L 1 U 428/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 5208/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 428/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.11.2009 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe einer Verletztenrente im Streit.

Der 1965 geborene Kläger erlitt am 29.09.1998 einen Arbeitsunfall, als er bei Dacharbeiten aus ca. fünf Metern Höhe zu Boden fiel. Der Durchgangsarzt Prof. Dr. M. gab am 21.10.1998 an, dass der Kläger eine mäßig isolierte Femurfraktur links, eine Calcaneustrümmerfraktur links (u.a.) sowie eine Verletzung an der rechten Hand erlitten habe. Dr. B. von den B.-Kliniken in Blieskastel teilte am 23.10.1998 als Diagnosen eine petrochantäre Femurtrümmerfraktur links, eine Fersenbeintrümmerfraktur links vom Typ Joint depression und eine Fraktur des Os scaphoideum rechts mit.

Nach dem ersten Rentengutachten des Prof. Dr. M. vom 12.03.2000 lagen bei dem Kläger folgende wesentliche Unfallfolgen vor: Knöchern fest in radiologisch regelhafter Stellung verheilte petrokantäre Femurfraktur links mit endgradiger Bewegungseinschränkung der linken Hüfte für die Rotationsbewegungen, knöchern fest mit regelhafter Längenwiederherstellung ausgeheilte Calcaneusfraktur links mit radiologisch nachweisbarer USG (Unteres Sprungelenk)-Arthrose, komplette Aufhebung der Beweglichkeit im linken USG sowie endgradige Bewegungseinschränkung des linken OSG (Oberes Sprunggelenk), radiologisch nachweisbare Sklerosierung und Arthrosezeichen am rechten Handgelenk (radiocarpal und intercarpal) bei Zustand nach knöchern fest verheilter Scaphoidfraktur, gravierende Bewegungseinschränkung des rechten Handgelenkes in allen Bewegungsebenen sowie hälftige Einschränkung der Supinationsbewegungen am rechten Handgelenk. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund des Unfalls werde auf dauerhaft mit 40 vom Hundert (v.H.) bewertet.

Mit Bescheid vom 11.05.2000 bewilligte die Beklagte als vorläufige Entschädigung ab dem 02.08.1999 eine Rente nach einer MdE um 40 v.H. Als Folgen des Unfalles wurden anerkannt: Am linken Bein: Muskelminderung der Ober- und Unterschenkels, endgradige Bewegungseinschränkung der Hüfte und des OSG, Versteifung des USG, arthrotische Veränderungen im Bereich der Sprunggelenke nach knöchern fest verheiltem, operativ mit Metallimplantat versorgtem Bruch des Oberschenkels und Trümmerbruch des Fersenbeines. Am rechten Arm: Erhebliche Bewegungseinschränkung des Unterarmes und des Handgelenkes, arthrotische Veränderungen im Bereich des Handgelenkes nach knöchern fest verheiltem Bruch des Kahnbeines.

In einem weiteren Rentengutachten vom 18.05.2001 gab der Chirurg Dr. G. als noch bestehende Unfallfolgen an: Posttraumatische Arthrose der rechten Handwurzel mit erheblicher Funktionseinschränkung des rechten Handgelenks bei Zustand nach fest verheilter Naviculare-fraktur, posttraumatische Arthrose nach knöchern fest verheilter Fersenbeinfraktur links mit Bewegungseinschränkung im OSG und Wackelsteifigkeit im USG, Zustand nach petrochantärer Femurfraktur links bei jetzt völlig freier Funktion, Muskelminderung des linken Beines. Es liege nur noch eine MdE um 30 v.H. vor.

Nach Anhörung des Klägers setzte die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 12.07.2001 die Rentengewährung ab dem 01.08.2001 nunmehr nach einer MdE um 30 v.H. fest. Als Unfallfolgen wurden nunmehr anerkannt: Am linken Bein: Geringe Muskelminderung des Ober- und Unterschenkels, Bewegungseinschränkung des oberen und Wackelsteife des unteren Sprunggelenks, reizlose Narben, röntgenologisch nachweisbare arthrotische Veränderungen. Am rechten Arm: Deutliche Bewegungseinschränkung im Handgelenk, endgradige Bewegungseinschränkung des Unterarmes, röntgenologisch nachweisbare arthrotische Veränderungen.

In einem weiteren Gutachten zur Überprüfung der Rentenhöhe vom 11.08.2002 bestätigten Dr. G. und Dr. S. die bisher festgestellten Unfallfolgen und die Höhe der MdE um 30 v.H.

