Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 193/05
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 93/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Unter Aufhebung des Bescheides vom 16.03.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.08.2005 wird die Beklagte verurteilt, bei dem Kläger als weitere Unfallfolge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 eine Hepatitis C anzuerkennen und dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. ab Mai 2003 zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten wegen der Anerkennung einer Hepatitis C als Spätfolge eines Arbeitsunfalls und Gewährung von Verletztenrente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der 1934 geborene Kläger erlitt am 25.07.1962 auf einer Baustelle einen bei der Beklagten versicherten schweren Arbeitsunfall mit Verletzung der rechten Schulter und erheblichem Blutverlust. Bei der damals sofort durchgeführten Operation wurden mehrere Bluttransfusionen durchgeführt. Mit Bescheid vom 19.11.1963 gewährte die Beklagte dem Kläger zunächst vorläufig Verletztenrente nach einer MdE von 40 v H., seit 01.11.1963 bezieht er Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 30 v. H. Einen weiteren Arbeitsunfall erlitt er am 16.06.1967, hier ist die Unfallkasse Hessen zuständiger Unfallversicherungsträger.
Ungefähr seit dem Jahr 1980 wurde bei ihm mehrmals eine deutliche Erhöhung der Leberwerte diagnostiziert. Im März 2003 gelang den behandelnden Ärzten sodann die Diagnose einer Hepatitis C. Über seinen behandelnden Internisten C. stellte er am 06. Mai 2003 einen Antrag auf Anerkennung der Hepatitis C als Spätfolge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962, der behandelnde Internist begründete dies damit, dass mit Wahrscheinlichkeit die Bluttransfusionen zur Erkrankung geführt hätten. Die Beklagte zog daraufhin Krankenunterlagen bei und legte diese ihrem Beratungsarzt Dr. D. vor. Dr. D. führte in seiner Stellungnahme vom 07.05.2004 aus, dass die häufigste Übertragungsursache der Hepatitis-C–Virusinfektion (HCH) bis zur Einführung der generellen Untersuchung von Blutspendern Mitte der 90er Jahre die Verabreichung von Blut und Blutprodukten gewesen sei. Viele ältere Patienten seien in früheren Jahren bei der Durchführung von großen Operationen so infiziert worden. Nach derzeitigem Aktenstand sei allerdings unklar, ob bei dem Versicherten während des stationären Aufenthaltes in 1962 überhaupt einmal Laboruntersuchungen, insbesondere Leberparameter, durchgeführt worden seien. Zwar könne im vorliegenden Fall aufgrund der offenkundig stattgefundenen Polytransfusion von 1962 der Verdacht darauf geäußert werden, dass hierbei um eine Posttransfusionshepatitis handeln könne, doch sei nach derzeitigem Aktenstand völlig unklar, ob die angeblich seit Anfang der siebziger Jahre objektivierten pathologischen Leberwerte tatsächlich belegt werden könnten. Er regte deshalb an, ergänzende Ermittlungen durchzuführen. Daraufhin zog die Beklagte ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse des Klägers, AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen, bei und holte aufgrund dessen weitere Krankenunterlagen ein. Es handelte sich hierbei insbesondere um Krankenunterlagen aus der Zeit um 1980, in welcher der Kläger sich einer Bandscheibenoperation unterziehen musste. Bei dieser Operation kam es zu keinen Bluttransfusionen. In Auswertung dieser Unterlagen kam Dr. D. in einer neuen Stellungnahme vom 29. Mai 2005 zu dem Ergebnis, zwischen der angeschuldigten Polytransfusion und der erstmaligen Manifestation auffälliger Leberbefunde seien ca. 18 Jahre vergangen. Ältere Laborbefunde aus dem Zeitraum vor dem streitigen Arbeitsunfall lägen nicht vor. Auch weitere für eine Kausalität sprechende Fakten hätten sich nicht ermitteln lassen, sodass der Zusammenhang nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit zu beweisen sei. Mit Bescheid vom 16.03.2005 lehnte die Beklagte die Annerkennung der Hepatitis-C-Erkrankung als mittelbare Unfallfolge ab. Der hiergegen vom Kläger am 31.03.2005 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11.08.2005 zurückgewiesen.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 08. September 2005 bei dem Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage. Er ist der Ansicht, die bei ihm bestehende Hepatitis-C–Erkrankung sei als mittelbare Folge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 anzuerkennen. Nur zu diesem Zeitpunkt habe er sich Bluttransfusionen unterziehen müssen, es bestehe deshalb eine Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs. Die laufend gewährte Verletztenrente sei deshalb entsprechend zu erhöhen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Bescheids vom 16.03.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.08.2005 die Beklagte zu verurteilen, als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 eine Hepatitis C anzuerkennen und ihm Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. ab Mai 2003 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, ein Zusammenhang zwischen der beim Kläger objektiv bestehenden Hepatitis-C-Erkrankung und der 1962 in Folge des anerkannten Arbeitsunfalls durchgeführten Bluttransfusion sei zwar möglich, könne aber nicht mit dem im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geforderten Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Insoweit bezieht sie sich auf eine neue beratungsärztliche Stellungnahme des E. E. vom 05.07.2006, die sie in das Verfahren einführt.
