Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 179 AS 2574/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 395/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Februar 2011 insoweit aufgehoben, als die Anträge des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgewiesen worden sind. Die aufschiebende Wirkung der Klagen des Antragstellers gegen die Bescheide vom 03. und 19. Januar 2011 in der Fassung des jeweiligen Widerspruchsbescheids vom 09. März 2011 sowie die Aufhebung der Vollziehung der zuvor genannten Bescheide wird angeordnet. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe:
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Beschluss vom 16. Februar 2011 den Antrag des Antragstellers (Ast) nach § 86b Abs 1 Satz 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Widersprüche gegen die Absenkungs- bzw Teilaufhebungsbescheide vom 03. und 19. Januar 2011 mit der Begründung abgelehnt, an der Rechtsmäßigkeit der (drei) angefochtenen Bescheide bestünden keine ernstlichen Zweifel. Nach Einlegung der Beschwerde gegen diese Entscheidung sind die Widersprüche gegen die genannten Bescheide mit (drei) Widerspruchsbescheiden vom 09. März 2011 zurückgewiesen worden.
Die Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und in der Weise begründet, dass die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die genannten drei Absenkungs- bzw Teilaufhebungsbescheide in der Fassung des jeweiligen Widerspruchsbescheids vom 09. März 2011 anzuordnen war. Denn anders als das SG hat der Senat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Bescheide.
Dabei kann offen bleiben, ob bereits die vom Ast in diesem Eilverfahren eingereichten ärztlichen bzw psychotherapeutischen Bescheinigungen solche Zweifel begründen. Ebenso kann dahin stehen, ob der Ast hier vorab über die Rechtsfolgen der den Sanktionsentscheidungen zugrunde liegenden Pflichtverletzungen hinreichend belehrt worden ist (vgl zu den nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bestehenden strengen Anforderungen an die Rechtsfolgenbelehrungen zuletzt Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 15. Dezember 2010 – B 14 AS 92/09 R, juris, mwNachw; beiden Gesichtspunkten wird ggfs in den Klageverfahren noch näher nachzugehen sein).
Denn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit sämtlicher angefochtener Bescheide bestehen bereits insoweit, als zwischen Sanktionsanlass und Bescheiderlass jeweils mehr als drei Monate liegen. Nach Sinn und Zweck von § 31 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), auf den Leistungsberechtigten im Sinne des Forderungsgrundsatzes (vgl § 2 SGB II) motivierend einzuwirken, muss die Sanktionsentscheidung dem Pflichtverstoß kurzfristig nachfolgen. Darin besteht in Rechtsprechung und Schrifttum Einigkeit; zum Teil wird vertreten, die Behörde müsse die Absenkung unverzüglich im Sinne des § 121 Abs 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch treffen, dh ohne schuldhaftes Zögern (SG Berlin, Beschluss vom 07. März 2006 – S 103 AS 68/06 ER, juris). Da bereits ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidung die Anordnung der aufschiebenden Wirkung begründen, bedarf es hier keiner abschließenden Konkretisierung der behördlichen Reaktionsfrist, die angesichts des insoweit unergiebigen Gesetzestextes vornehmlich auf Zielrichtung und Wirksamkeit abzustellen hätte. Im einstweiligen Rechtschutz legt der Senat die verbreitete und überzeugende Ansicht zugrunde, dass eine Frist von drei Monaten sachgerecht ist (vgl Berlit LPK-SGB II, 3. Aufl, § 31 RdNr 151; Rixen in Eicher/Spellbrink, 2. Aufl, § 31 RdNr 60, jeweils mwNachw aus der Rechtsprechung; in diese Richtung auch bereits Senatsbeschluss vom 20. Februar 2008 – L 10 B 193/08 AS ER). Ob diese oder eine ähnliche Frist allgemein gelten kann oder von Besonderheiten des Einzelfalles (mit-)bestimmt wird (etwa bzgl der Absehbarkeit/Ermittlungsnotwendigkeiten etc), bedarf hier ebenfalls keiner Erörterung, da keine Sachverhaltselemente ersichtlich sind, deren Würdigung sich in diesem Zusammenhang aufdrängt.
Hier sind die Sanktionsentscheidungen jeweils (zum Teil deutlich) nach den dem Ast vorgehaltenen Pflichtverstößen ergangen: Die mit Bescheid vom 03. Januar 2011 getroffene Sanktionsentscheidung knüpft daran an, dass sich der Ast nicht - wie im Vermittlungsvorschlag vom 31. August 2010 gefordert - umgehend bei der Fa W P-S Büro und T GmbH beworben habe. Mit dem weiteren Sanktionsbescheid vom 19. Januar 2011 reagierte der Antragsgegner darauf, dass der Ast von vornherein nicht seiner Verpflichtung aus der Eingliederungsvereinbarung vom 31. August 2010 nachgekommen sei, im Turnus von einem Monat (beginnend mit dem Datum der Unterzeichnung) jeweils mindestens fünf Bewerbungsbemühungen zu unternehmen und im Anschluss nachzuweisen. Der weitere Sanktionsbescheid vom selben Tag wurde schließlich damit begründet, dass der Ast zum Meldetermin am 11. Oktober 2010 ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei.
