L 9 U 4126/08

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 4708/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 4126/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. Juli 2008 aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob beim Kläger eine Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) vorliegt und die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil zu Recht verpflichtet wurde, ihren früheren ablehnenden Bescheid zurückzunehmen und diese BK anzuerkennen.

Der 1944 geborene Kläger war nach seinen Angaben von 1963 bis 1970 in Slowenien bei einer Baufirma beschäftigt und danach von 1970 bis 1973 als Metallarbeiter bei der Fa LTG M. GmbH (ab zweitem Quartal 1971 in der Abteilung Tunnelbau) sowie ab 26. Juni 1973 bei der Fa N. M. GmbH & Co. KG (Fa N.), wo er u. a. Lärmeinwirkungen durch Druckmaschinen ausgesetzt war, auf die er seine Gehörschädigung zurückführt.

Nach der Anzeige wegen Verdachts einer berufsbedingten Lärmschädigung des HNO-Arztes Dr. N. vom 01. August 2002 (es bestünden seit etwa 1990 eine Hörminderung und ein Tinnitus rechts, Diagnose: mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits), der eine Abschrift eines Audiogramms vom 05. Juli 2002 beigefügt war, leitete die Beklagte (damals Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung, jetzt nach Zusammenschluss Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse) Ermittlungen ein.

Der Kläger gab am 12. August 2002 an, er sei ab 1973 dem Lärm von mehreren Druckmaschinen ausgesetzt gewesen und habe wegen Gehörbeschwerden erstmals im März 1989 den HNO-Arzt Dr. F. aufgesucht. Ursache seiner Gehörstörung sei seines Erachtens ein konstanter hoher Lärmpegel in der Druckerei.

In einem beigezogenen Arztbrief der HNO-Universitätsklinik T. vom 13. November 1989 ist über eine Vorstellung vom 18. Oktober 1989 in der Tinnitus-Sprechstunde berichtet (Diagnose: Tinnitus bei Lärmschwerhörigkeit, der Kläger berichte über ein seit etwa sechs Monaten bestehendes Ohrgeräusch beidseits bei subjektiv normalem Hörvermögen, das Reintonaudiogramm beidseits habe eine symmetrische Senke bei 6 kHz ergeben, ansonsten sei das Hörvermögen altersentsprechend normal, die Ableitung der akustisch evozierten Potentiale [BERA] habe einen Normalbefund ergeben, wegen der Lärmanamnese habe man dringend den strikten Gebrauch von persönlichen Lärmschutzmitteln empfohlen). Weiter wurden Aufzeichnungen der Universitäts-HNO-Klinik T. über eine Vestibularisprüfung vom 21. August 1989, eine BERA-Untersuchung vom 21. August 1989 und Ohrgeräuschmessungen vom 21. August und 18. Oktober 1989 beigezogen sowie Aufzeichnungen der Abteilung Innere Medizin des Universitätsklinikums T. vom 04. September 1989 (Hinweis auf autoimmunen Prozess bei Nachweis von Antikörpern [Ak] gegen Kerne vom feinspeckled Typ). Weiter beigezogen wurden Unterlagen der AOK über Erkrankungen und Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers. Dr. Neubauer legte noch ein Sprachaudiogramm vom 26. Juli 2002 vor.

Die Fa Nussbaum teilte am 11. September 2002 mit, der Kläger sei in der Zeit seit 1973 u. a. dem Lärm einer Druckmaschine der Fa A. A 101 ausgesetzt gewesen. Eine zusätzliche Lärmquelle sei im Abstand von 10 Metern ein Sammelhefter (Müller-Martini SH 300) gewesen. Montags und freitags werde nicht gedruckt und der Kläger habe montags meist frei. In der Regel werde dienstags in der Tagschicht drei Stunden und in der Nachtschicht fünf bis sechs Stunden, mittwochs in der Tagschicht acht Stunden und in der Nachtschicht neun Stunden sowie donnerstags in der Tagschicht sieben Stunden und in der Nachtschicht sechs Stunden gedruckt. Persönlicher Gehörschutz werde getragen. Beigefügt waren Aufzeichnungen über arbeitsmedizinische Vorsorgemaßnahmen (zum Teil von Dr. F. und dann von der Arbeitsmedizinerin Dr. Gaiser bzw. später von der Betriebsärztin Dr. H., die entsprechende Aufzeichnungen, u.a. auch Audiogramme und Untersuchungsbögen Lärm vorlegte), wobei der Kläger zum Teil Untersuchungen abgelehnt hatte.