Das Gericht hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines internistischen Gutachtens bei Prof. F., F-Universität F-Stadt. Der Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 14. Mai 2006 zu dem Ergebnis, die beim Kläger bestehende Hepatitis-C- Erkrankung sei mit Wahrscheinlichkeit auf die unfallbedingten Polytransfusionen vom 25.07.1962 zurückzuführen. Andere Ursachen der Erkrankung würden bei dem Kläger weitgehend ausscheiden. So seien keine weiteren Transfusionen durchgeführt worden, es bestehe kein Hinweis auf Nadelstichverletzung mit kontaminierten Instrumenten, es bestehe kein intravenöser Drogenabusus, kein Aufenthalt in Entwicklungsländern, keine häufig wechselnde Geschlechtspartner, kein beruflicher Umgang mit Hepatitis–C-Infizierten und kein familiärer Umgang mit Hepatitis-C-Infizierten, keine Krankenhausaufenthalte in Verbindung mit einer erhöhten Hepatitis-C–Exposition, keine Hämophilie, keine Dialysepflichtigkeit, keine Transplantation, keine Tätowierungen oder Expositionen in Form besonders schlechter hygienischer Verhältnisse. Von einem Zusammenhang sei demgegenüber mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit deshalb auszugehen, weil ein hohes Hepatitis-C-Virusübertragungsrisiko bestanden habe, keine sonstigen Expositionsrisiken nachvollziehbar seien, ein typischer jahrzehntelanger asymptomatischer Verlauf bestehe und es auch erst seit 1990 die Möglichkeit der Diagnose dieser Erkrankung gebe. Das Risiko einer Hepatitis-C–Virusübertragung habe in 1962 bei bis zu 15 % bei einer Transfusion bestanden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 30 v. H. Zur weiteren Begründung hat der Sachverständige seinem Gutachten einen Aufsatz verschiedener Autoren über die akute Hepatitis C aus dem deutschen Ärzteblatt 1999, B-2500 ff. beigefügt. Daraus geht unter anderem hervor, dass seit der Entdeckung des Hepatitis-C–Virus 1989 die Zahl der transfusionsassoziierten Neuinfektionen durch konsequente Elimination HCV – positiver Blutprodukte in den USA von 180.000 im Jahr auf nunmehr 28.000 im Jahr zurückgegangen sei.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des Inhalts des bei Dr. Prof. F. eingeholten Gutachten, wird auf die Klage- und Verwaltungsakten der Beklagten über den Kläger Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2007 gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
Sachlich ist die Klage auch begründet. Der Bescheid vom 16.03.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.08.2005 ist schon formal deshalb rechtswidrig, weil hier allgemein Entschädigungsleistungen abgelehnt werden. Die Beklagte hat bei diesem Bescheid ihren ursprünglichen Rentenbescheid vom 19.11.1963, mit dem ab 01.11.1963 auf unbestimmte Zeit Rente nach einer MdE von 30 v. H. gewährt wird, außer Acht gelassen. Die vom Kläger angegriffenen Bescheide sind aber nicht nur formal rechtswidrig, vielmehr ist seine Klage auf Anerkennung einer Hepatitis C als weitere Unfallfolge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 und Gewährung höherer Verletztenrente auch sachlich begründet.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch – Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren – und Sozialdatenschutz – (SGB X) sind Verwaltungsakte mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die genannten Voraussetzungen liegen hier vor, da in den tatsächlichen (gesundheitlichen) Verhältnissen gegenüber dem Bescheid vom 19.11.1963 eine wesentliche Änderung eingetreten ist, neue Unfallfolgen sind festzustellen.
