L 13 SB 84/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 41 SB 2204/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 84/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. März 2008 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei der Klägerin die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens "aG" – außergewöhnliche Gehbehinderung – und "T" - Berechtigung der Teilnahme am Telebusfahrdienst – erfüllt sind.

Die 1958 geborene Klägerin, der seit 2003 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkannt worden war, stellte am 8. September 2004 nach einem schweren Verkehrsunfall einen Verschlimmerungsantrag. Auf der Grundlage der Gutachten der Sozialmedizinerin Dr. W vom 25. Januar 2006 und der Nervenärztin G vom 20. Mai 2006 stellte der Beklagte bei ihr mit Bescheid vom 7. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 28. August 2006 neben den gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "B", "G" und "RF" einen GdB von 80 wegen folgender Behinderungen (mit den sich aus den Klammerzusätzen ergebenden Einzel-GdB) fest:

a) Sehbehinderung (60), b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (30), c) Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenkes rechts, Funktionseinschränkung des Fußes links, Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseitig (30), d) außergewöhnliche Schmerzreaktion, psychosomatische Störungen (30), e) Carpaltunnelsyndrom (Mittelnervendruckschädigung) beidseitig, Funktionsbehinderung des Schultergelenks links (30), f) Harninkontinenz (10).

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat die Klägerin die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "T" begehrt. Das Einverständnis zur Einholung von Befundberichten der sie behandelnden Ärzte hat sie nicht erteilt. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. März 2008 abgewiesen: Nach den vorliegenden Unterlagen könnten die Voraussetzung für die Merkzeichen "aG" und "T" nicht bejaht werden.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin unter Vorlage diverser medizinischer Unterlagen ihr Begehren weiter. Mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2009 hat sie erklärt, dass sie sich nicht untersuchen lassen möchte. Hieran hielt sie im Schriftsatz vom 21. Mai 2010 fest. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Orthopäden Dr. W vom 18. August 2010, und zwar dem ausdrücklichen Wunsch der Klägerin entsprechend, nach Aktenlage.

Die Klägerin hat im Dezember 2010 angekündigt, einen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu stellen, aber keinen Gutachter benannt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 14. März 2008 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 7. Juli 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 28. August 2006 zu verurteilen, bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" – außergewöhnliche Gehbehinderung –und "T" - Berechtigung der Teilnahme am Telebusfahrdienst – festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Außerdem wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorlag und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin ist rechtmäßig, da die die Klägerin keinen Anspruch auf die von ihr begehrten Nachteilsausgleiche hat.

Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind (siehe hierzu auch Nr. 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) in den für den streitgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen Fassungen von 2004, 2005 und – zuletzt – von 2008 bzw. nach Teil D Nr. 3 (S. 115f.) der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die seit dem 1. Januar 2009 in Form einer Rechtsverordnung in Kraft ist und die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst hat).

Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).

Die Klägerin ist zwar in ihrer Gehfähigkeit beeinträchtigt, jedoch ist ihr Gehvermögen nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt, dass sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Dies hat das Sozialgericht überzeugend dargelegt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 28. Juni 2004 und sieht nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Das weitere Vorbringen der Klägerin rechtfertigt keine abweichende Entscheidung. Auf der Grundlage der vorliegenden Unterlagen hat der Sachverständige Dr. W in seinem Gutachten vom 18. August 2010 nachvollziehbar ausgeführt, die Klägerin sei in ihrer Gehfähigkeit nicht derart eingeschränkt, dass sie sich nur mit fremder Hilfe und mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Der Gutachter hat betont, dass die Muskulatur als altersgemäß beschrieben worden ist, dass die Beinachse weitestgehend physiologisch war und dass bis auf die linke Fußregion alle tragenden Gelenke beider Beine eine normale Form und Gesamtbeweglichkeit bzw. Bandstabilität besaßen. Der sensomotorische Zustand der Beine wies keine substanziellen Defizite auf. Eine Verformung oder eine allgemeine Rumpfinsuffizienz am Achsenorgan ist den Unterlagen nicht zu entnehmen.

Weitere Erkenntnismöglichkeiten stehen dem Senat nicht zur Verfügung. Einer Begutachtung nach Untersuchung durch den Sachverständigen entzieht sich die Klägerin. Ihrem Antrag, einen Arzt nach § 109 SGG zu hören, war nicht nachzukommen, da die Klägerin trotz mehrfacher Aufforderung keinen Arzt benannt hat.

Da der Klägerin nicht das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen ist, hat sie auch keinen Anspruch auf das Merkzeichen "T". Denn nach § 1 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes vom 31. Juli 2001 (GVBl. S. 322) setzt das Merkzeichen "T" gerade voraus, dass das Merkzeichen "aG" , ein mobilitätsbedingter GdB von mindestens 80 und Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen gegenüber dem Versorgungsamt nachgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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