Die Beklagte veranlasste ferner ein schallmesstechnisches Gutachten, das der Messtechniker (MT) B. am 19. Dezember 2002 nach Ermittlungen im Beschäftigungsbetrieb des Klägers u. a. auf Grund von Auskünften des Betriebsleiters, der Betriebsratsvorsitzenden und des Klägers erstellte. Danach wurden montags Reinigungs- und Wartungsarbeiten durchgeführt und die Rollenrotations-Offsetdruckmaschine, Typ A 101, vorbereitet und eingerichtet. Freitags wurde nicht gedruckt. Der Kläger verrichtete freitags Hausmeistertätigkeiten auf dem gesamten Betriebsgelände. Der MT B., der auch Protokolle über Messungen im Beschäftigungsbetrieb vom 13. Juli 1988 und 04. Dezember 2002 verwertete, führte aus, Messungen zur Beurteilung des Lärmpegels in der Zeit von 1973 bis 1980 seien wegen Veränderungen im Maschinenbestand und der Produktionsstätte nicht mehr möglich. Nach den Erfahrungswerten sei von 1973 bis 1974 von einem Beurteilungspegel von LArd ( 85 dB, von 1975 bis 1977 von einem Beurteilungspegel von LArd 85 dB und von 1978 bis 1980 von einem Beurteilungspegel mehr als LArd 85 dB auszugehen. Von 1981 an sei je nach Laufzeit der Rollenoffset-Druckmaschine A 101 von einem Beurteilungspegel von LArd 90 bis 95 dB auszugehen, wobei der Beurteilungspegel montags und freitags unter LArd 85 dB gelegen habe. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf das in den Verwaltungsakten der Beklagten enthaltene Gutachten vom 19. Dezember 2002 verwiesen.

Der HNO-Arzt Prof. Dr. St. gelangte dann in einem Gutachten und seiner ergänzenden Stellungnahme zum Ergebnis, beim Kläger bestehe eine mittelgradige, nahezu symmetrisch ausgeprägte reine Schallempfindungsschwerhörigkeit. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen am Arbeitsplatz sei der Lärmdruck geeignet gewesen, eine Schallempfindungsschwerhörigkeit hervorzurufen. Gegen eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit spreche eine feststellbare Schwerhörigkeit bereits in den tiefen Frequenzen. Eine Tieftonschwerhörigkeit werde im allgemeinen nur bei außergewöhnlich hoher Lärmbelastung von mehr als 110 dB, beispielsweise bei Metallschleifern und Schmiedeberufen, beobachtet. Ferner seien die auf eine Haarzellschädigung hindeutenden Teste wie SISI-Test und das Geräuschaudiogramm nach Langenbeck negativ ausgefallen. Bei einer berufsbedingten Schwerhörigkeit müsste der SISI-Test mit Lautheitsunterschieden von einem dB zu 100 % erkannt werden und es müsste im Geräuschaudiogramm nach Langenbeck die Kurve mit Geräusch zu den Kurven ohne Geräusch in den höheren Frequenzen eine Deckungsgleichheit aufweisen. Die Abstandsgehörprüfung deute ferner eher auf eine geringgradige Schwerhörigkeit hin, da nämlich viersilbige Zahlenworte jeweils nach Vertäubung des Gegenohrs bis zu einer Entfernung von fünf Metern verstanden würden. Die ausgeprägte Schallempfindungsschwerhörigkeit sei sicher nur zu einem Teil berufsbedingt entstanden. Lärmdruckhöhe und Dauer der Lärmbelastung hätten nicht ausgereicht, eine derartige Tieftonschwerhörigkeit hervorzurufen. Das vorliegende Ohrgeräusch sei nicht berufsbedingt. Er schlage vor, nur einen Teil der Schallempfindungsschwerhörigkeit als berufsbedingt anzuerkennen "mit einer Minderung von 10 %". In seiner ergänzenden Stellungnahme hat er ausgeführt, der im Bericht des Universitätsklinikums T. vom 04. September 1989 erwähnte Hinweis auf einen Autoimmunprozess (Nachweis von Antikörpern gegen Kerne von feinspeckled Typ) weise auf eine berufsunabhängige Erkrankung des rechten Innenohrs hin. Auch die angegebenen Knackgeräusche stellten in keinem Fall eine berufsbedingte Innenohrerkrankung dar. Deshalb habe er bei der Beurteilung der MdE auch den Tinnitus nicht berücksichtigt. Der überwiegende Anteil der Schallempfindungsschwerhörigkeit sei berufsunabhängig entstanden.