Insbesondere besteht eine höhere Minderung der MdE. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Um die MdE in Folge eines Versicherungsfalles festzustellen, ist die vor dem Versicherungsfall bestehende individuelle Erwerbsfähigkeit eines Versicherten (Ausgangswert) mit demjenigen danach zu vergleichen (Beziehungswert). Dabei hängt der Grad der MdE nicht nur von der medizinischen Beurteilung ab, welche körperlichen Schäden und Funktionsausfälle vorliegen, sondern auch davon, welche Arbeiten der Verletzte bei seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann. Die Frage nach dem Grad der unfallbedingten MdE ist deshalb in erster Linie eine Rechtsfrage. Eine Bindung des Unfallversicherungsträgers oder des Gerichts an die ärztlichen Gutachten besteht nicht (BSGE 4, 147). Hat ein Arbeitsunfall Schäden an mehreren Körperteilen oder/und Funktionssystemen hinterlassen, so ist die MdE im Ganzen zu würdigen. Eine schematische Zusammenrechnung, der für die einzelnen Leiden in Ansatz gebrachten Sätze darf nicht erfolgen. Die Gesamt-MdE ist deshalb nicht rechnerisch aus einzelnen MdE-Graden zu ermitteln, sondern auf einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Minderungen zu bemessen (BSGE 48, 22).
Für die Messung der MdE haben sich in der Rechtssprechung und Praxis der Unfallversicherungsträger Grundlagen gebildet, die im einschlägigen Schrifttum (vgl. Mehrhoff/Muhr, Unfallbegutachtung; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit) zusammengefasst sind. Diese Grundlagen sind zu beachten, weil sie sich aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Bestätigung durch Gutachter, Unfallversicherungsträger, Gerichte sowie ihrer Annahme durch die Betroffenen als Wirklichkeits- und Maßstabsgerecht erwiesen haben. Es sind Erfahrungswerte, die nicht zuletzt einer weitgehenden Gleichbehandlung aller Verletzten dienen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.1976 – BSGE 43, 53, 54; BSG, Urteil vom 26.06.1985 – SOZR 2200 § 581 RVO Nr. 23).
In einem ersten Schritt sind deshalb die Unfallfolgen festzustellen. Unfallfolgen in diesem Sinne sind diejenigen Gesundheitsstörungen, die auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Dabei muss für den Zusammenhang nicht der Vollbeweis geführt werden, vielmehr reicht es aus, dass der Gesundheitsschaden mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist (vgl. BSG in SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1; BSGE 32, 203, 209). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände, die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl. BSG in Breithaupt 1963, S. 60, 61; LSG Baden-Württemberg in Breithaupt 1985, S. 399, 404).
