S 9 U 132/07 fortgeführt worden.

Das Sozialgericht München hat Befundberichte von Dr. F., Prof. Dr. M. und Dr. K. eingeholt und mit Beweisanordnung vom 13.06.2007 Prof. Dr. S. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zur ärztlichen Sachverständigen bestellt. Die gerichtlich bestellte Sachverständige ist mit HNO-ärztlichem Gutachten vom 31.08.2007 zu dem Ergebnis gekommen, dass die MdE für die Schwerhörigkeit beidseits mit 10 v.H. einzuschätzen sei. Der Tinnitus, der nur einseitig auftrete und sich gut markieren lasse, bedinge eine MdE unter 10 v.H. Es müsse dem Gericht überlassen bleiben, ob die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens sinnvoll sei, obwohl der Tinnitus erst später ohne große Lärmbelästigung manifest geworden sei und sich die Depression auch erst vor wenigen Jahren entwickelt habe.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 12.10.2007 Prof. Dr. M. und Dr. S. gemäß § 109 SGG benannt und weitere ärztliche Unterlagen von Dr. Kohl, Dr. M., Dr. S. und Dr. K. vorgelegt. Prof. Dr. S. hat mit gutachterlicher Stellungnahme vom 21.12.2007 darauf hingewiesen, dass eine Abänderung ihres Gutachtens vom 31.08.2007 nicht veranlasst sei.

Nach Entbindung von Prof. Dr. M. ist Dr. S. gemäß § 109 SGG gutachtlich gehört worden. Dr. S. hat mit nervenärztlichem Fachgutachten vom 18.07.2008 ausgeführt, dass zwischen der Schwerhörigkeit und der Depression eine hohe Komorbidität bestehe, d.h. beide Krankheiten träten gleichzeitig auf und würden einander bedingen. Der Grad der Behinderung (GdB) betrage insgesamt 60 (Einzel-GdB für die Schwerhörigkeit 30; Einzel-GdB für die Depression 50).

Prof. Dr. S. hat mit weiterer gutachterlicher Stellungnahme vom 17.09.2008 zusammenfassend ausgeführt, dass dem Gutachten des Dr. S. nicht gefolgt werden könne. Dieses sei nicht geeignet, die mittel- bis schwere Depression, die Anpassungsstörung und die Somatisierungsstörung als Berufskrankheit anzuerkennen, da nur eine knapp geringgradige Schwerhörigkeit und das sogar nur nach der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung auf den Lärm am Arbeitsplatz zurückzuführen sei. Hierauf gestützt hat das Sozialgericht München die Klage mit Urteil vom 13.01.2009 abgewiesen.

Die Bevollmächtigten des Klägers hoben mit Berufungsbegründung vom 09.04.2009 hervor, dass nicht nur eine Neufeststellung entsprechend dem Schriftsatz vom 03.08.2005 begehrt werde, sondern auch eine Zugunstenentscheidung im Sinne von § 44 SGB X. Bei dem Kläger habe bereits seit dem Jahr 1990 eine Lärmschwerhörigkeit beidseits bzw. auch ein Tinnitus links bei Innenohrschwerhörigkeit bestanden. Dieser habe sich erheblich negativ auf den bereits schlechten psychischen Zustand des Klägers ausgewirkt. Auf die gutachterlichen Ausführungen der Dr. N. und deren umfangreiche ergänzende Stellungnahme vom 14.03.2000 werde ausdrücklich hingewiesen. Prof. Dr. K. hätte bereits im Jahre 2000 nochmals angeschrieben werden müssen bzw. es hätte ein weiterer Gutachter beauftragt werden müssen. Dr. S. habe in seinem Gutachten vom 18.07.2008 hervorgehoben, dass zwischen Schwerhörigkeit und Depression eine hohe Komorbidität bestehe.

Von Seiten des Senats wurden die Unfall-Akten der Beklagten und die Unfallstreitakten erster und zweiter Instanz beigezogen. Nach Überprüfung machte der Senat mit Nachricht vom 06.05.2009 darauf aufmerksam, dass keine weitere Beweiserhebung von Amts wegen beabsichtigt sei.