Der HNO-Arzt Dr. H. ist in einer beratungsfachärztlichen Stellungnahme zum Ergebnis gelangt, die lärmtechnischen Voraussetzungen zur Entstehung einer Lärmschwerhörigkeit lägen mit der beruflichen Lärmexposition (seit 1975) vor. Der dokumentierte langsam voranschreitende symmetrische Hochtonverlust entspreche den Gesetzmäßigkeiten des chronischen Lärmtraumas. Hiermit nicht zu vereinbaren sei allerdings der dramatische Tieftonverlust mit horizontalem Verlauf der Hörschwellenkurve um 30 dB. Bei chronischen Lärmtraumen könne es zu einer Mitbeteiligung der tiefen Frequenzen erst nach jahrzehntelanger Exposition mit deutlich höheren Schallpegeln kommen. Auch die Konfiguration der Hörschwellenkurve sei dann eine andere. Ein horizontaler Verlauf der Frequenzen unterhalb 1500 Hz sei mit einem chronischen Lärmtrauma nicht zu vereinbaren. Auch die deutliche Progredienz innerhalb eines Jahres von zunächst normaler Hörkurve im tiefen und mittleren Frequenzband spreche für eine lärmunabhängige Genese. Der fehlende Lautheitsausgleich in SISI- und Langenbeck-Test sowie das nicht nachweisbare Metz-Recruitment sprächen gleichfalls gegen einen isolierten, durch Lärm bedingten Harzellschaden. Ferner fänden sich als Hinweise auf eine lärmunabhängige Genese der Hörstörung der Nachweis von Antikörpern gegen Kerne und damit ein Autoimmun-Prozess, die Störung des peripheren Vestibular-Apparates sowie auch der Tinnitus mit "Knack-Charakter" und einer Verdeckbarkeit im mittleren Frequenzband. Somit seien zwar die lärmtechnischen Voraussetzungen zur Entstehung eines lärmbedingten cochleären Schadens gegeben, doch sprächen die Befunde eher gegen eine berufliche Ursache. Die von Prof. Dr. St. vorgenommene Teilung in einen lärmbedingten und einen lärmunabhängigen Anteil sei nur zulässig, wenn eine objektive Abgrenzung erfolgen könne, was hier nicht der Fall sei. Damit sei nach dem dann anzuwendenden Grundsatz der wesentlichen Bedingung eindeutig eine endogene, lärmunabhängige Genese des Lärmschadens anzunehmen. Eine durch Lärmarbeit bedingte Teil-MdE könne nicht sicher abgegrenzt werden. Selbst wenn man einen Harzellschaden (positives Recruitment) unterstelle, läge die entsprechende Teil-MdE unter 10 %.

Der staatliche Gewerbearzt Dr. G. schlug dann vor, eine BK Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV in nicht entschädigungspflichtigem Ausmaß anzuerkennen, und schätze die dadurch bedingte MdE auf 0 %.

Mit Bescheid vom 15. August 2003 entschied die Beklagte, beim Kläger liege keine BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV vor, weswegen Ansprüche auf Leistungen nicht bestünden, auch nicht auf Leistungen oder Maßnahmen, die geeignet seien, dem Entstehen einer BK entgegen zu wirken. Der Kläger habe künftig bei lärmintensiven Tätigkeiten konsequent geeignete persönliche Gehörschutzmaßnahmen durchzuführen, um dem Entstehen einer BK entgegenzuwirken.

Mit Schreiben vom 2. September 2003 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass er zumindest während der Tätigkeiten an der Rollenrotations-Offsetdruckmaschine gehörschädigendem Lärm ausgesetzt sei und dabei konsequent geeignete persönliche Schutzmaßnahmen durchzuführen habe. Er wolle deshalb auch im eigenen Interesse die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Gehörschutzmittel konsequent tragen. Ferner wies sie auf die Mitwirkungspflichten und § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hin.