Mit Bescheid vom 21.08.2003 teilte die Beklagte dem Kläger daraufhin mit, dass die Verletztenrente weiterhin nach einer MdE um 30 v.H. gewährt werde.

Mit Widerspruch vom 10.09.2003 machte der Kläger eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes aufgrund der Unfallfolgen geltend. Die arthrotischen Veränderungen seien erheblich fortgeschritten.

Der Gutachter Dr. K. teilte am 15.04.2004 auf neurologischem Fachgebiet mit, dass zusätzlich zu den hauptsächlichen Beschwerden am linken Bein, welche ausschließlich dem chirurgischen Fachgebiet zuzuordnen seien, rechtsarmig ein posttraumatisches leichtes motorisches Carpaltunnelsyndrom bestehe, welches trotz der langen Latenz als Unfallfolge anerkannt werden sollte. Wahrscheinlich habe das Carpaltunnelsyndrom ab April 2003 bestanden. Die hierdurch bedingten genannten sensiblen Störungen rechtsarmig seien auf Dauer mit 10 v. H. einzuschätzen. In einer beratungsfachärztlichen Stellungnahme vom 15.06.2004 vertrat auch Prof. Dr. S. die Auffassung, dass das Carpaltunnelsyndrom rechts ursächlich auf das Unfallereignis vom 20.09.1998 zurückzuführen sei. Allerdings liege ein lediglich diskretes motorisches Carpaltunnelsyndrom rechts vor, welches mit einer MdE um weniger als 10 v.H. zu bewerten sei. Eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen liege damit nicht vor.

Mit Änderungsbescheid vom 20.07.2004 wurde als weitere Unfallfolge ein Kompressionssyndrom mit Missempfindungen und einer leichten motorischen Beeinträchtigung anerkannt. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.07.2004 wurde der darüber hinaus gehende Widerspruch des Klägers zurückgewiesen, da aufgrund der neu festgestellten Unfallfolge des Carpaltunnelsyndroms keine wesentliche Änderung der Unfallfolgen vorliege und hierdurch nur eine MdE von weniger als 10 v.H. bedingt sei. Das Carpaltunnelsyndrom verursache nach Aussage der beteiligten Ärzte keine Minderung der groben Kraft und der Geschicklichkeit.

Der Kläger hat am 04.08.2004 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit der er die Auffassung vertrat, dass aufgrund des zusätzlich festgestellten Carpaltunnelsyndroms nunmehr eine höhere Verletztenrente zu gewähren sei.

Am 11.05.2005 hat Dr. L. im Auftrag des SG ein unfallchirurgisches Fachgutachten erstellt. Aufgrund einer fortgeschrittenen Einschränkung der Beweglichkeit im Vergleich zu dem Gutachten vom 11.08.2003 sowie des aufgetretenen Carpaltunnelsyndroms sei eine MdE um 40 v.H. zutreffend. Hierzu vertrat Prof. Dr. S. am 06.07.2005 als Beratungsarzt die Auffassung, dass selbst bei Annahme einer Teil-MdE um 10 v.H. durch das Carpaltunnelsyndrom eine Gesamt-MdE um 40 v.H. nicht erreicht werde. Mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 25.10.2005 hat Dr. L. seinen Standpunkt verteidigt, woraufhin die Beklagte eine die Auffassung von Prof. Dr. S. stützende weitere beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. T. vom 06.12.2005 vorgelegt hat.

Im Auftrag des SG hat Prof. Dr. T. am 01.03.2007 ein Gutachten erstellt, in welches Erkenntnisse eines zuvor erstellten radiologischen Gutachtens durch Prof. Dr. G. vom 29.09.2006 eingeflossen sind. Als Unfallfolgen hat er nunmehr angegeben: Knöchern in achsgerechter Stellung durchbaute hüftgelenknahe Oberschenkelfraktur links (sog. petrocantäre Femurfraktur) mit geringgradiger Einschränkung der Hüftgelenkbeweglichkeit links bezüglich Auswärts- und Einwärts-Drehung, knöchern verheilte Fersenbeinfraktur links mit ausgeprägter Arthrose des USG und mäßige Arthrose des angrenzenden OSG sowie des Calcaneuscuboidalgelenks links, Wackelsteifigkeit des linken USG, endgradige Bewegungseinschränkung des linken OSG bezüglich Fußhebung und - senkung um 5 bzw. 10 Grad, Umfangminderung des linken Ober- und Unterschenkels, Minderung der Fußsohlenbeschwielung links im Sinne einer Belastungsinsuffizienz des linken Beines, knöchern verheilte Scaphoidfraktur rechts und pseudarthrotisch ausgeheilte Capitatumfraktur der rechten Handwurzel mit carpaler Instabilität des rechten Handgelenks in der Lunatumachse mit Hohlhand-Fehlstellung, ausgeprägte Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Handgelenks mit Einschränkung der Hohlhandbeweglichkeit um zwei Drittel im Vergleich zur unverletzten Gegenseite, Sensibilitätsminderung im Versorgungsgebiet des Nervus medianus nach posttraumatischem Carpaltunnelsyndrom, reizlose Narbenbildung nach Carpaltunnelspaltung rechts.