Auf Antrag des Klägers wurde Dr. C. mit Beweisanordnung vom 14.09.2009 gemäß § 109 SGG zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dr. C. führte mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 22.10.2009 aus, die bei dem Kläger als Berufskrankheit anerkannte leichte Schwerhörigkeit beidseits werde man als eine von mehreren Bedingungen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der depressiven Störung heranziehen können. Klinisch manifest sei diese offensichtlich erst nach einem Herzinfarkt und den damit verbundenen Ängsten geworden, welche als Herzneurose diagnostiziert worden seien. Im weiteren Verlauf waren dann wahrscheinlich auch der zunehmende Tinnitus, der bei der jetzigen Begutachtung doch als recht beeinträchtigend geschildert worden sei, der allerdings wiederum durch die Depression verstärkt werde, eine weitere wahrscheinliche Ursache der Depression sowie auch die von dem Kläger hier nicht geschilderten, in den zur Verfügung stehenden medizinischen Unterlagen allerdings eindeutig immer wieder erwähnten erheblichen beruflichen Problemen, die dann auch wahrscheinlich neben seinen gesundheitlichen Beschwerden zu einer Kündigung geführt hätten. Auch die in den Unterlagen immer wieder beschriebenen und auch hier erwähnten rezidivierenden Beschwerden am Bewegungsapparat, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule, könnten durchaus zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Symptomatik beigetragen haben. Auch der Tinnitus sei im Wesentlichen wohl ebenfalls berufs-krankheitsunabhängig. Zusammenfassend: Der bescheidmäßig anerkannten Berufskrankheit komme in der Entstehung der auf nervenärztlichem Gebiet geltend gemachten Erkrankungen allenfalls eine untergeordnete Rolle zu. Sie sei nicht wesentliche Bedingung für das Auftreten dieser Erkrankungen, insbesondere nicht für die depressive Störung.

In der mündlichen Verhandlung vom 30.11.2010 stellt der Bevollmächtigte des Klägers den Antrag aus dem Schriftsatz vom 09.04.2009,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.01.2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2007 aufzuheben und dem Kläger gemäß §§ 44, 48 SGB X die gesetzlichen Leistungen wegen einer Berufskrankheit nach Nr.2301 der Anlage zur BKV (Lärmschwerhörigkeit und Tinnitus) zuzuerkennen, vor allem eine Verletztenrente nach einer MdE in rentenberechtigendem Grade zu gewähren.

Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.01.2009 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 SGG in Verbindung mit § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die Unfallakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die am 09.04.2009 eingelegte Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.01.2009 ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG form- und fristgerecht, somit zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht München hat die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 21.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15.03.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2007 zutreffend abgewiesen. Dem Kläger steht eine Verletztenrente wegen seiner anerkannten Berufskrankheit weder unter dem Gesichtspunkt einer Neufeststellung (§ 48 Abs.1 SGB X) noch unter dem Gesichtspunkt einer Zuguns-tenentscheidung (§ 44 SGB X) zu.

Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) begründenden Tätigkeiten erleidet (§ 9 Abs.1 Satz 1 SGB VII). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKV mit den Listenkrankheiten vor. Hierzu gehört nach Nr.2301 auch eine Lärmschwerhörigkeit und gegebenenfalls deren Folgen (Bekanntmachung des BMAS vom 01.07.2008, GMBl 2008, 298).

Mit der Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten wird indes nur die mögliche Ursächlichkeit einer beruflichen Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden. Im Einzelfall ist für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreicht (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R). Nach dem in der Unfallversicherung geltenden Prinzip der wesentlichen Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich für eine Berufskrankheit anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Umständen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg und dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs ist gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann. Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach geltender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Die für den Kausalitätszusammenhang sprechenden Umstände müssen die gegenteiligen dabei deutlich überwiegen (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 8 SGB VII Anm.10.1 m.w.N.).