Am 05. Januar 2004 beantragte der Kläger, den Bescheid vom 15. August 2003 zurückzunehmen. Er leide zumindest unter einer mittelgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen beidseits. Bereits 1976 habe er Gehörprobleme bekommen. Er sei damals dem Lärm einer lauten Maschine in einer kleinen Halle 10 Stunden täglich ohne Unterbrechung und ohne Gehörschutz ausgesetzt gewesen. Inzwischen arbeite er seit längerem in einer größeren Fabrikhalle, in der auch fünf Druck- und zwei Falzmaschinen stünden. Gehörschutz sei erst Ende der achtziger Jahre eingeführt worden. Er sei vor allem an einer Druckmaschine beschäftigt gewesen, die lauter sei als eine Falzmaschine, und er arbeite weiterhin mehr als acht Stunden täglich. Im Übrigen könnten auch Hörverluste im tiefen und mittleren Frequenzbereich lärmbedingt sein. Er sei Lärm von meist über 85 dB (A) bzw. extrem hohen Lärmpegeln ausgesetzt gewesen. Es bestehe ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der beruflichen Lärmexposition und der nachgewiesenen Schwerhörigkeit sowie dem Tinnitus, weswegen eine BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV anzuerkennen sei. Zu ermitteln wäre noch die Höhe der MdE.

In einem weiteren Gutachten vom 25. Mai 2004 legte der MT B. ergänzend dar, für die Zeit von 1981 bis Dezember 2002 sei unter Berücksichtigung der erhobenen Daten aus dem schallmesstechnischen Gutachten vom 19. Dezember 2002 zutreffend ein Beurteilungspegel von wöchentlich 88 bis 93 dB (A) ermittelt.

Hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Juni 2004 die Rücknahme des Bescheids vom 15. August 2003 ab. Der Kläger habe keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen, die an der Rechtmäßigkeit der früheren Entscheidung Zweifel aufkommen ließen. Eine objektive Abgrenzung der lärmabhängigen Anteile von lärmunabhängigen sei bei den Hörbeschwerden des Klägers nicht möglich, weswegen der ursächliche Zusammenhang für das Gesamtbild nach der Zurechnungslehre von der rechtlich wesentlichen Ursache zu beurteilen sei.

Dagegen hat der Kläger am 24. Juni 2004 Widerspruch eingelegt. Es sei nicht nachvollziehbar, weswegen eine Abgrenzung der lärmabhängigen Anteile von lärmunabhängigen an den Hörbeschwerden nicht möglich sein solle. Auch wenn ein Haarzellschaden nicht nachgewiesen sei, sei dieser nur ein Indiz für eine lärmbedingte Innenohrschwerhörigkeit. Ferner könne eine Tieftonschwerhörigkeit auch lärmbedingt entstehen, wenn eine Lärmeinwirkung von meist über 95 dB bzw. extrem hohe Schallpegel vorlägen. In dem Betrieb sei der Gehörschutz erst Mitte bis Ende der achtziger Jahre eingeführt worden. Des weiteren habe man früher freitags ebenfalls gearbeitet, so dass die Lärmexposition höher gewesen sein dürfte, als bisher angenommen. Ferner habe man früher wesentlich lautere Maschinen gehabt. Auch wenn der Hörverlust im Tieftonbereich rasch vorangeschritten sei, liege die Schwerhörigkeit doch vor allem im Hochtonbereich. Zwischen 1970 und 1975 seien fünf Druckmaschinen der Fa Rotaprint und von 1975 bis Herbst 1982 drei Zwei-Druckwerk-Maschinen der Fa Weiland eingesetzt gewesen. Zwischen 1975 und 1980 seien auch zwei Maschinen der Fa Heidelberger Druckmaschinen verwendet worden, so eine Zwei-Druckwerk-Maschine und eine GTO-Maschine. Seit 1980 stünden in dem Raum, in dem er arbeite, drei Druckmaschinen der Fa A. und eine Druckmaschine der Fa C ... Ferner befänden sich dort noch eine Schneide- und eine Falzmaschine bzw. seit 1973 zwei Falzmaschinen der Fa M.-M ... Bis vor fünf Jahren seien alle zwei bis drei Jahre alte Maschinen durch neue ersetzt worden. Die Fabrikhalle sei 1980 und 1999 auch vergrößert worden.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 03. Dezember 2004 führte der MT B. - nach Befragung des Klägers und des Betriebsleiters in dem Unternehmen - aus, für den Zeitraum von 1973 bis 1980 habe er Arbeitszeiten von 10 bis 12 Stunden pro Schicht und an fünf Tagen in der Woche berücksichtigt. Bei Inbetriebnahme der Rollenrotationsoffset-Druckmaschine 1978/79 sei mit Sicherheit der Beurteilungspegel von 85 dB (A) überschritten worden. Dies sei im Gutachten ausgewiesen. Entgegen früher werde nun angegeben, der Kläger habe freitags von 7:00 Uhr bis 14:00 Uhr an der Rollenrotationsoffset-Druckmaschine A 101 gedruckt. Bei einer angenommenen Laufzeit von 5 Stunden sei für freitags ein Beurteilungspegel von 91 dB (A) ermittelt. Damit ergebe sich für 1981 bis 1990 jeden zweiten Freitag ein LArd von 91 dB (A) und jede zweite Woche ein LArw von 89-94 dB (A). Nachweise bzw. Unterlagen, welche sowohl eine längere Arbeitszeit als auch die Drucktätigkeit freitags belegten, hätten am Besuchstag von dem Unternehmen nicht vorgelegt werden können. Hierzu hat er Schallmessprotokolle vorgelegt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, da auch nach nochmaliger Prüfung der Kläger zwar seit 1975 überwiegend einem potenziell gehörschädigenden Lärmpegel ausgesetzt gewesen sei, sich aber durch die aktenkundigen medizinischen Befunde sowie die Ergebnisse der Begutachtung ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Hörbeschwerden mit der beruflichen Tätigkeit nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründen lasse. Insbesondere seien die anlässlich der Begutachtung erhobenen Befunde für eine lärmbedingte Innenohrschwerhörigkeit untypisch. Im Übrigen sei der Kläger nach den Ermittlungen des technischen Aufsichtsdienstes in keiner Phase einer Lärmbelastung von über 95 dB (A) ausgesetzt gewesen, weswegen die Tieftonhörverluste nicht auf eine berufliche Lärmeinwirkung zurückgeführt werden könnten.