Mit dem im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung zu fordernden oben dargestellten Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ist zur Überzeugung der Kammer die beim Kläger nachgewiesene Hepatitis–C–Erkrankung als Folge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 anzuerkennen. Insoweit schließt sich die Kammer in freier Beweiswürdigung voll inhaltlich dem im Gerichtsverfahren eingeholten überzeugenden Gutachten des Prof. F. an. Das Gutachten ist nicht nur besonders gut nachvollziehbar und widerspruchsfrei, es steht auch im Einklang mit der medizinisch– wissenschaftlichen Lehrmeinung; das ergibt sich für die Kammer aus der beigefügten Literaturmeinung. Im Übrigen steht das Gutachten im Wesentlichen auch im Einklang mit der ersten Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. D. vom 07.05.2004. Auch darin ist ausgeführt worden, dass Bluttransfusionen bis in die 1990er Jahre hinein die weitaus häufigste Ursache zur Entstehung von Hepatitis–C–Erkrankungen sind. Prof. F. hat dies in seinem Gutachten aufgearbeitet und nicht nur die Tatsache dargestellt, die die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs begründen. Vielmehr hat er auch geprüft, ob es eine Wahrscheinlichkeit/Möglichkeit der Entstehung der Erkrankung durch konkurrierende Ursachen gibt. Dies hält er für weitestgehend ausgeschlossen. Damit werden seine gutachterlichen Erkenntnisse weiter untermauert. Die Stellungnahme des Beratungsarztes E. E., die die Beklagte in das Verfahren eingeführt hat, kann demgegenüber die Kammer nicht vom Gegenteil überzeugen. Diese stützt sich im Wesentlichen darauf, dass auch die Zeit vor dem Unfall nicht aufgeklärt sei und deshalb die Erkrankung auch schon vor dem Unfall vom 25.07.1962 bestanden haben könnte. Insoweit ist gerade auf die Diskussion des Ausschlusses konkurrierender Ursachen durch Prof. F. zu verweisen. Letztendlich spricht zur Überzeugung der Kammer fast alles dafür, dass sich der Kläger die Hepatitis – C – Erkrankung bei der unfallbedingt notwendigen Transfusion 1962 zugezogen hat; dem Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ist damit Genüge getan.
Wegen der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) kann die Kammer auch den Feststellungen von Prof. F. folgen, denn diese stimmen mit den obengenannten Vorgaben des einschlägigen Schrifttums überein. Für die Hepatitis – C – Erkrankung und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen ist eine Einzel–MdE von 30 v. H. festzusetzen; schon bisher bestand anerkanntermaßen eine MdE von 30 v. H. In integrierender Betrachtungsweise sind diese beiden Einzelwerte zu einer Gesamt-MdE von 50 v. H. zu verbinden; der Anspruch auf die höhere Verletztenrente besteht ab Antragszeitpunkt im Mai 2003. Der Klage war insoweit voll inhaltlich stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten wegen der Anerkennung einer Hepatitis C als Spätfolge eines Arbeitsunfalls und Gewährung von Verletztenrente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
Der 1934 geborene Kläger erlitt am 25.07.1962 auf einer Baustelle einen bei der Beklagten versicherten schweren Arbeitsunfall mit Verletzung der rechten Schulter und erheblichem Blutverlust. Bei der damals sofort durchgeführten Operation wurden mehrere Bluttransfusionen durchgeführt. Mit Bescheid vom 19.11.1963 gewährte die Beklagte dem Kläger zunächst vorläufig Verletztenrente nach einer MdE von 40 v H., seit 01.11.1963 bezieht er Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 30 v. H. Einen weiteren Arbeitsunfall erlitt er am 16.06.1967, hier ist die Unfallkasse Hessen zuständiger Unfallversicherungsträger.
