L 8 SB 3127/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 589/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 3127/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. April 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist noch streitig, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches G (erhebliche Gehbehinderung) vorliegen.

Bei dem am 1935 geborenen Kläger stellte das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg mit Widerspruchsbescheid vom 15.05.2002 unter Berücksichtigung einer geistigen Behinderung und einer seelischen Störung (Teil-GdB 30), einer beidseitigen Schwerhörigkeit (Teil-GdB 30) sowie mehrerer weiterer, mit einem GdB von 20 und 10 bewerteten Funktionsstörungen einen GdB von insgesamt 60 seit 07.02.2002 fest. Nachteilsausgleiche wurden nicht festgestellt. Die vom Kläger zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobene Klage (S 16 SB 2198/02), mit der er einen GdB von mindestens 70 geltend machte, nahm er zurück.

Den vom Kläger im Januar 2005 gestellten Erhöhungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21.04.2005 und Widerspruchsbescheid vom 22.06.2005 ab.

Am 13.07.2005 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt S. die Feststellung des Nachteilsausgleiches G. Am 26.08.2005 beantragte er neben der Feststellung des Nachteilsausgleiches G auch die Erhöhung des GdB und gab an, seine Funktionsstörungen hätten sich verschlimmert und neue seien hinzugetreten. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme zu den aktenkundig gewordenen ärztlichen Unterlagen lehnte das Landratsamt B. (LRA) den Neufeststellungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 28.09.2005 ab. Die Voraussetzungen für eine Erhöhung des GdB lägen nicht vor. Auch die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G könnten nicht festgestellt werden.

Dagegen legte der Kläger am 13.10.2005 Widerspruch ein und machte einen höheren GdB sowie den Nachteilsausgleich G geltend. Er legte hierzu weitere ärztliche Unterlagen sowie eine Liste der ihn behandelnden Ärzte vor und verwies darauf, dass er mittlerweile von 86 Ärzten behandelt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 16.01.2006 wies das Regierungspräsidium S. - Landesversorgungsamt - den Widerspruch des Klägers zurück.

Am 25.01.2006 erhob der Kläger Klage zum SG und machte einen GdB von mehr als 60 sowie den Nachteilsausgleich G geltend. Nach den dem Beklagten vorgelegenen Befundberichten sei ein GdB von mehr als 60 gerechtfertigt. Zudem sei die bei ihm vorliegende Persönlichkeitsstörung nicht berücksichtigt worden. Der Kläger legte hierzu die Untersuchungsberichte des Nervenarztes Dr. Di. vom 03.02.2006 und des Orthopäden Dr. W. vom 11.07.2006 vor. Ferner machte er geltend, aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme im Bereich der Wirbelsäule und seines rechten Fußes und beider Hüftgelenke sei es ihm nur mit erheblichen Schwierigkeiten und nur mit Gefahren für sich oder andere möglich, Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Auch sei zu prüfen, inwieweit seine geistige Behinderung und seine Persönlichkeitsstörung ihn in dem für diesen Nachteilsausgleich erforderlichem Ausmaß beeinträchtigen.

Der Beklagte unterbreitete unter Berücksichtigung der vom Kläger zusätzlich vorgelegten Untersuchungsberichte des Chirurgen Dr. Ze. (ohne Datum) und des Orthopäden Dr. P. vom 27.07.2006 am 09.10.2006 ein Vergleichsangebot (GdB 70 ab 26.08.2005), das der Kläger nicht annahm. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Wo. vom 05.10.2006 war eine mit einem GdB von 30 zu bewertende Nierenfunktionseinschränkung als weitere Funktionsstörung angenommen worden.

Das SG hörte zunächst den Orthopäden Dr. Ri. (Angaben vom 12.03.2007), den Orthopäden Dr. Be. (Angaben vom 16.03.2007), den Internisten Dr. T. vom Nierenzentrum S. (Angaben vom 12.03.2007) und Dr. W. (Angaben vom 21.05.2007) schriftlich als sachverständige Zeugen. Dr. Ri. äußerte sich dahingehend, dass der Kläger übliche Wegstrecken innerorts - soweit ihm bekannt sei - noch zu Fuß zurücklegen könne. Der mit der Erstattung eines nervenärztlichen Gutachtens beauftragte Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. Fr. diagnostizierte in seinem Gutachten vom 16.05.2007 eine leichte geistige Behinderung bzw. eine leichte Intelligenzminderung. Soweit der Beklagte eine seelische Störung und funktionelle Organbeschwerden angenommen habe, hielt der Sachverständige dies nicht für nachvollziehbar. Er nahm einen GdB von 80 an, hielt das Gehvermögen des Klägers aber nur für geringfügig beeinträchtigt. Der Kläger bewege sich kurzschrittig fort und bediene sich dabei seit Jahren einer Gehhilfe, auf die er wahrscheinlich nur aus Furcht nicht verzichte. Die Gehstörung erkläre sich überwiegend durch einen nachgewiesenen Fersensporn und in zweiter Linie durch eine ödömatöse Schwellung der Fußrücken.