Deswegen hat der Kläger am 28. Juli 2005 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und zuletzt in der Sache beantragt, die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 15. August 2003 zurückzunehmen und eine BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV anzuerkennen und ihm Leistungen nach einer MdE um mindestens 10 v.H. zu gewähren. Der TAD habe zwar erst ab 1978 einen personenbezogenen Beurteilungspegel von über 85 dB angenommen, doch habe er hier die besonderen örtlichen Verhältnisse am Arbeitsplatz, wie sie damals geherrscht hätten, nicht berücksichtigt.

Das SG hat Dr. F. schriftlich als sachverständigen Zeugen gehört, der am 02. Januar 2006 über die erhobenen Befunde berichtet und die Auffassung vertreten hat, die beim Kläger hochgradig an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits sei unter Berücksichtigung allein des Audiogramms nicht mit Wahrscheinlichkeit lärmbedingt. Die hirnstammaudiometrische Untersuchung spreche für eine cochleäre Hörstörung und gegen eine retrocochleäre Störung. Der Befund spreche eindeutig gegen eine Lärmschwerhörigkeit. Im Zweifelsfall sei dies aber durch ein HNO-ärztliches Gutachten zu klären.

Das SG hat ein Sachverständigengutachten des HNO-Arztes Prof. Dr. Z. mit einer ergänzenden Stellungnahme eingeholt. Er ist im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, es bestehe eine fast symmetrische Innenohrschwerhörigkeit beidseits im Hochtonbereich mit maximalem Hörverlust und 95 dB bei 10 kHz auf der rechten Seite und 90 dB bei ebenfalls 10 kHz links. Zusätzlich bestehe ein Hörverlust zwischen 0,125 kHz und 0,5 kHz von 20 dB und bei 1 kHz von 40 dB (Tiefton) in den gleichen Frequenzen von 30 dB bis 0,5 kHz und von 48 dB bei 1 kHz auf der linken Seite. Es werde ein Ohrgeräusch auf beiden Seiten angegeben. Ursache der Schwerhörigkeit im Hochtonbereich sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die seit 1973 bestehende Lärmexposition am Arbeitsplatz. Die Schallempfindungsschwerhörigkeit im Tieftonbereich sei dagegen nicht durch Lärmeinwirkung zu erklären und deshalb nicht als berufsbedingte Erkrankung abzugrenzen, was er bei der Berechnung der MdE berücksichtige und korrigiere. Die MdE betrage für die lärmbedingte Schwerhörigkeit unter Einbeziehung des Tinnitus 10 %. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten und die ergänzende Stellungnahme verwiesen.

