L 18 AS 1209/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 99 AS 29134/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1209/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Rechtsstreit ist erledigt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der 1974 geborene Kläger erhob am 01. September 2009 Klage gegen den Beklagten. Zur Be-gründung gab er an, dass er am 10. August 2009 einen Antrag auf Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt gestellt habe. Mit Gerichtsbescheid vom 05. Januar 2010 hat das Sozialgericht (SG) Berlin die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei unzulässig, da weder eine den Kläger belastende Entscheidung des Beklagten auf seinen Antrag vom 10. August 2009 ersichtlich noch erst Recht ein entsprechendes Widerspruchsverfahren durchge-führt worden seien. Darüber hinaus sei die Klage auch als Untätigkeitsklage im Sinne des § 88 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als unzulässig zu erachten, da die dort genannte Sechs-Monats-Frist noch nicht verstrichen sei.

Mit der Berufung hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und ausgeführt. Er habe am 18. März 2010 wieder falsche Stellenangebote bekommen. Das Verhalten des Beklagten zeige, dass dieser keine Lust habe, ihn in Arbeit zu bringen. Im Erörterungstermin vor dem Berichter-statter haben die Beteiligten am 30. Juni 2010 folgenden Vergleich geschlossen:

1. Der Beklagte wird den Antrag des Klägers auf Förderung durch einen Diabetikerschein unverzüglich bescheiden.

2. Der Kläger erklärt den Rechtsstreit für erledigt.

Mit dem am 01. Juli 2010 eingegangenen Schreiben vom 30. Juni 2010 hat der Kläger sodann vorgetragen, dass Verfahren sei nicht erledigt. Der Berichterstatter habe in der "mündlichen Verhandlung" zum Beklagten gehalten und er habe sich von ihm erpressen lassen müssen. Mit Bescheid vom 09. Juli 2010 verweigerte der Beklagte dem Kläger eine Kostenübernahme für eine Weiterbildung zum Diätkoch, weil dieser seiner Mitwirkungspflicht gemäß §§ 60, 66 So-zialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) nicht nachgekommen sei. Der Kläger habe zuletzt in einem persönlichen Gespräch am 08. Juli 2010 deutlich gemacht, dass er an dem erforderli-chen Ereignis zum Feststellungsverfahren nicht teilnehmen werde und ggf. notwendige Termi-ne beim psychiatrischen Dienst nicht wahrnehmen werde. Damit sei es nicht möglich festzu-stellen, ob er über die nötigen Eignungsvoraussetzungen für die berufliche Weiterbildung zum Diätkoch verfüge. Den hiergegen eingelegten Widerspruch hat der Beklagte mit Wider-spruchsbescheid vom 27. Juli 2010 zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 hat das SG Berlin den Antrag des Klägers auf Androhung eines Zwangsgeldes zwecks Umsetzung des Vergleiches vom 30. Juni 2010 mit der Begründung abgelehnt, der Beklagte sei seiner Verpflichtung aus dem Vergleich nachgekommen, in dem er den Antrag mit Versagungsbe-scheid vom 09. Juli 2010 abgelehnt habe.

Der Kläger trägt vor: Er habe immer noch keinen Diabetikerschein, obwohl es einen Vergleich gebe.

Der Kläger, der im Termin zur mündlichen Verhandlung keinen Sachantrag gestellt hat, bean-tragt im Übrigen,

Beweis zu erheben durch Vernehmung der Beschäftigten des Beklagten S und R zur Klärung "aller Punkte".

Der Beklagte beantragt,

festzustellen, dass der Rechtsstreit erledigt ist.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Gerichtsakte sowie die Akten - L 18 AS 1726/09 B ER - und - S 99 AS 29134/09 ER I (SG Berlin) - sowie die Leistungsakten des Beklagten (3 Bände) haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Der Rechtsstreit ist erledigt. Dem Senat ist daher eine inhaltliche Entscheidung über das bei verständiger Würdigung (vgl. § 123 SGG) erhobene Begehren des Klägers, den Beklagten zu bestimmten Eingliederungsmaßnahmen in den "ersten Arbeitsmarkt" zu verpflichten, wegen fehlender Rechtshängigkeit verwehrt. Dem gestellten Beweisantrag war daher ebenfalls nicht zu entsprechen.