Das sich hieran anschließende Vergleichsangebot des Beklagten vom 17.09.2007 (GdB 80 seit 26.08.2005, kein G) - die geistige Behinderung bewertete der Beklagte nun mit einem GdB von 40 - nahm der Kläger als Teilanerkenntnis hinsichtlich der Höhe des GdB an. Am 13.03.2008 erließ der Beklagte den entsprechenden Ausführungsbescheid. Folgende Funktionsstörungen wurden berücksichtigt:

1. Geistige Behinderung Teil-GdB 40 2. Schwerhörigkeit Teil-GdB 30 3. Diabetes mellitus (mit Diät und Insulin einstellbar) Teil-GdB 30 4. Nierenfunktionseinschränkung Teil-GdB 30 5. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom, Nervenwurzelreizerscheinungen Teil-GdB 20 6. Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Gebrauchseinschränk- ung des rechten Fußes, Polyneuropathie, Pilzerkrankung der Haut und Nägel Teil-GdB 20 7. Stimmbandlähmung links Teil-GdB 20.

An der auf die Feststellung des Nachteilsausgleiches G gerichteten Klage hielt der Kläger fest. Er legte eine Vielzahl weiterer ärztlicher Unterlagen vor, insbesondere die Berichte des Orthopäden Dr. Zu. vom 25.10.2007 und 09.06.2008, die Verordnung von Doppelstöcken vom 20.11.2007 durch den Arzt für Allgemeinmedizin Dr. Br. wegen einer Gelenkfunktionsstörung und von Einlagen vom 10.07.2008 (Diagnose: Senkfuß beidseitig), des Orthopäden Dr. Fl. vom 31.03.2008 (Diagnose: Degeneratives Lumbalsyndrom + G) und vom 30.06.2008 (Diagnosen: Wadenschmerzen + BG, degeneratives Lumbalsyndrom + G) mit der anamnestischen Angabe, dass der Kläger maximal noch 1,5 km in 30 Minuten gehen könne, die Verordnung von Krankengymnastik und Elektrotherapie wegen Gelenkfunktionsstörungen, Bewegungsstörungen und Kontrakturen durch den Orthopäden Dr. A. vom 25.06.2008, des Radiologen Dr. G. vom 28.07.2008 (Diagnosen angedeuteter plantarer Fersensporn beidseits und diskrete bis mittelschwere obere Sprunggelenksarthrose sowie Großzehengrundgelenksarthrose beidseits) und 24.03.2009, des Orthopäden Dr. K. vom 01.09.2008, des Gefäßchirurgen Dr. Ma. vom 03.09.2008 (Anamnese: Schmerzen in beiden Füßen im Stehen und beim Laufen, keine Claudicatiobeschwerden), von Dr. Ze. vom 09.09.2008, des Chirurgen Dr. Mar. vom 16.09.2008, von Dr. Di. vom 23.09.2008 (Diagnose: Neuropathie mit nur geringgradig auslösbaren PSR und entsprechender Sensibilitätsstörung), des Nierenzentrums M. in S. vom 17.09.2008, der Gefäßchirurgin Dr. P. vom 24.11.2008 (Diagnose: Arterielle Verschlusskrankheit, Stammvarikose der Vena Saphena magna beiderseits, Therapie: ... AVK ausgeschlossen), des Orthopäden Dr. M. vom 10.11.2008, des Chirurgen Dr. La. vom 28.10.2008 (Diagnosen: Diabetes mellitus, Durchblutungsstörung beider Beine), des Orthopäden Dr. Be. vom 06.11.2008, der Fachärztin für Neurologie S.-K. vom 23.03.2009 sowie des Orthopäden Dr. F. vom 10.03.2009.

