S 5 AS 462/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 462/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, in welcher Höhe der Beklagte das zu erwartende Erwerbseinkommen des Ehemannes der Klägerin im Rahmen der vorläufigen Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) zugrunde zu legen hat.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin bezieht als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, zu der zudem ihr am 00.00.0000 geborener Ehemann und der gemeinsame am 00.00.0000 geborene Sohn gehören, seit längerem Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin war bis April 2009 auf geringfügiger Basis beschäftigt. Der Ehemann der Klägerin bezieht in variierender Höhe Erwerbseinkommen aus einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis mit einer Alten-, Kranken- und Pflegeeinrichtung in T.

Hinsichtlich des SGB II-Bewilligungszeitraumes von Juli bis Dezember 2009, der dem hier streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum von Januar bis Juni 2010 vorgelagert ist, bewilligte der Beklagte der Klägerin und den anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 15.07.2009 vorläufig Leistungen. Dabei legte der Beklagte der Leistungsberechnung einen Bedarf der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 1.242,50 EUR (861,- EUR als Regelleistungen und 381,50 EUR als Kosten der Unterkunft und Heizung) zugrunde. Hinsichtlich des Monats Juli 2009 rechnete der Beklagte (neben dem Kindergeld für den Sohn der Klägerin) das für den Monat Juni 2009 im Juli ausgezahlte Einkommen des Ehemannes der Klägerin in Höhe von 1.141,28 EUR unter Abzug der Freibeträge gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 bzw. § 30 SGB II (ausgehend von dem entsprechenden Bruttoeinkommen in Höhe von 1.438,27 EUR) an. Hinsichtlich der Monate August bis Dezember 2009 rechnete der Beklagte vorläufig ein auszuzahlendes Erwerbseinkommen in Höhe von 1.150,- EUR unter Abzug entsprechender Freibeträge an. Demnach bewilligte der Beklagte den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft SGB II-Leistungen für den Monat Juli 2009 in Höhe von 241,05 EUR und für die Monate August bis Dezember 2009 vorläufig in Höhe von jeweils 228,50 EUR. Nachdem der Ehemann der Klägerin am 10.08.2009 die Einkommensbescheinigung für Juli 2009 (bei einer Auszahlung im August) dem Beklagten vorgelegt hatte, erliess dieser am 11.08.2009 einen Änderungsbescheid, in dem er unter Zugrundelegung des ausgezahlten Einkommens in Höhe von 1.145,05 EUR die für den Monat August 2009 zu bewilligenden Leistungen auf 237,28 EUR festsetzte. Zudem wies er am gleichen Tag eine Nachzahlung des Differenzbetrages in Höhe von 8,78 EUR an. Nach Vorlage des Einkommensnachweises für August 2009 über 1.048,59 EUR am 18.09.2009 wies der Beklagte am 23.09.2009 (ohne den parallelen Erlass eines Änderungsbescheides) eine Nachzahlung in Höhe von 95,59 EUR an. Nach Vorlage des Einkommensnachweises für September 2009 über 1.024,48 EUR am 08.10.2009 wies der Beklagte am gleichen Tag (ohne den parallelen Erlass eines Änderungsbescheides) eine Nachzahlung in Höhe von 117,29 EUR an. Nach Vorlage des Einkommensnachweises für Oktober 2009 über 1.048,59 EUR am 12.11.2009 wies der Beklagte am gleichen Tag (ohne den parallelen Erlass eines Änderungsbescheides) eine Nachzahlung in Höhe von 95,59 EUR an. Nach Vorlage des Einkommensnachweises für November 2009 über 1.107,95 EUR am 15.12.2009 wies der Beklagte am 17.12.2009 eine Nachzahlung in Höhe von 2,57 EUR an. Zugleich erliess er am 17.12.2009 einen Änderungsbescheid, der die Leistungsbewilligung für den Zeitraum Juli bis Dezember 2009 endgültig festsetzte. Dieser Bescheid wurde im Rahmen eines Gerichtsverfahrens (vgl. S 5 AS 504/10 des Sozialgerichts Aachen) mit Bescheid vom 07.06.2010 geändert, da hinsichtlich des Monats Dezember 2009 ein ausgezahltes Einkommen in Höhe von 1.107,95 EUR und nicht - wie mit Bescheid vom 17.12.2009 erfolgt - in Höhe von 1.147,55 EUR zugrunde zu legen war.

Hinsichtlich des hier streitgegenständlichen Bewilligungszeitraumes von Januar bis Juni 2010 bewilligte der Beklagte der Klägerin und den beiden anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 01.12.2009 vorläufig Leistungen. Dabei legte der Beklagte der Leistungsberechnung einerseits einen Bedarf der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erneut in Höhe von 1.242,50 EUR (861,- EUR als Regelleistungen und 381,50 EUR als Kosten der Unterkunft und Heizung) und andererseits neben dem Kindergeld in Höhe von 164,- EUR für den Sohn der Klägerin ein auszuzahlendes Erwerbseinkommen des Ehemannes der Klägerin in Höhe von 1.150,- EUR unter Abzug entsprechender Freibeträge zugrunde, so dass eine vorläufige Bewilligung von monatlichen SGB II-Leistungen in Höhe von erneut 228,50 EUR erfolgte. Aufgrund der Erhöhung des Kindergeldes auf 184,- EUR zum Januar 2010 passte der Beklagte die Leistungsbewilligung für den streitgegenständlichen Zeitraum von Januar bis Juni 2010 mit Änderungsbescheid vom 05.01.2010 an, so dass eine vorläufige Bewilligung von monatlichen SGB II-Leistungen in Höhe von 208,50 EUR erfolgte.