Weiterhin haben Versicherte gemäß § 56 Abs.1 in Verbindung mit § 9 Abs.5 SGB VII Anspruch auf eine Rente, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs.2 Satz 1 SGB VII). Es wird also eine abstrakte Berechnung angestellt, nicht auf die konkrete Beeinträchtigung im Beruf des Versicherten (Bereiter-Hahn, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 Rdnr.10.1).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Beklagte bereits mit Bescheid vom 05.07.1999 als Folgen der Berufskrankheit eine "geringgradige Hörminderung im Hochtonbereich beidseits" zutreffend anerkannt und im Übrigen mit den angefochtenen Bescheiden weitergehende Leistungen ebenso zutreffend abgelehnt (§§ 48 Abs.1, 44 SGB X).

Arbeitstechnisch ist hervorzuheben, dass der Kläger bis Anfang 1995 einer gehörschädigenden Lärmbelastung ausgesetzt gewesen ist. Entsprechend der schlüssigen Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom 26.01.2006 hat sich auch unter Zugrundelegung ungünstigster Bedingungen ein Beurteilungspegel von 78 dB ergeben. Dies bedeutet, dass der Kläger seit Anfang 1995 nicht mehr lärmgefährdend tätig gewesen ist. Die gutachterlichen Ausführungen von Prof. Dr. S. mit HNO-ärztlichem Gutachten vom 31.08.2007 und ergänzender Stellungnahme vom 21.12.2007 sind daher schlüssig und überzeugend, wenn diese zwischen der anerkannten Berufskrankheit und den sonstigen Funktionsstörungen des Klägers auf HNO-ärztlichem Fachgebiet differenzierten. Der Kläger hat, wie die Resultate der Tonschwellenaudiometrie erkennen lassen, auf beiden Ohren eine Innenohrschwerhörigkeit, die deutlich asymmetrisch ist. Rechts ist der Hörverlust pancochlaer und besonders ausgeprägt im mittleren Frequenzbereich zwischen 750 und 1.000 Hz. Auf der linken Seite zeigt sich eine Innenohrschwerhörigkeit, die leicht den Mittelfrequenzbereich betrifft und vorwiegend ausgeprägt im Hochfrequenzbereich ist. Es zeigt sich eine Senke bei 4.000 Hz. Dies entspricht einer Taubheit rechts und einer knapp geringgradigen Schwerhörigkeit links. Die Tests zur Differenzierung der Innenohrschwerhörigkeit wie SISI-Test beidseits, Stapediusreflexmessung zumindest in einer Frequenz links und otoakustischen Emisionen sprechen für eine cochleaere Genese der Schwerhörigkeit. Zusammenfassend besteht kein Zweifel daran, dass die Schwerhörigkeit des rechten Ohres, die über die Schwerhörigkeit des linken Ohres hinaus geht, nicht als Berufskrankheit anerkannt werden kann. Denn es besteht eine ausgeprägte Asymmetrie der Schwerhörigkeit, wie sie bei einer Lärmschwerhörigkeit nicht möglich ist. Das schlechtere Hörvermögen rechts kann auch nicht durch die Arbeitssituation des Klägers erklärt werden. Hierauf hat der Messtechniker bei seiner Untersuchung am 22.07.1997 hingewiesen. Bei einer Lärmschwerhörigkeit kommt es praktisch nie zu einer hochgradigen Schwerhörigkeit, selbst wenn ein Gehörschädigungsrisikomaß von 5 oder mehr vorliegt. Bei dem Kläger hat Prof. Dr. S. am rechten Ohr eine Taubheit mit Hörresten feststellen können. Weiterhin ist die Kurvenform im Tonschwellenaudiogramm völlig uncharakteristisch. Es besteht vielmehr eine pancochleaere Innenohrschwerhörigkeit wie man sie bei einer heriditären degenerativen Innenohrschwerhörigkeit findet.