Die Entscheidungszeitpunkte und die daraus folgende Überlagerung der Sanktionszeiträume stellen die Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidungen unter einem weiteren Gesichtspunkt in Frage. Sanktionen nach § 31 SGB II werden nicht als Strafe für die Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten verhängt, sondern dienen dazu, Verhaltensänderungen für die Zukunft zu erreichen, indem aufgezeigt wird, dass die Pflicht- bzw Obliegenheitsverletzungen nicht folgenlos bleiben (vgl Beschluss des Senats vom 12. Mai 2006 – L 10 B 191/06 AS ER, juris und Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 31 Rdnr 9, 15). Dieser Zweck wird hier entscheidend verfehlt und damit die Verhältnismäßigkeit der Absenkungsentscheidungen in Frage gestellt, da sie in der Weise "geballt" sind, dass der Adressat seine Bereitschaft zur Verhaltensänderung – so sie denn besteht – nicht verdeutlichen kann. Die gravierenden Folgen der Absenkung einer existenzsichernden Leistung für die Dauer von drei Monaten – hier letztlich um 80 vH der Regelleistung – erfordern eine eher restriktive Handhabung der Vorschrift, an der es hier mangelt.
Im Hinblick auf die mehrfachen Kürzungen der Regelleistung des Ast und die besondere Bedeutung dieser Leistung zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz (vgl Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - BvR 569/05) kann dem Ast das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden; daher war gemäß § 86b Abs 1 Satz 2 SGG auch die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung der angefochtenen Bescheides anzuordnen. Bei Ausführung der angeordneten Vollziehungsaufhebung wird der Antragsgegner evtl erbrachte Sachleistungen (zB dem Ast ausgestellte und von diesem eingelöste Lebensmittelgutscheine) anzurechnen haben, sofern diese noch nicht auf andere Teile des Arbeitslosengeld II-Anspruches angerechnet worden sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwen¬dung des § 193 SGG. Da der Antragsgegner die außergerichtlichen Kosten des Ast zu erstatten hat, erübrigt sich eine Entscheidung über seinen Antrag, ihm Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen.
Diese Entscheidungen sind nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Beschluss vom 16. Februar 2011 den Antrag des Antragstellers (Ast) nach § 86b Abs 1 Satz 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Widersprüche gegen die Absenkungs- bzw Teilaufhebungsbescheide vom 03. und 19. Januar 2011 mit der Begründung abgelehnt, an der Rechtsmäßigkeit der (drei) angefochtenen Bescheide bestünden keine ernstlichen Zweifel. Nach Einlegung der Beschwerde gegen diese Entscheidung sind die Widersprüche gegen die genannten Bescheide mit (drei) Widerspruchsbescheiden vom 09. März 2011 zurückgewiesen worden.
Die Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und in der Weise begründet, dass die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die genannten drei Absenkungs- bzw Teilaufhebungsbescheide in der Fassung des jeweiligen Widerspruchsbescheids vom 09. März 2011 anzuordnen war. Denn anders als das SG hat der Senat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Bescheide.
Dabei kann offen bleiben, ob bereits die vom Ast in diesem Eilverfahren eingereichten ärztlichen bzw psychotherapeutischen Bescheinigungen solche Zweifel begründen. Ebenso kann dahin stehen, ob der Ast hier vorab über die Rechtsfolgen der den Sanktionsentscheidungen zugrunde liegenden Pflichtverletzungen hinreichend belehrt worden ist (vgl zu den nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bestehenden strengen Anforderungen an die Rechtsfolgenbelehrungen zuletzt Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 15. Dezember 2010 – B 14 AS 92/09 R, juris, mwNachw; beiden Gesichtspunkten wird ggfs in den Klageverfahren noch näher nachzugehen sein).