Mit Urteil vom 16.04.2009 wies das SG die Klage ab. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G lägen beim Kläger nicht vor. Die Beeinträchtigungen orthopädischer Art (Wirbelsäule, Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Gebrauchseinschränkung des rechten Fußes) rechtfertigten die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G nicht. Dies gelte auch für die beim Kläger vorliegenden inneren Leiden. Eine Störung der Orientierungsfähigkeit wegen seiner mit einem GdB von 40 bewerteten geistigen Behinderung sei im Hinblick auf die insoweit geltenden Bewertungsgrundsätze, die in der Regel einen GdB von 80 oder 90 erforderten, zu verneinen. Eine arterielle Verschlusskrankheit im hierfür erforderlichen Ausmaß liege ebenfalls nicht vor.

Gegen das ihm am 26.06.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 09.07.2009 Berufung eingelegt, mit der er an seinem Ziel festhält. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G seien bei ihm erfüllt. Auch bei einer einen GdB von 40 bedingenden arteriellen Verschlusskrankheit seien die erforderlichen Voraussetzungen als erfüllt anzusehen. Angesichts des Attestes von Dr. Fl. vom 30.06.2008 und des nur unvollständig zur Akte gelangten Attestes von Dr. Ma. vom 03.09.2008 hätte sich das SG veranlasst sehen müssen, eine internistisch-gefäßchirurgische Begutachtung zu veranlassen, da eine Claudicatio intermitens eine Störung der arteriellen Durchblutung der Extremitäten darstelle, zumal im Bericht von Dr. P. vom 24.11.2008 bei gleichzeitiger Nennung der arteriellen Verschlusskrankheit als Diagnose eine solche Erkrankung ausgeschlossen worden sei. Diese einander widersprechenden Beurteilungen hätten das SG zu weiteren Ermittlungen veranlassen müssen. Zudem habe Dr. Fl. anamnestisch angegeben, dass er maximal noch 1,5 km in 30 Minuten gehen könne. Arterielle Verschlusskrankheiten mit eingeschränkter Restdurchblutung seien bei Vorliegen der entsprechenden gesundheitlichen Voraussetzungen mit einem GdB von 40 zu bewerten und könnten somit zur Anerkennung des Nachteilsausgleichs G führen. Im Übrigen führten die bei ihm vorliegenden Funktionsbehinderungen beider Hüftgelenke, die Gebrauchseinschränkung des rechten Fußes etc. im Zusammenspiel mit den von Dr. Fl. und Dr. P. genannten Beschwerden zur Erfüllung der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G. Der Kläger legt eine Reihe weiterer ärztlicher Unterlagen vor, insbesondere den Untersuchungsbericht des Orthopäden Dr. Ha. vom 06.07.2009 (Befund: Linke Ferse: Druckschmerz am calcanearen Ansatz der Plantafaszie), den fachärztlichen Kurzbefund des Orthopäden Dr. Ge. vom 24.07.2009 (Angaben des Klägers: Rechtsseitige Sprunggelenksbeschwerden), des Orthopäden Dr. M. vom 19.11.2009 (Diagnosen: Degeneratives LWS-Syndrom, Senkspreizfuß mit Überlastungssyndrom erster Strahl beidseitig, unklare Muskelkrämpfe beiderseits), des Orthopäden Dr. Fl. vom 21.12.2009 (Diagnosen: Wadenschmerzen + BG, Therapie: Ausschluss pAVK, Einlagenversorgung vorhanden, keine weitere Abklärung notwendig, Wechselbäder der Füße), die die Lendenwirbelsäule und das Becken betreffenden Röntgenaufnahmen von Dr. S. vom 18.01.2010 und den Untersuchungsbericht von Dr. Zu. vom 29.04.2010 (Diagnosen: Zeitweilige Belastungsbeschwerden der Kniegelenke bei bekannter Retropatellararthrose, statische Wirbelsäulenbeschwerden bei muskulärer Insuffizienz).