Die Erledigung des Rechtsstreits ist aufgrund des am 30. Juni 2010 von den Verfahrensbetei-ligten zur Niederschrift des Gerichts geschlossenen Vergleichs eingetreten. Gemäß § 101 Abs. 1 SGG können die Beteiligten, um den geltend gemachten Anspruch vollständig oder zum Teil zu erledigen, zur Niederschrift des Gerichts einen Vergleich schließen, soweit sie über den Gegenstand der Klage verfügen können. Prozessvergleiche sind einerseits materiell-rechtliche Verträge, für die materielles Recht gilt, andererseits aber auch Prozesshandlungen der Beteilig-ten, die den Rechtsstreit unmittelbar beenden und deren Wirksamkeit sich nach den Grundsät-zen des Prozessrechts richtet. Der Rechtsstreit ist durch den Vergleich vom 30. Juni 2010, der den gesamten Streitgegenstand umfasste, erledigt und damit beendet worden.

Der Vergleich vom 30. Juni 2010 ist prozessrechtlich nicht zu beanstanden. Er ist im Erörte-rungstermin in Anwesenheit der Beteiligten des Rechtsstreits vor dem hierzu gemäß §§ 155 Abs. 1, § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG zuständigen Berichterstatter zur Niederschrift abgeschlossen worden (§ 101 Abs. 1 SGG). Aus der Niederschrift ergibt sich, dass der Vergleichswortlaut den Beteiligten vorgespielt und von diesen genehmigt worden ist. Die Niederschrift ist entspre-chend den gesetzlichen Vorschriften ausgefertigt und vom Berichterstatter sowie von der Ur-kundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben worden (§§ 122 SGG, 159, 160, 160a, 162 Zivilprozessordnung - ZPO). Bei Abgabe seiner Zustimmungserklärung zum Vergleich war der Kläger auch prozessfähig im Sinne des § 71 SGG. Allerdings ist eine Prozesshandlung, die in einem wegen einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand abgegeben wird, nichtig (BSG, Beschluss vom 15. November 2000 - B 13 RJ 53/00 - juris). Eine derartige Störung kann in Extremfällen bei Druck des Gerichts auf die Beteiligten angenommen werden (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 71 Rn. 6). Der Kläger behauptet zwar, er sei vom Berichterstatter "erpresst" worden. Dieses Vorbringen ist jedoch völlig unsubstanziiert. Er hat über keine Vorkommnisse in der Verhandlung berichtet, aus denen auf einen auf ihn ausgeübten Druck des Gerichts, den Ver-gleich zu schließen bzw. diesen zu genehmigen, geschlossen werden könnte. Auch das Proto-koll über den Erörterungstermin enthält keinen Hinweis darauf, dass auf den Kläger bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage und insbesondere beim Zustandekommen des Vergleichs Druck irgendwelcher Art ausgeübt worden wäre. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger auch diesbezüglich nichts mehr vorgetragen.

Der Vergleich vom 30. Juni 2010 verstößt weiterhin auch nicht gegen § 101 Abs. 1 SGG. Denn die Beteiligten konnten über den Gegenstand der Klage verfügen. Es handelte sich um eine vergleichsweise Beendigung des Verfahrens. Das gegenseitige Nachgeben ist darin zu sehen, dass sich der Beklagte zu einer Entscheidung des Antrags des Klägers auf einen "Diabetiker-schein" bereit erklärt und der Kläger im Gegenzug den Rechtsstreit für erledigt erklärt.

Der Vergleich ist schließlich auch nicht durch eine erfolgreiche Anfechtung wegen Irrtums unwirksam geworden. Ob die Prozesserklärungen, die ihn begründen, aus diesem Grund über-haupt angefochten werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Der materiell-rechtliche Vergleich kann grundsätzlich entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Anfechtung einer Willenserklärung mit Auswirkungen auf den gesamten Prozessvergleich beseitigt werden (BSG, Urteil vom 01. April 1981 - 9 RV 43/80 - SozVers 1981, 243 ff.). Eine Anfechtung nach § 123 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) kommt nicht in Betracht, denn es spricht nichts dafür, dass der Kläger zur Abgabe seiner Erklärung durch arglistige Täuschung oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden wäre. Im Übrigen sind auch nicht die Voraussetzungen für eine Irrtumsanfechtung nach § 119 Abs. 1 BGB erfüllt. Es ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger bei der Abgabe seiner Erklärung ein Irr-tum unterlaufen wäre. Er behauptet weder, dass er die Rechtsnatur eines Vergleiches nicht ge-kannt habe noch dass ihm die Rechtswirkung eines Vergleiches unbekannt gewesen sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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