Denn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit sämtlicher angefochtener Bescheide bestehen bereits insoweit, als zwischen Sanktionsanlass und Bescheiderlass jeweils mehr als drei Monate liegen. Nach Sinn und Zweck von § 31 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), auf den Leistungsberechtigten im Sinne des Forderungsgrundsatzes (vgl § 2 SGB II) motivierend einzuwirken, muss die Sanktionsentscheidung dem Pflichtverstoß kurzfristig nachfolgen. Darin besteht in Rechtsprechung und Schrifttum Einigkeit; zum Teil wird vertreten, die Behörde müsse die Absenkung unverzüglich im Sinne des § 121 Abs 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch treffen, dh ohne schuldhaftes Zögern (SG Berlin, Beschluss vom 07. März 2006 – S 103 AS 68/06 ER, juris). Da bereits ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidung die Anordnung der aufschiebenden Wirkung begründen, bedarf es hier keiner abschließenden Konkretisierung der behördlichen Reaktionsfrist, die angesichts des insoweit unergiebigen Gesetzestextes vornehmlich auf Zielrichtung und Wirksamkeit abzustellen hätte. Im einstweiligen Rechtschutz legt der Senat die verbreitete und überzeugende Ansicht zugrunde, dass eine Frist von drei Monaten sachgerecht ist (vgl Berlit LPK-SGB II, 3. Aufl, § 31 RdNr 151; Rixen in Eicher/Spellbrink, 2. Aufl, § 31 RdNr 60, jeweils mwNachw aus der Rechtsprechung; in diese Richtung auch bereits Senatsbeschluss vom 20. Februar 2008 – L 10 B 193/08 AS ER). Ob diese oder eine ähnliche Frist allgemein gelten kann oder von Besonderheiten des Einzelfalles (mit-)bestimmt wird (etwa bzgl der Absehbarkeit/Ermittlungsnotwendigkeiten etc), bedarf hier ebenfalls keiner Erörterung, da keine Sachverhaltselemente ersichtlich sind, deren Würdigung sich in diesem Zusammenhang aufdrängt.
Hier sind die Sanktionsentscheidungen jeweils (zum Teil deutlich) nach den dem Ast vorgehaltenen Pflichtverstößen ergangen: Die mit Bescheid vom 03. Januar 2011 getroffene Sanktionsentscheidung knüpft daran an, dass sich der Ast nicht - wie im Vermittlungsvorschlag vom 31. August 2010 gefordert - umgehend bei der Fa W P-S Büro und T GmbH beworben habe. Mit dem weiteren Sanktionsbescheid vom 19. Januar 2011 reagierte der Antragsgegner darauf, dass der Ast von vornherein nicht seiner Verpflichtung aus der Eingliederungsvereinbarung vom 31. August 2010 nachgekommen sei, im Turnus von einem Monat (beginnend mit dem Datum der Unterzeichnung) jeweils mindestens fünf Bewerbungsbemühungen zu unternehmen und im Anschluss nachzuweisen. Der weitere Sanktionsbescheid vom selben Tag wurde schließlich damit begründet, dass der Ast zum Meldetermin am 11. Oktober 2010 ohne wichtigen Grund nicht erschienen sei.
Die Entscheidungszeitpunkte und die daraus folgende Überlagerung der Sanktionszeiträume stellen die Rechtmäßigkeit der Sanktionsentscheidungen unter einem weiteren Gesichtspunkt in Frage. Sanktionen nach § 31 SGB II werden nicht als Strafe für die Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten verhängt, sondern dienen dazu, Verhaltensänderungen für die Zukunft zu erreichen, indem aufgezeigt wird, dass die Pflicht- bzw Obliegenheitsverletzungen nicht folgenlos bleiben (vgl Beschluss des Senats vom 12. Mai 2006 – L 10 B 191/06 AS ER, juris und Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 31 Rdnr 9, 15). Dieser Zweck wird hier entscheidend verfehlt und damit die Verhältnismäßigkeit der Absenkungsentscheidungen in Frage gestellt, da sie in der Weise "geballt" sind, dass der Adressat seine Bereitschaft zur Verhaltensänderung – so sie denn besteht – nicht verdeutlichen kann. Die gravierenden Folgen der Absenkung einer existenzsichernden Leistung für die Dauer von drei Monaten – hier letztlich um 80 vH der Regelleistung – erfordern eine eher restriktive Handhabung der Vorschrift, an der es hier mangelt.
Im Hinblick auf die mehrfachen Kürzungen der Regelleistung des Ast und die besondere Bedeutung dieser Leistung zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz (vgl Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - BvR 569/05) kann dem Ast das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden; daher war gemäß § 86b Abs 1 Satz 2 SGG auch die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung der angefochtenen Bescheides anzuordnen. Bei Ausführung der angeordneten Vollziehungsaufhebung wird der Antragsgegner evtl erbrachte Sachleistungen (zB dem Ast ausgestellte und von diesem eingelöste Lebensmittelgutscheine) anzurechnen haben, sofern diese noch nicht auf andere Teile des Arbeitslosengeld II-Anspruches angerechnet worden sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwen¬dung des § 193 SGG. Da der Antragsgegner die außergerichtlichen Kosten des Ast zu erstatten hat, erübrigt sich eine Entscheidung über seinen Antrag, ihm Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen.
Diese Entscheidungen sind nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
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