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. April 2009 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 28. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2006 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, den Nachteilsausgleich G ab 13. Juli 2005 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G könnten auch nicht aus den vom Kläger vorgelegten weiteren ärztlichen Unterlagen abgeleitet werden. Als weitere Funktionsstörung ohne Einfluss auf die Höhe des Gesamt-GdB sei eine Sehminderung, eingepflanzte Kunstlinse (GdB 20) anzunehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz und die Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist - soweit noch streitbefangen - rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs G.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 28.09.2005 (Widerspruchsbescheid vom 16.01.2006), mit dem der Beklagte u.a. die Feststellung des Nachteilsausgleichs G abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger und macht geltend, dass die für diesen Nachteilsausgleich erforderlichen gesundheitlichen Voraussetzungen bei ihm vorlägen, während der Beklagte die Auffassung vertritt, dass dem Kläger dieser Nachteilsausgleich nicht zusteht.

Gemäß § 145 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG in SozR 3870 § 60 SchwbG Nr. 2; BSG Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVS 1/96 = SozR 3 - 3870 § 60 Nr. 2) gelten als Wegstrecken, welche im Ortsverkehr - ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall - üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, solche von maximal 2 km bei einer Gehdauer von etwa 30 Minuten.

Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). Die AHP besaßen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhten. Sie waren vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirkten, und deshalb normähnliche Auswirkungen hatten. Auch waren sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (vgl. BSGE 72, 285, 286; BSG SozR 3-3870 a.a.O.).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB.

Allerdings kann sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" nicht auf die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich G sind damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil des Senats vom 23.07.2010 - L 8 SB 3119/08 - vom 14.08.2009 - L 8 SB 1691/08 -, beide veröff. in juris und www.Sozialgerichtsbarkeit.de). Rechtsgrundlage sind daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.

Bei Anwendung dieser Maßstäbe steht für den Senat fest, dass beim Kläger keine erhebliche Beeinträchtigung seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX vorliegt. Die hierfür in erster Linie in Betracht zu ziehenden Funktionsstörungen des Klägers (Wirbelsäulenleiden, Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Gebrauchseinschränkung des rechten Fußes, Polyneuropathie) reichen sowohl jeweils für sich genommen als auch in ihrem Zusammenwirken nicht aus, um die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G als erfüllt ansehen zu können.

Die das Gehvermögen des Klägers beeinträchtigenden Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Gebiet haben nicht das für den Nachteilsausgleich G erforderliche Ausmaß. Die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, die Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke und die Gebrauchseinschränkung des rechten Fußes sind lediglich leichterer Natur, was auch durch die Bewertung dieser Funktionsstörungen (unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Schulter-Arm-Syndroms und Nervenwurzelreizerscheinungen bzw. einer Polyneuropathie und einer Pilzerkrankung der Haut und Nägel) mit einem GdB von jeweils lediglich 20 deutlich zum Ausdruck kommt. Im Übrigen wurde ein GdB von wenigstens 50 für die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, bei denen nach den entsprechenden, bis 31.12.2008 geltenden Beurteilungsgrundsätzen der AHP (vgl. Nr. 30 Abs. 3) der Nachteilsausgleich G regelhaft anzunehmen wäre (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 7/06 R -), mithin bei Weitem nicht erreicht. Diese Einschätzung wird auch durch die vom Kläger im Laufe des Verfahrens vorgelegten Berichte der ihn untersuchenden Orthopäden bestätigt. Weder einzeln noch in ihrem Zusammenwirken bewirken die Gesundheitsstörungen eine erkennbar erhebliche Bewegungseinschränkung. Während Dr. Fl. in seinem Bericht vom 31.03.2008 von einem degenerativen Lumbalsyndrom spricht und Dr. M. in seinem Bericht vom 19.11.2009 ein degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom diagnostiziert, hat Dr. Zu. im neuesten Bericht vom 29.04.2010 lediglich statische Wirbelsäulenbeschwerden bei muskulärer Insuffizienz diagnostiziert. Die mit diesen Gesundheitsstörungen verbundenen Beeinträchtigungen vermögen das Gehvermögen des Klägers nicht wesentlich einzuschränken. Dies gilt auch für die Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, die trotz der Vielzahl der vom Kläger vorgelegten orthopädischen Berichte nur am Rande erwähnt ist, und die Gebrauchseinschränkung des rechten Fußes, deren Berücksichtigung auf den Angaben der Orthopädin Dr. B. vom 01.03.2005 gegenüber dem LRA über noch bestehende Beschwerden nach einer Matatarsale II-Basisfraktur beruht, von denen in den neueren ärztlichen Berichten aber nicht mehr die Rede ist. Die vom Kläger gegenüber Dr. Ge. (Kurzbefund vom 24.07.2009) angegebenen rechtsseitigen Sprunggelenksbeschwerden und die nach dem Bericht von Dr. Zu. vom 29.04.2010 nur zeitweilig bestehenden Belastungsbeschwerden der Kniegelenke bei bekannter Retropatellararthrose sind ebenfalls nicht geeignet, eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr zu begründen.