Ungefähr seit dem Jahr 1980 wurde bei ihm mehrmals eine deutliche Erhöhung der Leberwerte diagnostiziert. Im März 2003 gelang den behandelnden Ärzten sodann die Diagnose einer Hepatitis C. Über seinen behandelnden Internisten C. stellte er am 06. Mai 2003 einen Antrag auf Anerkennung der Hepatitis C als Spätfolge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962, der behandelnde Internist begründete dies damit, dass mit Wahrscheinlichkeit die Bluttransfusionen zur Erkrankung geführt hätten. Die Beklagte zog daraufhin Krankenunterlagen bei und legte diese ihrem Beratungsarzt Dr. D. vor. Dr. D. führte in seiner Stellungnahme vom 07.05.2004 aus, dass die häufigste Übertragungsursache der Hepatitis-C–Virusinfektion (HCH) bis zur Einführung der generellen Untersuchung von Blutspendern Mitte der 90er Jahre die Verabreichung von Blut und Blutprodukten gewesen sei. Viele ältere Patienten seien in früheren Jahren bei der Durchführung von großen Operationen so infiziert worden. Nach derzeitigem Aktenstand sei allerdings unklar, ob bei dem Versicherten während des stationären Aufenthaltes in 1962 überhaupt einmal Laboruntersuchungen, insbesondere Leberparameter, durchgeführt worden seien. Zwar könne im vorliegenden Fall aufgrund der offenkundig stattgefundenen Polytransfusion von 1962 der Verdacht darauf geäußert werden, dass hierbei um eine Posttransfusionshepatitis handeln könne, doch sei nach derzeitigem Aktenstand völlig unklar, ob die angeblich seit Anfang der siebziger Jahre objektivierten pathologischen Leberwerte tatsächlich belegt werden könnten. Er regte deshalb an, ergänzende Ermittlungen durchzuführen. Daraufhin zog die Beklagte ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse des Klägers, AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen, bei und holte aufgrund dessen weitere Krankenunterlagen ein. Es handelte sich hierbei insbesondere um Krankenunterlagen aus der Zeit um 1980, in welcher der Kläger sich einer Bandscheibenoperation unterziehen musste. Bei dieser Operation kam es zu keinen Bluttransfusionen. In Auswertung dieser Unterlagen kam Dr. D. in einer neuen Stellungnahme vom 29. Mai 2005 zu dem Ergebnis, zwischen der angeschuldigten Polytransfusion und der erstmaligen Manifestation auffälliger Leberbefunde seien ca. 18 Jahre vergangen. Ältere Laborbefunde aus dem Zeitraum vor dem streitigen Arbeitsunfall lägen nicht vor. Auch weitere für eine Kausalität sprechende Fakten hätten sich nicht ermitteln lassen, sodass der Zusammenhang nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit zu beweisen sei. Mit Bescheid vom 16.03.2005 lehnte die Beklagte die Annerkennung der Hepatitis-C-Erkrankung als mittelbare Unfallfolge ab. Der hiergegen vom Kläger am 31.03.2005 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11.08.2005 zurückgewiesen.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 08. September 2005 bei dem Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage. Er ist der Ansicht, die bei ihm bestehende Hepatitis-C–Erkrankung sei als mittelbare Folge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 anzuerkennen. Nur zu diesem Zeitpunkt habe er sich Bluttransfusionen unterziehen müssen, es bestehe deshalb eine Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs. Die laufend gewährte Verletztenrente sei deshalb entsprechend zu erhöhen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Bescheids vom 16.03.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.08.2005 die Beklagte zu verurteilen, als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 eine Hepatitis C anzuerkennen und ihm Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. ab Mai 2003 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, ein Zusammenhang zwischen der beim Kläger objektiv bestehenden Hepatitis-C-Erkrankung und der 1962 in Folge des anerkannten Arbeitsunfalls durchgeführten Bluttransfusion sei zwar möglich, könne aber nicht mit dem im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geforderten Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Insoweit bezieht sie sich auf eine neue beratungsärztliche Stellungnahme des E. E. vom 05.07.2006, die sie in das Verfahren einführt.