Mit Schriftsatz vom 14.01.2010 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.01.2010. Zur Begründung führte diese aus, dass die erfolgte Schätzung des Hinzuverdienstes des Ehemannes offensichtlich unzutreffend sei. Der durchschnittliche Monatsverdienst läge bei 1.103,76 EUR

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die zur Vermeidung einer Überzahlung erfolgte vorläufige Anrechnung eines fiktiven monatlichen Einkommens in einer das im vorigen Bewilligungszeitraum erzielte monatliche Durchschnittseinkommen des Ehemannes übersteigenden Höhe sei nicht zu beanstanden.

Auch in den Monaten Januar bis Juni 2010 reagierte der Beklagte unmittelbar nach Vorlage des Nachweises zum Erwerbseinkommen aus dem vorigen Monat, so dass ein Anpassung der Leistungshöhe jeweils (jedoch hinsichtlich der Monate Februar und März 2010 fehlerhaft) erfolgte. Am 22.04.2010 erliess der Beklagte zudem einen Änderungsbescheid zum Monat Januar 2010 nach Vorlage eines geänderten Einkommensnachweises. In den Monaten Januar bis Juni 2010 wurde dem Ehemann der Klägerin folgendes Erwerbseinkommen (zum Vormonat) ausgezahlt: 1.152,47 EUR im Januar, 1.000,36 EUR im Februar, 1.133,00 EUR im März, 1.052,30 EUR im April, 1.048,59 EUR im Mai und 1.135,78 EUR im Juni.

Am 26.04.2010 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, dass bei schwankendem Einkommen zwar eine Schätzung des monatlichen Erwerbseinkommens im Rahmen der Leistungsberechnung zulässig sei. Diese Schätzung habe sich jedoch nach den konkreten Lebensumständen zu richten und dürfe nicht nach freiem Ermessen erfolgen. Die Verwaltungspraxis des Beklagten, d.h. die geringere vorläufige Leistungsbewilligung mit anschließender Nachzahlung, sei rechtswidrig. Im Leistungsbereich des SGB II, in dem Leistungen zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins gewährt werden, sei der jeweilige Leistungsträger vorleistungspflichtig, er habe in derartigen Fällen mit Änderungs- und Erstattungsbescheiden (und nicht mit Nachzahlungen) zu arbeiten, wenn ein Einkommen der Hilfebedürftigen am Beginn des Leistungsmonats noch nicht feststeht.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 01.12.2009 und vom 05.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2010 zu verurteilen, ihr und den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft höhere vorläufige monatliche Leistungen als 208,50 EUR zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht er sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und trägt ergänzend vor, dass die Anrechnung eines fiktiven monatlichen Einkommens in Höhe von 1.150,- EUR nicht rechtswidrig sei.

Auch hinsichtlich des folgenden Bewilligungsabschnittes von Juli bis Dezember 2010 hat der Beklagte der Leistungsberechnung ein fiktives Einkommen des Ehemannes der Klägerin in Höhe von 1.150,- EUR zugrunde gelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht in ihren Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG verletzt. Der Beklagte war berechtigt, im Rahmen der vorläufigen Leistungsbewilligung für den Zeitraum Januar bis Juni 2010 ein fiktives monatliches Erwerbseinkommen des Ehemannes der Klägerin in Höhe von 1.150,- EUR zu berücksichtigen.

Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld (ALG II-V) in der Fassung vom 17.12.2007 (BGBl. I 2007, 2942), geändert am 23.07.2009 (BGBl. I 2009, 2340) kann als Einkommen ein monatliches Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt werden, wenn bei laufenden Einnahmen im Bewilligungszeitraum zu erwarten ist, dass diese in unterschiedlicher Höhe zufließen. Als monatliches Durchschnittseinkommen ist für jeden Monat im Bewilligungszeitraum der Teil des Einkommens zu berücksichtigen, der sich bei der Teilung des Gesamteinkommens im Bewilligungszeitraum durch die Anzahl der Monate im Bewilligungszeitraum ergibt (vgl. Satz 2 des § 2 Abs. 3 ALG II-V).

Hinsichtlich der Frage, "ob" ein monatliches Durchschnittseinkommen als Einkommen gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 ALG II-V zugrunde gelegt wird, sind keine Ermessensfehler ersichtlich. Vielmehr hatte bzw. hat der Beklagte keine andere Möglichkeit, da am Monatsbeginn die Höhe des Einkommens des Ehemannes der Klägerin noch nicht feststand bzw. feststeht.

