L 27 P 60/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 111 P 27/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 60/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2007 und der Bescheid des Beklagten vom 8. August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2005 aufgehoben. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten für das gesamte Verfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Herabstufung der Bewilligung von Pflegegeld der Pflegestufe II in die Pflegestufe I ab 1. September 2005.

Der 1952 geborene und bei der Beklagten pflegeversicherte Kläger leidet unter anderem nach einem im Juni 1998 erlittenen Hirninfarkt an einer armbetonten Hemiparese (Lähmung) links. Der Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin ab 1. Oktober 1998 zunächst Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I. Auf Grund einer Nachbegutachtung des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 2. November 2000 gewährte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 19. Februar 2001 Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II rückwirkend ab 18. Oktober 2000.

Anlässlich einer vom Beklagten am 11. Mai 2005 veranlassten weiteren Begutachtung stellte der MDK in seinem Gutachten vom 17. Mai 2005 lediglich das Vorliegen der Voraussetzungen für die Pflegestufe I fest. Nach Anhörung vom 23. Mai 2005 zu einer beabsichtigten Rückstufung in die Pflegestufe I und weiterer Stellungnahme des MDK, die das Vorliegen der Pflegestufe I bestätigte, setzte der Beklagte mit Bescheid vom 8. August 2005 unter insoweitiger Aufhebung des Bescheides vom 19. Februar 2001 die Bewilligung von Pflegegeld der Stufe II gestützt auf § 48 Sozialgesetzbuch/ Zehntes Buch (SGB X) zum 1. September 2005 auf Pflegegeld der Pflegestufe I herab. Den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers vom 18. August 2005 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2005 als unbegründet zurück.

Der Kläger hat sein Begehren auf Fortgewährung von Leistungen der Pflegestufe II mit der am 5. Januar 2006 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage weiter verfolgt. Er verwies insbesondere auf weiteren Pflegebedarf im Bereich der Mobilität. Ein vom Beklagten eingeholtes weiteres Gutachten des MDK vom 20. Juni 2006 stellte fest, das die Leistungsvoraussetzungen der Pflegestufe II deutlich nicht erfüllt sind. Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 30. Oktober 2007 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Die Herabstufung der Bewilligung von Pflegegeld der Stufe II in Stufe I sei rechtmäßig, da nach dem Gutachten des MDK vom 17. Mai 2005 von einer wesentlichen Änderung durch Verringerung des Pflegebedarfs im Bereich der Mobilität auszugehen sei. Dass der Kläger bei seinen Besuchen der Praxen der Ergotherapeutin und der Krankengymnastin eine Begleitung benötige, sei nicht nachgewiesen und ginge zu Lasten des Klägers, der dazu selbst widersprüchliche Angaben mache. Beide Therapeuten hätten letztlich bestätigt, dass der Kläger nur gelegentlich in Begleitung erscheine.

Gegen den am 11. Dezember 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 8. Januar 2008 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft der Kläger den erstinstanzlich geltend gemachten weiteren Pflegebedarf im Bereich der Mobilität. Danach benötige er trotz der Nutzung des Elektrorollstuhls allein für die zweimal wöchentlichen Besuche bei seiner Ergotherapeutin eine Wegstrecke von 45 Minuten einfach und sei dabei schon wegen der erheblichen Entfernung immer auf eine Begleitperson angewiesen. Eine Hilfestellung sei zudem sowohl beim Verlassen der eigenen Wohnung sowie beim Zutritt und Verlassen der Praxis erforderlich, zumal er nur mühsam zu Fuß vom Erdgeschoss über die Treppe in die Praxisräume im 1. Stock gelange. Ferner seien die Besuche bei der ca. 300 Meter von seiner Wohnung entfernten Praxis seiner Krankengymnastin zu berücksichtigen, welche er dreimal wöchentlich aufsuche. Zwar habe er diese Wegstrecke, wozu er 25 Minuten einfach benötige, teilweise allein bewältigt, jedoch habe ihm dann eine Mitarbeiterin der im Erdgeschoss befindlichen Praxis beim Betreten und Verlassen helfen müssen, da auch hier eine Stufe zu überwinden sei. Im Übrigen leide er unter spontanen Vergesslichkeitsstörungen, so dass er häufig bereits nach 10 Minuten nicht mehr wisse wo er sich befinde und teilweise stundenlang unterwegs gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 8. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Einen erneuten Höherstufungsantrag vom 4. Juni 2008 lehnte der Beklagte nach weiteren Begutachtungen des MDK vom 8. September 2008 und 27. Januar 2009 mit Bescheid vom 19. Februar 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2009 ab. In einem vom Sozialgericht Berlin in dem dagegen gerichteten Klageverfahren () eingeholten Gutachten der Pflegesachverständigen B vom 6. April 2010 wurde das Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe II (u. a. unter Berücksichtigung eines höheren Bedarfs im Bereich der Mobilität) festgestellt.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, dass Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz -SGG- zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die in dem angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 8. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2005 erfolgte Herabstufung der Pflegeleistungen von Pflegestufe II auf Pflegestufe I ist rechtswidrig und verletzt den Klägern in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Herabstufung des Klägers in die Pflegestufe I ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Hierbei sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.