Eine arterielle Verschlusskrankheit, die der Kläger in den Vordergrund seiner Berufungsbegründung gerückt hat, liegt bei ihm nicht vor. Der Orthopäde Dr. Fl. hat in seinem Bericht vom 21.12.2009 eine pAVK ausgeschlossen und eine weitere Abklärung nicht für notwendig erachtet. Die Gefäßchirurgin Dr. P. hatte in ihrem Bericht vom 24.11.2008 eine arterielle Verschlusskrankheit zwar als Diagnose genannt, eine AVK in diesem Bericht unter der Rubrik Therapie aber ausgeschlossen. Für den Senat steht damit fest, dass der Kläger nicht an einer solchen Erkrankung leidet. Die vom Kläger gegenüber dem Gefäßchirurgen Dr. Ma. laut dessen Bericht vom 03.09.2008 angegebenen Schmerzen in beiden Füßen im Stehen und beim Laufen, ohne dass Claudicatiobeschwerden bestünden, werden durch die vom Chirurgen Dr. La. in seinem Bericht vom 28.10.2008 diagnostizierte Durchblutungsstörung beider Beine erklärt. Ein (zeitweiliger) Gefäßverschluss ergibt sich daraus aber nicht.

Hinzu kommt noch ein Fersensporn, der aber das Gehvermögen des Klägers auch nur leicht beeinträchtigt. Der Senat stützt sich insoweit auf die Beurteilung von Dr. Fr. in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 16.05.2007, der dem Kläger eine nur geringfügige Beeinträchtigung des Gehvermögens durch den Fersensporn und eine ödömatöse Schwellung der Fußrücken bescheinigt hat. Ferner ist zu berücksichtigen, dass der vom SG als sachverständiger Zeuge gehörte Orthopäde Dr. Ri. angegeben hat, dass der Kläger übliche Wegstrecken innerorts - soweit ihm bekannt sei - noch zu Fuß zurücklegen könne. Soweit Dr. Fl. im Untersuchungsbericht vom 30.06.2008 angegeben hat, der Kläger könne maximal noch 1,5 km in 30 Minuten gehen, handelt es sich im Unterschied zu den Beurteilungen von Dr. Fr. und Dr. Ri. nicht um eine eigene fachärztliche Beurteilung von Dr. Fl. , sondern nur um eine anamnestische Angabe des Klägers selbst. Dieser eigenen Einschätzung des Klägers folgt der Senat nicht, zumal die von Dr. Fl. in diesem Bericht gestellten Diagnosen (Wadenschmerzen und degeneratives Lumbalsyndrom) eine Einschränkung des Gehvermögens auf 1,5 km in 30 Minuten nicht zu erklären vermögen.

Als weitere Funktionsstörung, die auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen kann, ist die geistige Behinderung zu nennen, die vom Beklagten mit einem GdB von 40 bewertet wird. Zwar kann nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht nur die Einschränkung des Gehvermögens, sondern auch eine Störung der Orientierungsfähigkeit eine Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr darstellen und somit den Nachteilsausgleich G begründen. Der vom SG gehörte Sachverständige Dr. Fr. hat beim Kläger aber nur eine leichte geistige Behinderung bzw. eine leichte Intelligenzminderung diagnostiziert. Störungen der Orientierungsfähigkeit, die dazu führen, dass der Kläger nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, sind damit ersichtlich jedoch nicht verbunden. Auch die mit einem GdB von 30 bewertete Schwerhörigkeit des Klägers stellt sowohl allein als auch in Kombination mit der geistigen Behinderung keine Störung der Orientierungsfähigkeit im erforderlichen Ausmaß dar. Bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. Fr. ist eine Schwerhörigkeit während der Exploration nicht aufgefallen und ließ sich vom Sachverständigen mit herkömmlichen Mitteln nicht objektivieren. Zu dieser Untersuchung gelangte der Kläger zu Fuß ohne Begleitperson mit öffentlichen Verkehrsmitteln, was seine noch ausreichende Bewegungsfähigkeit unterstreicht.

Die Berufung ist somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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