Durch die Verletzung im Bereich des linken Fersenbeins sei das Gangbild des Klägers gestört, was durch den unterschiedlichen Muskelumfang und die unterschiedliche Fußsohlenbeschwielung belegt werde. Es liege eine deutliche Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Handgelenks vor. Sensibilitätsstörungen nach posttraumatischem Carpaltunnelsyndrom seien für die Funktion der rechten Hand nicht maßgeblich. Entsprechend der Einschätzung durch Dr. T. und Prof. Dr. S. werde in dem alleinigen Auftreten des Carpaltunnelsyndroms noch keine Erhöhung der MdE gesehen. Bei jetzt allerdings nachgewiesener carpaler Instabilität mit zunehmender Bewegungseinschränkung bezüglich der Hohlführung im rechten Handgelenk sei ab dem 19.09.2006 eine Erhöhung der MdE auf 40 v.H. anzunehmen. Für die Funktionseinschränkung im Bereich des rechten Handgelenks sowie im Bereich der linken unteren Extremität sei jeweils eine MdE um 20 v.H. anzunehmen, hinzukomme die auf neurologischem Fachgebiet bestehende MdE um 10 v.H. Mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 18.10.2007 hat Prof. Dr. T. seine Einschätzung der MdE bekräftigt.

In einem weiteren von Amts wegen eingeholten Gutachten vom 24.02.2008 hat Prof. Dr. U.die Auffassung vertreten, dass in den ersten Rentengutachten vom 12.03.2000, 08.05.2001 und 11.08.2003 eindeutige Verbesserungen der Unfallfolgen dokumentiert seien. Danach lasse sich keine wesentliche Änderung mehr feststellen, so dass die Gesamt-MdE mit 30 v.H. zu veranschlagen sei. In den Gutachten, welche dem Gutachten vom 11.08.2003 nachgefolgt seien, sei lediglich eine gering zunehmende Bewegungseinschränkung im linken OSG mitgeteilt worden, wobei die Beschwerden nicht wesentlich zugenommen hätten. Entsprechend aktueller Gutachtenliteratur (mit Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003) werde der Fersenbeinbruch bei geringfügig erniedrigtem Tubergelenkwinkel und geringer sekundär arthrotischer Veränderung im unteren Sprunggelenk mit einer MdE um 10 v.H. bewertet. Aufgrund der Befunde vom 11.05.2005 und 29.09.2006 könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine Befundkonstellation erreicht werde, die am linken Bein einer MdE um 20 v.H. entspreche (mit Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 746). Die Bewegungsausmaße am rechten Handgelenk zwischen dem 11.08.2003 und dem 29.09.2006 gäben eher eine Funktionsverbesserung wieder, weswegen eine Erhöhung der MdE nicht angebracht erscheine.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers hat anschließend der Chirurg Dr. S. am 24.09.2008 ein weiteres Gutachten erstellt. In wesentlicher Abweichung zu den vorausgegangenen Gutachten hat Dr. S. eine bisher nicht erkannte transscaphoidale transcapitale perilunäre Luxationsfraktur und jetzt bestehende Subluxationsstellung der Handwurzel festgestellt, welche zu einer deutlichen Funktionseinschränkung des rechten Handgelenks führe. Zwar sei dem Vorgutachter darin beizupflichten, dass dem Carpaltunnelsyndrom für die Funktionsbeurteilung und die Bewertung der MdE keine wesentliche Bedeutung zukomme. Aufgrund der weiter fortgeschrittenen Beeinträchtigung des rechten Handgelenks sei jedoch weiter eine Gesamt-MdE um 40 v.H. anzunehmen. Nach Beiziehung älterer Röntgenaufnahmen und Vorlage dieser Aufnahmen bei Dr. S. hat dieser am 11.03.2009 in einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme mitgeteilt, dass die von ihm festgestellte Fraktur in diesen Röntgenaufnahmen bereits erkennbar sei.

Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. L. vom 25.06.2009 vorgelegt, wonach eine große Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die von Dr. S. festgestellte weitere ärztliche Diagnose als Unfallfolge zu werten sei.

Mit Urteil vom 24.11.2009 hat das SG die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 21.08.2003 und 23.07.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.07.2004 verurteilt, dem Kläger ab dem 19.09.2006 eine Verletztenrente nach einer Gesamt-MdE um 40 v.H. zu gewähren. Im vorliegenden Gutachterstreit sei nach den Ausführungen von Dr. S. davon auszugehen, dass die radiologisch nachgewiesene zusätzliche Verletzung des rechten Handgelenks zunächst nicht vollständig diagnostisch erfasst und bewertungsmäßig umgesetzt werden konnte. Ausgehend hiervon erscheine die MdE-Bewertung durch Dr. S. schlüssig. Eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen sei auch radiologisch nachgewiesen, und der Kläger habe glaubhaft zusätzliche Beschwerden geschildert. Es sei daher von einer Gesamt-MdE um 40 v.H. auszugehen. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 15.01.2010 zugestellt.

Am 26.01.2010 hat die Beklagte beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Die Beklagte ist der Auffassung, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen, welche eine Gesamt-MdE um 40 v.H. begründe, nicht nachgewiesen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24.11.2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Mit Beschluss des Senats vom 01.03.2010 ist die Vollstreckung aus dem Urteil bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz nach § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG ausgesetzt worden.

Am 01.02.2011 hat Prof. Dr. O. im Auftrag des Gerichts ein aktuelles unfallchirurgisches Sachverständigengutachten erstellt. Als unfallbedingte Gebrauchsbeeinträchtigungen des Klägers werden hierin angegeben: (Die beschriebenen) Narbenbildungen, messbare Einschränkungen der Beweglichkeit des rechten Handgelenks in allen Freiheitsgraden nach komplexer Verletzung des Karpus (Handwurzel) mit mittlerweile eingetretenem karpalem Kollaps, Sensibilitätsstörungen im Zwischennarbenbereich der rechten Hand sowie in den Fingern 2 und 3 (sensible Nervus medianus Teilläsion), eine geringe Einschränkung der Beweglichkeit des linken Hüftgelenks nach Femurfraktur (hinsichtlich der Rotation), eine nahezu vollständig aufgehobene Beweglichkeit des linken USG und gebrauchsmindernde Beweglichkeitsstörung des linken OSG nach Calcaneusfraktur und USG-Arthrose, messbare Muskelverschmächtigung des linken Beines im Ober- und Unterschenkelbereich als Folge der Gebrauchsminderung nach den beiden vorgenannten Diagnosen. Die auf neurologischem Fachgebiet vorliegende Einzel-MdE werde überwiegend mit weniger als 10 v.H. und damit als nicht wesentlich angesehen. Völlig zu Recht hätten Prof. Dr. T. 2007 und in wesentlich deutlicheren Worten Dr. S. 2008 erkannt, dass die primäre Schädigung des rechten Handgelenks in ihrer Komplexität völlig unterschätzt worden sei. Es habe sich damals auch nach seiner Auffassung - dies nahezu bewiesen durch die vorliegenden Röntgenbilder vom 30.07.2003 - um eine osteoligamentäre Verletzung (also Knochen- und Bandverletzung) mit 2003 schon feststellbarem "Carpalen Kollaps" (also Zusammenbruch des Gefüges der Handwurzelknochen) gehandelt. Allerdings gehe es im vorliegenden Rechtsstreit nicht um die Feststellung von früheren Verletzungen, sondern um die aktuell feststellbaren gebrauchsbehindernden Verletzungsfolgen. Diese seien offensichtlich zwischen allen Vorgutachtern unstreitig und begründeten lediglich eine Gesamt-MdE um 30 v.H. Eine MdE um 40 v.H. könne lediglich bis zur Rentennachprüfung in dem Gutachten vom 18.05.2001 angenommen werden.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts (LSG) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat aufgrund der Unfallfolgen zu Recht eine Verletztenrente nach einer MdE um 40 v.H. zuerkannt.