Auf der linken Seite sprechen nach den Ausführungen der Prof. Dr. S. eine Reihe von Gesichtspunkten für das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit (z.B. Tonschwellenaudiogramme, charakteristische C5-Senke, das Sprachverstehen mit einem prozentualen Hörverlust von 10 %). Nicht zum Bild eines Lärmschadens passen dagegen folgende Umstände und Untersuchungsbefunde: Der Kläger hat bei der Firma Rodenstock von 1975 bis 1981 durch das Bedienen von Drehbänken und Fräsmaschinen eine Lärmbelastung gehabt und ist zuvor in einer metallverarbeitenden Werkstatt und in einer Molkerei tätig gewesen. Er ist (nachweislich) von 1981 bis Anfang 1995 einem energieäquivalenten Dauerschallpegel von 85 dB ausgesetzt gewesen, d.h. die Entstehung eines Gehörschadens ist unwahrscheinlich. Denn erst ab einer Expositionszeit von 18 Jahren mit 85 dB ist die Entstehung eines Gehörschadens nicht völlig auszuschließen. Vestibuläre Zeichen gehören nicht zum Bild einer Lärmschwerhörigkeit und sind ein Beweis, dass eine andere Erkrankung im Spiel sein muss (hier: zentrale Gleichgewichtsstörung in Form eines teilweise salvenartig auftretenden Spontannystagmus nach links bei der Videooculographie, eines richtungswechselnden Provokationsnystagmus unter der Frenzel-Brille und einer ungenügenden Fixationssupression. Die kleine Nystagmusschrift spricht für zentrale Durchblutungsstörungen.) Weiterhin hat der Kläger Risikofaktoren wie einen 1994 erlittenen Herzinfarkt und seit 1984 oder 1985 Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule mit Ausstrahlungen in den Hinterkopf bis hin zur Schläfe und in beide Schultern.

Für den erkennenden Senat sind die Ausführungen der Prof. Dr. S. daher schlüssig und überzeugend, wenn sie in Abwägung der aufgezeigten Gesichtspunkte zu dem Ergebnis kommt, dass der berufsbedingte Anteil an der bestehenden Schwerhörigkeit beidseits, links mit einem prozentualen Hörverlust nach dem Sprachaudiogramm von 10 % und nach dem Tonschwellenaudiogramm von 20 %, eine MdE von 10 v.H. bedingt.

Hinsichtlich des Tinnitus, der nur einseitig links auftritt und sich gut markieren lässt, hat Prof. Dr. S. mit Gutachten vom 31.08.2007 nachvollziehbar hervorgehoben, dass der Tinnitus erst zu einem Zeitpunkt manifest geworden ist, zu dem der Kläger nicht mehr im Lärm gearbeitet hat, und dementsprechend die MdE auf unter 10 v.H. zu schätzen ist.

Die gutachterlichen Ausführungen der Prof. Dr. S. samt ihrer ergänzenden Stellungnahmen sind von Dr. C. mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 22.10.2009 bestätigt worden: Nicht selten sind bei Tinnitus-Patienten depressive Symptome, teils auch krankheitswertig zu beobachten im Sinne einer Komorbidität zwischen Tinnitus und Depression. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nicht nur ein als beeinträchtigend empfundener Tinnitus unter Umständen zu einer Depression führen kann, sondern auch eine Depression zum Auftreten oder zumindest zur Zunahme eines Tinnitus. - Die bei dem Kläger als Berufskrankheit anerkannte leichte Schwerhörigkeit beidseits, wobei unabhängig von der Berufskrankheit auf einer Seite eine sehr ausgeprägte Schwerhörigkeit besteht, ist nach den Ausführungen des Dr. C. als eine von mehreren Bedingungen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der depressiven Störung. Klinisch manifest wurde diese offensichtlich erst nach einem Herzinfarkt und den damit verbundenen Ängsten, welche einmal als Herzneurose diagnostiziert wurden. Im weiteren Verlauf waren dann wahrscheinlich auch der zunehmende Tinnitus, der bei der jetzigen Begutachtung doch als recht beeinträchtigend geschildert wurde, der allerdings wiederum durch die Depression verstärkt wird, eine weitere wahrscheinliche Ursache der Depression sowie auch die vom Kläger hier nicht geschilderten, in den zur Verfügung stehenden medizinischen Unterlagen allerdings eindeutig immer wieder erwähnten erheblichen beruflichen Problemen, die dann ja auch - wahrscheinlich neben seinen gesundheitlichen Beschwerden - zu einer Kündigung führten. Auch die in den Unterlagen immer wieder beschriebenen und auch hier erwähnten rezidivierenden Beschwerden am Bewegungsapparat, insbesondere an der Wirbelsäule, können durchaus zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Symptomatik beitragen. Hinzu kommt, was die Entwicklung einer depressiven Störung angeht, nach heutigem Kenntnisstand wahrscheinlich auch noch eine individuelle Disposition. Auch werden die hier nicht näher zu erörternden Lebensumstände von Menschen mit Migrationshintergrund in der Literatur immer wieder für die Entstehung von Depressionen verantwortlich gemacht. Im konkreten Fall sei z.B. darauf verwiesen, dass der Kläger berichtete, sein Haus in Kroatien aus finanziellen Gründen nur zweimal im Jahr aufsuchen zu können.