Der Leistungen der Pflegestufe II gewährenden Bescheid des Beklagten vom 19. Februar 2001 ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Entgegen der Ansicht der Beklagten und des Sozialgerichts ist im Vergleich zu den im Zeitpunkt bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 19. Februar 2001 bestehenden Verhältnissen keine wesentliche Änderung nachgewiesen. Die Zuordnung zur Pflegestufe II setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch/ Elftes Buch (SGB XI) voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität (so genannte Grundpflege) mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden betragen, wobei mindestens zwei Stunden auf die Grundpflege entfallen müssen.

Die streitgegenständliche Herabstufung zum 1. September 2005 resultiert maßgeblich auf einer vom Beklagten angenommenen Verringerung des Pflegebedarfs im Bereich der Mobilität von 68 Minuten täglich entsprechend dem Gutachten des MDK vom 2. November 2000 auf 11 Minuten täglich, so dass sich im Bereich der Grundpflege mit den insgesamt angesetzten 100 Minuten täglich nicht mehr die für die Pflegestufe II erforderlichen 120 Minuten täglich ergaben. Es hat sich indessen nicht nachweisen lassen, dass insoweit eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist.

Bereits bei Anerkennung der Pflegestufe II zum 18. Oktober 2000 verfügte der Kläger über einen Elektrorollstuhl und einen Gehstock. Ferner war eine Ergotherapie und Krankengymnastik von jeweils zweimal wöchentlich aktenkundig. Der Beklagte ging damals von einer erforderlichen Begleitung des Klägers zu den Therapien aus und hielt zudem auch eine Begleitung innerhalb der Wohnung (zur Toilette wegen Schwindel, Unsicherheit, Sturzgefahr) für erforderlich. Woraus sich zum September 2005 nachweisbar eine Besserung der Mobilität des Klägers durch die Benutzung von Elektrorollstuhl und Gehstock ergeben soll, ist nicht ersichtlich, zumal der Beklagte seine diesbezüglichen Feststellungen maßgeblich auf die eigenen Angaben des Klägers anlässlich der häuslichen Begutachtung am 11. Mai 2005 stützt. Unabhängig davon, dass der Kläger nach Aktenlage nur über eingeschränkte Deutschkenntnisse verfügt (vgl. Feststellungen der Pflegesachverständigen B im Gutachten vom 6. April 2010 zur verbalen Kommunikation mit dem Kläger) und er bei der Begutachtung allein in der Wohnung war, hat der Kläger seine Angaben zur Mobilität in der Folgezeit korrigiert und im hiesigen Klageverfahren die Erforderlichkeit einer Begleitung geltend gemacht. Entsprechende medizinische Feststellungen, die eine wesentliche Besserung im Bereich der Mobilität des Klägers belegen, hat der Beklagte nicht erhoben. Die im Widerspruchsverfahren eingeholte weitere schriftliche Stellungnahme des MDK vom Juli 2005 ist nach Aktenlage erfolgt und verweist der Sache nach lediglich auf die Feststellungen des Gutachtens vom 17. Mai 2005. Auch das nach Klageerhebung ebenfalls nach Aktenlage erstellte MDK-Gutachten vom 20. Juni 2006 belegt für den Bereich der Mobilität keine nachvollziehbare wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Vielmehr wurde insoweit eine nochmalige leistungsrechtliche Klärung angeregt. Gegen eine Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers spricht überdies der Umstand, dass der Beklagte im Bereich der Körperpflege im Vergleich zu den Feststellungen Ende 2000 einen erhöhten Pflegebedarf von 64 Minuten täglich statt damals 48 Minuten anerkannt hat.

Auch wenn in der hiesigen Anfechtungsklage entscheidungserheblich auf die Verhältnisse zum 1. September 2005 abzustellen ist, sei noch angemerkt, dass die Pflegesachverständige B in ihrem Gutachten vom 6. April 2010 ausgehend von einer Begleitung des Klägers sowohl im Straßenverkehr als auch in der Wohnung das Vorliegen der Voraussetzungen für die Pflegestufe II festgestellt hat. Dass der gesundheitliche Zustand des Klägers gerade zum Herbst 2005 eine wesentliche Änderung im Sinne eines deutlich verringerten Pflegebedarfs im Bereich der Mobilität erfahren haben soll, ist auch vor diesem Hintergrund nicht nachgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war mangels Vorliegen der Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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