Das Gericht hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines internistischen Gutachtens bei Prof. F., F-Universität F-Stadt. Der Sachverständige kommt in seinem Gutachten vom 14. Mai 2006 zu dem Ergebnis, die beim Kläger bestehende Hepatitis-C- Erkrankung sei mit Wahrscheinlichkeit auf die unfallbedingten Polytransfusionen vom 25.07.1962 zurückzuführen. Andere Ursachen der Erkrankung würden bei dem Kläger weitgehend ausscheiden. So seien keine weiteren Transfusionen durchgeführt worden, es bestehe kein Hinweis auf Nadelstichverletzung mit kontaminierten Instrumenten, es bestehe kein intravenöser Drogenabusus, kein Aufenthalt in Entwicklungsländern, keine häufig wechselnde Geschlechtspartner, kein beruflicher Umgang mit Hepatitis–C-Infizierten und kein familiärer Umgang mit Hepatitis-C-Infizierten, keine Krankenhausaufenthalte in Verbindung mit einer erhöhten Hepatitis-C–Exposition, keine Hämophilie, keine Dialysepflichtigkeit, keine Transplantation, keine Tätowierungen oder Expositionen in Form besonders schlechter hygienischer Verhältnisse. Von einem Zusammenhang sei demgegenüber mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit deshalb auszugehen, weil ein hohes Hepatitis-C-Virusübertragungsrisiko bestanden habe, keine sonstigen Expositionsrisiken nachvollziehbar seien, ein typischer jahrzehntelanger asymptomatischer Verlauf bestehe und es auch erst seit 1990 die Möglichkeit der Diagnose dieser Erkrankung gebe. Das Risiko einer Hepatitis-C–Virusübertragung habe in 1962 bei bis zu 15 % bei einer Transfusion bestanden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 30 v. H. Zur weiteren Begründung hat der Sachverständige seinem Gutachten einen Aufsatz verschiedener Autoren über die akute Hepatitis C aus dem deutschen Ärzteblatt 1999, B-2500 ff. beigefügt. Daraus geht unter anderem hervor, dass seit der Entdeckung des Hepatitis-C–Virus 1989 die Zahl der transfusionsassoziierten Neuinfektionen durch konsequente Elimination HCV – positiver Blutprodukte in den USA von 180.000 im Jahr auf nunmehr 28.000 im Jahr zurückgegangen sei.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des Inhalts des bei Dr. Prof. F. eingeholten Gutachten, wird auf die Klage- und Verwaltungsakten der Beklagten über den Kläger Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2007 gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
Sachlich ist die Klage auch begründet. Der Bescheid vom 16.03.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.08.2005 ist schon formal deshalb rechtswidrig, weil hier allgemein Entschädigungsleistungen abgelehnt werden. Die Beklagte hat bei diesem Bescheid ihren ursprünglichen Rentenbescheid vom 19.11.1963, mit dem ab 01.11.1963 auf unbestimmte Zeit Rente nach einer MdE von 30 v. H. gewährt wird, außer Acht gelassen. Die vom Kläger angegriffenen Bescheide sind aber nicht nur formal rechtswidrig, vielmehr ist seine Klage auf Anerkennung einer Hepatitis C als weitere Unfallfolge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 und Gewährung höherer Verletztenrente auch sachlich begründet.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch – Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren – und Sozialdatenschutz – (SGB X) sind Verwaltungsakte mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die genannten Voraussetzungen liegen hier vor, da in den tatsächlichen (gesundheitlichen) Verhältnissen gegenüber dem Bescheid vom 19.11.1963 eine wesentliche Änderung eingetreten ist, neue Unfallfolgen sind festzustellen.
Insbesondere besteht eine höhere Minderung der MdE. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Um die MdE in Folge eines Versicherungsfalles festzustellen, ist die vor dem Versicherungsfall bestehende individuelle Erwerbsfähigkeit eines Versicherten (Ausgangswert) mit demjenigen danach zu vergleichen (Beziehungswert). Dabei hängt der Grad der MdE nicht nur von der medizinischen Beurteilung ab, welche körperlichen Schäden und Funktionsausfälle vorliegen, sondern auch davon, welche Arbeiten der Verletzte bei seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann. Die Frage nach dem Grad der unfallbedingten MdE ist deshalb in erster Linie eine Rechtsfrage. Eine Bindung des Unfallversicherungsträgers oder des Gerichts an die ärztlichen Gutachten besteht nicht (BSGE 4, 147). Hat ein Arbeitsunfall Schäden an mehreren Körperteilen oder/und Funktionssystemen hinterlassen, so ist die MdE im Ganzen zu würdigen. Eine schematische Zusammenrechnung, der für die einzelnen Leiden in Ansatz gebrachten Sätze darf nicht erfolgen. Die Gesamt-MdE ist deshalb nicht rechnerisch aus einzelnen MdE-Graden zu ermitteln, sondern auf einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Minderungen zu bemessen (BSGE 48, 22).