Das SG hat ferner ein Sachverständigengutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. eingeholt, die zum Ergebnis gelangt ist, der Tinnitus habe auf nervenärztlichem Fachgebiet keine weitere Diagnose oder funktionelle Einschränkung zur Folge.

Die Beklagte hat Einwände gegen das Gutachten von Prof. Dr. Z. erhoben und hierzu eine Stellungnahme des Prof. Dr. B. vom 14. Oktober 2007 vorgelegt, der zum Ergebnis gelangt ist, die Schwerhörigkeit des Klägers sei weitgehend lärmunabhängig entstanden. Eine BK liege nicht vor. Der Kläger habe zwar im Lärmbereich gearbeitet und im Tonschwellenaudiogramm vom 18. Oktober 1989 sei ansatzweise eine Schwerhörigkeit zu erkennen, die auf eine beginnende Lärmschwerhörigkeit hätte hindeuten können, doch zeigten die Tonschwellenaudiogramme aus dem Jahr 2002 und später eine nicht mit einer Lärmschwerhörigkeit zu vereinbarende Innenohrschwerhörigkeit unbekannten Ursprungs. Auch das Ohrgeräusch lasse sich nicht auf Lärmeinwirkung zurückbeziehen. Da weit überwiegend lärmunabhängige Ursachen heranzuziehen seien, sei nach der Theorie der wesentlichen Bedingung die Schwerhörigkeit überwiegend durch andere, unbekannte Gründe bedingt. Dass der Kläger unter Lärmeinwirkung gearbeitet habe, stehe einer lärmunabhängig entstehenden Schwerhörigkeit nicht entgegen.

Mit Urteil vom 10. Juli 2008 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 15. August 2003 zurückzunehmen, sowie eine BK nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV anzuerkennen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Gewährung von Leistungen beantragt hat, da diesbezüglich keine Sachentscheidung der Beklagten ergangen sei. Das SG hat sich dabei im Wesentlichen Prof. Dr. Z. angeschlossen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Urteilsgründe verwiesen.

Gegen das am 14. August 2008 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. August 2008 Berufung eingelegt und aus einem Verfahren wegen Feststellung von Behinderungen weitere Unterlagen vorgelegt, u. a. Äußerungen des HNO-Arztes Dr. N.r vom 18. April 2000, August 2004 und August 2005 (mit Audiogrammen vom 5. und 26. Juli 2002, 7. September 2004, 13. Dezember 2004, 14. März 2005) sowie des HNO-Arztes Dr. F. vom 21. Juli 2005 und des Städtischen Krankenhauses S. vom 10. und 12. September 2001 (u. a. Commotio Cerebri und Mittelgesichtsfraktur nach Leitersturz mit stationärer Behandlung vom 31. August bis 6. September 2001).