Gemäß § 26 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Entschädigungsleistungen u. a. in Form von Heilbehandlung (§ 27 SGB VII) oder Geldleistungen (Verletztengeld § 45 SGB VII und Rente § 56 SGB VII ). Insbesondere nach § 56 Abs. 1 SGB VII erhalten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, eine Rente. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 SGB VII).

Erforderlich ist, dass sowohl ein kausaler Zusammenhang zwischen der in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall als auch zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden besteht. Diese so genannte doppelte Kausalität wird nach herkömmlicher Dogmatik bezeichnet als die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität. Für beide Bereiche der Kausalität gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung sowie der Beweismaßstab der - überwiegenden - Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R -, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12).

Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Es gibt im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a.F. RVO; BSG, Urteil vom 07.09.2004 - B 2 U 34/03 R; zu Berufskrankheiten vgl. § 9 Abs. 3 SGB VII). Für die Feststellung dieses Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (st. Rspr. BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a.F. RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 a.F. RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteil vom 09.05.2006 a.a.O. mit Hinweis auf BSG SozR Nr. 41 zu § 128 SGG; BSG SozR Nr. 20 zu § 542 a.F. RVO; BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a.F. RVO; BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 67). Dagegen müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist zunächst zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass beim Kläger neben den bekannten Verletzungen seiner unteren linken und oberen rechten Extremität an der rechten Handwurzel auch eine Knochen- und Bandverletzung (mit 2003 schon feststellbarem Kollaps) als Unfallfolge vorliegt, welche zunächst nicht als solche erkannt worden ist. Prof. Dr. O. und auch die Beratungsärztin Dr. L. der Beklagten weisen überzeugend nach, dass diese Verletzung bereits 2003 auf den Röntgenaufnahmen des Klägers (vgl. Bl. 183 der Verwaltungsakte) nachgewiesen und dem Unfallgeschehen zuzuordnen ist.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfall- bzw. Berufskrankheitsfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urteil vom 26.06.1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urteil vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Folgen des Unfalls oder der Berufskrankheit beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Beschluss vom 22.08.1989 - 2 BU 101/89 -, in: HVBG-Info 1989 S. 2268). Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.

Prof. Dr. O. hat in seinem aktuellen Gutachten zu Recht darauf hingewiesen, dass seine Vorgutachter hinsichtlich der medizinisch feststellbaren Unfallfolgen nicht wesentlich voneinander abweichen, und die dokumentierten Meinungsverschiedenheiten die Höhe der zutreffenden MdE-Bewertung betreffen.

An der rechten oberen Extremität liegen beim Kläger messbare Einschränkungen der Beweglichkeit des rechten Handgelenks in allen Freiheitsgraden nach komplexer Verletzung des Karpus (Handwurzel) mit mittlerweile eingetretenem karpalem Kollaps, Sensibilitätsstörungen im Zwischennarbenbereich der rechten Hand sowie in den Fingern 2 und 3 (sensible Nervus medianus Teilläsion) sowie Narbenbildungen vor. Nach der unfallmedizinischen Literatur ist bei einer völligen Versteifung des Handgelenks von einer MdE um 30 v.H. auszugehen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 552). Eine vergleichbare Funktionsbeeinträchtigung erreichen die Verletzungsfolgen an der rechten Hand des Klägers indes noch nicht. Da auch die Gutachter Prof. Dr. T., Prof. Dr. U. und Dr. S. in diesem Bereich eine MdE um 20 v.H. annehmen, bestehen für den Senat keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser Einschätzung.

Die Einzel-MdE auf neurologischem Fachgebiet für die feststellbare Teilschädigung des Nervus medianus geht nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. O. völlig in den funktionellen Gebrauchsbehinderungen des rechten Handgelenkes und der sich daraus begründenden MdE auf. Es muss daher nicht über die zwischen den Gutachtern strittige Frage entschieden werden, ob für diese Nervenverletzung bereits eine MdE um 10 v.H. erreicht wird. Auch der von dem Kläger benannte Gutachter Dr. S. hat deutlich hervorgehoben, dass dem Carpaltunnelsyndrom für die Funktionsbeurteilung und die Bewertung der MdE keine wesentliche Bedeutung zukommt.