Aber auch die Bestimmung der Höhe des vorläufig zugrunde gelegten Erwerbseinkommens des Ehemannes der Klägerin ist nicht zu beanstanden. Als Orientierungswert ist das durchschnittliche Monatseinkommen des vorigen Bewilligungszeitraumes zu wählen (so auch Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit für die Anwendung des Sozialgesetzbuch II [DH-BA SGB II], Nr. 11.8). § 2 Abs. 3 Satz 2 ALG II-V trifft ausdrücklich nur eine Regelung für ein in der Summe bekanntes Einkommen, indem die Vorschrift vorsieht, dass das Gesamteinkommen des Bewilligungszeitraumes (also des künftigen Zeitraumes) durch die Zahl der Monate des (künftigen) Zeitraumes zu teilen ist. Wenn indes das Gesamteinkommen für den (künftigen) Zeitraum - wie hier ebenfalls das Einkommen für jeden einzelnen Monat dieses Zeitraumes - noch nicht feststeht und keine Änderung gegenüber dem vorigen Zeitraum zu erwarten ist, ist der Beklagte berechtigt, das Gesamteinkommen des vorigen Bewilligungszeitraumes heranzuziehen und das durchschnittliche Monatseinkommen dieses Bewilligungszeitraumes bei der Leistungsberechnung zugrunde zu legen.

Das von dem Beklagten berücksichtigte fiktive Einkommen des Ehemannes der Klägerin in Höhe von 1.150,- EUR ist nicht zu beanstanden. Es ist zwar richtig, dass das ausgezahlte monatliche Durchschnittseinkommen im vorigen Bewilligungszeitraum 1.085,99 EUR (1.141,28 EUR, 1.145,05 EUR, 1.048,59 EUR, 1.024,48 EUR, 1.048,59 EUR und 1.107,95 EUR, d.h. insgesamt 6.515,94 EUR) beträgt und demnach unter dem vorläufig zugrunde gelegten Erwerbseinkommen liegt. Zu beachten ist aber zum einen, dass der Klägerin und den anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft im vorigen Zeitraum auch in dem Monat, in dem das vergleichsweise geringste ausgezahlte Erwerbseinkommen erzielt wurde (d.h. im Oktober 2009: 1.024,48 EUR), zusammen mit den vorläufig ausgezahlten SGB II-Leistungen (228,50 EUR) und dem Kindergeld (164,- EUR) ein Betrag verblieb, der den ermittelten SGB II-Bedarf in Höhe von 1.242,50 EUR überstieg. Dieses ist der Betrag, der nicht unterschritten werden darf, damit die Gewährleistung des Existenzminimums gesichert ist (vgl. auch DH-BA SGB II, Nr. 11.8). Anzumerken ist, dass auch im streitgegenständlichen Zeitraum dieser Betrag nicht unterschritten wurde (Mindesteinkommen: 1.000,36 EUR im Februar 2010). Die Summe in Höhe des Freibetrags, die der Klägerin und den anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft bei dieser Verwaltungspraxis kurzfristig teilweise nicht zur Verfügung stand und steht, ist nicht als notwendiger Bedarf für den Lebensunterhalt vorgesehen; der Freibetrag dient vorwiegend der Schaffung eines Anreizes zur Beschäftigung. Zum anderen ist auch zu beachten, dass der Beklagte stets nach Vorlage des Nachweises über das tatsächliche ausgezahlte Einkommen umgehend eine Nachzahlung in Höhe des ermittelten Differenzbetrages veranlasst hat, so dass die Klägerin und die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nur kurzfristig auf diesen Differenzbetrag verzichten mussten bzw. müssen.

Aufgrund der durch die Bestimmung der Höhe des fiktiven Erwerbseinkommens von 1.150,- EUR erfolgten Gewährleistung des Existenzminimums und der umgehenden Nachzahlung des Differenzbetrages nach Vorlage des Nachweises über das tatsächliche Einkommen ist die Verwaltungspraxis des Beklagten, also die Zufügung eines "Aufschlages" zum durchschnittlichen Monatseinkommen des vorigen Bewilligungszeitraumes, angemessen und für die Klägerin und die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zumutbar, somit rechtmäßig. Eine Änderung der Verwaltungspraxis, z.B. durch Reduzierung der Höhe des fiktiven Erwerbseinkommens auf 1.100,- EUR und Korrektur nach Vorlage des Nachweises über das tatsächliche Einkommen zum Teil in Form von Änderungs- und Erstattungsbescheiden, ist nicht erforderlich, soweit keine Änderungen hinsichtlich der Höhe des Erwerbseinkommens des Ehemannes der Klägerin zu erwarten sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Beschwerdewert gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG wird nicht erreicht. Die Berufung wird indes gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Fragestellung, wie zukünftiges unklares Einkommen bei der vorläufigen Leistungsbewilligung anzurechnen ist, ist in der Rechtsprechung bisher nicht ausreichend geklärt.
Rechtskraft
Aus
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