Für die Messung der MdE haben sich in der Rechtssprechung und Praxis der Unfallversicherungsträger Grundlagen gebildet, die im einschlägigen Schrifttum (vgl. Mehrhoff/Muhr, Unfallbegutachtung; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit) zusammengefasst sind. Diese Grundlagen sind zu beachten, weil sie sich aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Bestätigung durch Gutachter, Unfallversicherungsträger, Gerichte sowie ihrer Annahme durch die Betroffenen als Wirklichkeits- und Maßstabsgerecht erwiesen haben. Es sind Erfahrungswerte, die nicht zuletzt einer weitgehenden Gleichbehandlung aller Verletzten dienen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.1976 – BSGE 43, 53, 54; BSG, Urteil vom 26.06.1985 – SOZR 2200 § 581 RVO Nr. 23).
In einem ersten Schritt sind deshalb die Unfallfolgen festzustellen. Unfallfolgen in diesem Sinne sind diejenigen Gesundheitsstörungen, die auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Dabei muss für den Zusammenhang nicht der Vollbeweis geführt werden, vielmehr reicht es aus, dass der Gesundheitsschaden mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist (vgl. BSG in SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1; BSGE 32, 203, 209). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände, die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl. BSG in Breithaupt 1963, S. 60, 61; LSG Baden-Württemberg in Breithaupt 1985, S. 399, 404).
Mit dem im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung zu fordernden oben dargestellten Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ist zur Überzeugung der Kammer die beim Kläger nachgewiesene Hepatitis–C–Erkrankung als Folge des Arbeitsunfalls vom 25.07.1962 anzuerkennen. Insoweit schließt sich die Kammer in freier Beweiswürdigung voll inhaltlich dem im Gerichtsverfahren eingeholten überzeugenden Gutachten des Prof. F. an. Das Gutachten ist nicht nur besonders gut nachvollziehbar und widerspruchsfrei, es steht auch im Einklang mit der medizinisch– wissenschaftlichen Lehrmeinung; das ergibt sich für die Kammer aus der beigefügten Literaturmeinung. Im Übrigen steht das Gutachten im Wesentlichen auch im Einklang mit der ersten Stellungnahme des Beratungsarztes Dr. D. vom 07.05.2004. Auch darin ist ausgeführt worden, dass Bluttransfusionen bis in die 1990er Jahre hinein die weitaus häufigste Ursache zur Entstehung von Hepatitis–C–Erkrankungen sind. Prof. F. hat dies in seinem Gutachten aufgearbeitet und nicht nur die Tatsache dargestellt, die die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs begründen. Vielmehr hat er auch geprüft, ob es eine Wahrscheinlichkeit/Möglichkeit der Entstehung der Erkrankung durch konkurrierende Ursachen gibt. Dies hält er für weitestgehend ausgeschlossen. Damit werden seine gutachterlichen Erkenntnisse weiter untermauert. Die Stellungnahme des Beratungsarztes E. E., die die Beklagte in das Verfahren eingeführt hat, kann demgegenüber die Kammer nicht vom Gegenteil überzeugen. Diese stützt sich im Wesentlichen darauf, dass auch die Zeit vor dem Unfall nicht aufgeklärt sei und deshalb die Erkrankung auch schon vor dem Unfall vom 25.07.1962 bestanden haben könnte. Insoweit ist gerade auf die Diskussion des Ausschlusses konkurrierender Ursachen durch Prof. F. zu verweisen. Letztendlich spricht zur Überzeugung der Kammer fast alles dafür, dass sich der Kläger die Hepatitis – C – Erkrankung bei der unfallbedingt notwendigen Transfusion 1962 zugezogen hat; dem Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ist damit Genüge getan.
Wegen der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) kann die Kammer auch den Feststellungen von Prof. F. folgen, denn diese stimmen mit den obengenannten Vorgaben des einschlägigen Schrifttums überein. Für die Hepatitis – C – Erkrankung und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen ist eine Einzel–MdE von 30 v. H. festzusetzen; schon bisher bestand anerkanntermaßen eine MdE von 30 v. H. In integrierender Betrachtungsweise sind diese beiden Einzelwerte zu einer Gesamt-MdE von 50 v. H. zu verbinden; der Anspruch auf die höhere Verletztenrente besteht ab Antragszeitpunkt im Mai 2003. Der Klage war insoweit voll inhaltlich stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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