Die Einzel-MdE des linken Beines (insgesamt) wird nach Prof. Dr. O. aktuell kaum von den Folgen der erlittenen Femurfraktur bestimmt. Die objektiv feststellbare Gebrauchsbehinderung beruhe auf den beschwerdeführenden Veränderungen am USG (weniger des OSG) links. Denn beim Kläger liegt nur eine gering eingeschränkte Beweglichkeit des linken Hüftgelenks nach Femurfraktur (hinsichtlich der Rotation) vor, wohingegen eine nahezu vollständig aufgehobene Beweglichkeit des linken USG und gebrauchsmindernde Beweglichkeitsstörung des linken OSG besteht, bei denen messbare Muskelverschmächtigungen bestehen. Hier sei insgesamt für alle Unfallfolgen am linken Bein gerade eben eine MdE um 20 v.H. zu begründen (mit Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Seite 679). Auch diese Einschätzung einer Teil-MdE um 20 v.H. ist nach den vorliegenden Befunden und anderen ärztlichen Stellungnahmen hierzu überzeugend.

Nicht überzeugend ist die Schlussfolgerung unter anderem von Prof. Dr. O., dass vorliegend die resultierende Gesamt-MdE unter dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Versicherten mit lediglich 30 v.H. eingeschätzt werden müsse.

Betreffen die Unfallfolgen mehrere Körperteile und Organe, so ist das Gesamtbild aller Funktionseinschränkungen mit einem MdE-Wert im Ganzen zu würdigen, d. h. eine Gesamt-MdE zu bilden. Dabei dürfen die einzelnen MdE-Ansätze nicht schematisch zusammengerechnet werden. Entscheidend ist eine integrierende "Gesamtschau der Gesamteinwirkungen" aller Funktionseinschränkungen auf die Erwerbsfähigkeit (vgl. BSGE 48, 82; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 103). Bei der integrierenden Gesamtschau ist der Grad der MdE in aller Regel niedriger als die Summe der Einzelschäden (Einzel-MdE-Grade). Auch sich überlagernde oder überschneidende Funktionseinschränkungen bemessen die Gesamt-MdE geringer als die Summe der einzelnen MdE-Werte (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.03.2006 - L 17 U 178/04 - UV-Recht Aktuell 2007, 692). Andererseits kann auch eine mehrfache Addition zulässig sein und gar eine höhere Gesamt-MdE als das bloße Additionsergebnis, wenn die einzelnen Funktionseinschränkungen sich gegenseitig verstärken (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 159; vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 07.09.2010 - L 1 U 260/09 -).

Das Argument Prof. Dr. O., eine MdE um 40 v.H. werde z.B. bei einer Amputation im Kniegelenk oder bei einem nicht mehr belastungsfähigen Bein anerkannt, trifft zwar zu. Andererseits ist ein Überschneiden der Funktionsbereiche der festgestellten Unfallfolgen an der linken unteren und der rechten oberen Extremität nicht gegeben.

Berücksichtigt man, dass an der linken unteren Extremität zudem eine untypische großflächige Funktionsbeeinträchtigung vorliegt (Versteifung des USG, Einschränkung des OSG, Bewegungseinschränkung in der linken Hüftpfanne) und neben der Funktionsbeeinträchtigung der rechten Hand auch Missempfindungen und Schmerzen in diesem Bereich vorliegen, die nicht typischerweise bei diesen Einschränkungen vorhanden sind, erscheint eine Gesamt-MdE von 40 v.H. als angemessen. Insoweit stützt sich der Senat auf die Gesamtbewertung der Schwere der Unfallfolgen durch Prof. Dr. T. und Dr. S., die ebenfalls die Auffassung vertreten haben, dass bei dem Kläger eine Gesamt-MdE um 40 v.H. vorliegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Ausführungen dieser beiden Gutachter Bezug genommen. Durch diese Gutachten ist, unter anderem auch wegen der hinzugetretenen neuen Unfallfolgen, eine wesentliche Änderung im Sinne einer Erhöhung der MdE auf nunmehr eine solche um 40 v.H., schlüssig nachgewiesen worden.

Dieses Ergebnis wird auch durch den Vergleich von Prof. Dr. O. mit dem Verletzten, dessen Unterschenkel in Kniehöhe amputiert ist, gestützt. Denn dieser Teil-Amputierte kann sich ggf. unter Verwendung einer gut angepassten Prothese ähnlich gut wie der Kläger fortbewegen, ohne wie der Kläger jedoch in der Nutzung seiner rechten Hand deutlich eingeschränkt zu sein oder über Schmerzen und Missempfindungen in der rechten Hand zu klagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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