Dementsprechend kommt der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. C. mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 22.10.2009 auch für den Erkennenden Senat schlüssig und überzeugend zu dem Ergebnis, dass der bescheidmäßig anerkannten Berufskrankheit in der Entstehung der auf nervenärztlichem Gebiet geltend gemachten Erkrankungen allenfalls eine untergeordnete Rolle zukommt. Sie war nicht wesentliche Bedingung für das Auftreten dieser Erkrankungen, insbesondere nicht für die depressive Störung.

Die gegenteiligen gutachterlichen Ausführungen der Dr. N. mit Gutachten vom 03.08.1998 und 14.03.2000 überzeugen nicht. Vor allem ist der ergänzenden Einschätzung der MdE auf HNO-ärztlichem Gebiet vom 14.03.2000 anzulasten, dass Dr. N. dort die MdE insgesamt mit 30 v.H. bewertet hat, ohne auf die Problematik der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit in Abgrenzung zu sonstigen schicksalshaften Veränderungen einzugehen. In dem HNO-ärztlichen Gutachten vom 03.08.1998 spiegelt sich zwar wider, dass Dr. N. nur den Hochtonverlust links mit Tinnitus links im Bereich des maximalen Hörverlustes mit einer hohen Wahrscheinlichkeit als lärmbedingt ansieht, die entsprechende Differenzierung fehlt jedoch bei der Einschätzung der MdE in der ergänzenden Stellungnahme vom 14.03.2000.

Insoweit hat Prof. Dr. K. in Ergänzung seines Gutachtens vom 26.06.2000 mit Stellungnahme vom 09.10.2000 zutreffend ausgeführt, es ist davon auszugehen, dass der Hörschaden, wie er sich anlässlich seiner Begutachtung darstellte, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lärmbedingt ist. Gleiches gilt für das Ohrgeräusch, welches seit 1995 an Intensität zugenommen hat, obwohl seit diesem Zeitpunkt keine gehörschädigende Lärmexposition mehr bestanden hat. Auch dieser Umstand ist ein Indiz für eine lärmunabhängige Hörschädigung.

Für den Senat ist auch das nervenärztliche Gutachten des Dr. S. vom 18.07.2008 nicht überzeugend gewesen. Denn Dr. S. hat die HNO-ärztliche Funktionsstörung insgesamt mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 bewertet. Die Depression mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sowie erheblichen sozialen Anpassungsstörungen ist mit einem GdB von 50 berücksichtigt worden. Insgesamt hat Dr. S. den Gesamt-GdB mit 60 angesetzt. - Sowohl die Wortwahl (GdB anstelle von MdE) als auch der Inhalt des nervenfachärztlichen Gutachtens des Dr. S. vom 18.07.2008 lässt erkennen, dass dieser kein "Unfallgutachten", sondern ein Gutachten nach dem Schwerbehindertenrecht (nunmehr: SGB IX) gefertigt hat. Die nach dem SGB IX geltenden Grundsätze (§ 69 Abs.1 SGB IX in Verbindung mit § 30 Abs.17 BVG und der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung) finden jedoch im Unfallrecht keine Anwendung.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13.01.2009 ist somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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