Der Senat hat ein Sachverständigengutachten des HNO-Arztes Prof. Dr. S. vom 31. Mai 2009 erhoben. Auf Einwände der Beklagten mit Vorlage einer beratenden Stellungnahme des Prof. Dr. B., der sich dem Gutachten von Prof. Dr. S. nicht angeschlossen hat, sowie des Berichtes des Dr. C. vom 14. Oktober 2008 über eine nochmalige Überprüfung der Lärmbelastung am Arbeitsplatz, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird, hat der Senat die ergänzenden gutachterlichen Stellungnahmen des Prof. Dr. S. vom 12. April und 06. September 2010 eingeholt. Er ist zunächst zum Ergebnis gelangt, es lägen beidseits eine gering- bzw. knapp geringgradige Innenohrschwerhörigkeit sowie ein stark belastender Tinnitus vor. Ausgehend von einer Lärmbelastung zwischen 90 und 95 dB (A) über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren genüge diese Lärmexposition, um eine Hörschädigung auszulösen. Gemäß den Vorgutachten habe sich fast in allen Fällen im Tonschwellenaudiogramm eine wesentlich deutlichere Hörminderung im Tief- und Mitteltonbereich gezeigt. Diese sei am ehesten degenerativ bedingt. Eine Abgrenzung zwischen degenerativer Ursache und lärmbedingter Innenohrschwerhörigkeit im Hochtonbereich wäre nach den Tonschwellenaudiogrammen zu den Vorgutachten somit sicherlich schwierig und nicht mit letzter Sicherheit zu klären. Bei seiner Untersuchung habe sich aber ein deutlich geringerer Hörverlust in dem Tief- und Mitteltonbereich gezeigt. Auch wenn der aktuelle Hörverlust im Tief- und Mitteltonbereich degenerativ mit bedingt sei, müsse bei der von ihm gemessenen Hochtonschwerhörigkeit von einem lärmbedingten Hörverlust ausgegangen werden. Die Differenz mit den Vorgutachten ergebe sich aus abweichenden Untersuchungsergebnissen. Vor allem im Tonschwellenaudiogramm, dem Recruitment-Test und in der Auswertung der Otoakustischen Emissionen hätten sich zum Teil deutliche Differenzen gezeigt, was auch zu einer unterschiedlichen Interpretation der Sachlage führe. Am ehesten stimmten seine Untersuchungsergebnisse mit denen von Prof. Dr. Z. überein. Sowohl der Hörverlust als auch der Tinnitus seien auf die berufliche Lärmbelastung zurückzuführen. Dadurch sei eine Gesamt-MdE um 15 v.H. unter Einbeziehung von 5 v.H. für den Tinnitus anzunehmen. In seiner ergänzenden Stellungnahme hat er unter Berücksichtigung der Einwände von Prof. Dr. B. ausgeführt, die letzte Berechnung der Lärmexposition vom 14. Oktober 2008 bestätigte im Wesentlichen die vorherigen messtechnischen Gutachten. Die Berücksichtigung der häufig variierenden Arbeitszeiten bei der Neuberechnung vom 14. Oktober 2008 habe einen Tagesbeurteilungspegel von LArd ) 89 dB (A) bzw. einen Wochenbeurteilungspegel von LArw ) 87 dB (A) ergeben. Unter Zugrundelegung einer Expositionszeit von wenigstens 21 Jahren und einem Wochenbeurteilungspegel von ) 87 dB (A) sei die Entstehung einer Lärmschwerhörigkeit nach von Lüpke (1974) "nicht völlig auszuschließen", also möglich. Die überschwelligen Tests der Untersuchung im Rahmen seines Gutachtens (SISI, Langenbecksche Geräuschaudiometrie, Stapediusreflexmessung) sprächen mehrheitlich für einen Innenohrschaden. SISI-Test und Langenbeck-Audiometrie seien bei Prof. Dr. St. beide negativ ausgefallen, ohne dass hier eine Ursache für diese Diskrepanz erkennbar sei. Die Innenohrschwerhörigkeit sei in allen Audiogrammen überwiegend symmetrisch, die Tonschwellkurve falle schräg ab. Der Tieftonverlust spreche bei der vergleichsweise geringen Lärmbelastung gegen einen Lärmschaden. Der Schrägabfall im Hochtonbereich sei bei der vorhandenen Lärmbelastung für einen reinen Lärmschaden zu stark ausgeprägt. Allerdings sei der Einfluss der Lärmbelastung anhand der vorliegenden Befunde keinesfalls völlig auszuschließen. Am 28. Mai 2009 habe der Kläger angegeben, die tieferen Töne erst bei höheren Schalldrucken zu hören. Wegen möglicher Verständigungsschwierigkeiten seien nach ausführlicher Erläuterung noch mehrere Versuche gemacht worden, die zu dem niedergelegten Ergebnis geführt hätten. Der Eindruck einer Aggravation habe nicht bestanden, die aber letztlich nicht ausgeschlossen werden könne. Der Diskriminationsverlust im Sprachaudiogramm von rechts gegenüber links bei dem vorliegenden Hochtonverlust im Tonaudiogramm und dem guten Tieftongehör passe nicht zu einer reinen Lärmschwerhörigkeit. Deshalb sei auch von einer zusätzlichen und lärmunabhängigen Ursache der Schwerhörigkeit auszugehen. Die Schwierigkeit bestehe nach wie vor darin, den lärmverursachten Anteil zu quantifizieren. Da die Lärmbelastung nur mit bedingter Wahrscheinlichkeit zu einer Lärmschwerhörigkeit geführt habe, sei der durch Lärm verursachte Anteil der vorliegenden Schwerhörigkeit eher als gering anzusehen. Der prozentuale Hörverlust betrage nach der Tabelle Röser (1973) 30 % beidseits. Der Tinnitus im Tieftonbereich unterstütze die Zweifel an einer reinen Lärmschwerhörigkeit. Insgesamt habe eine Lärmbelastung vorgelegen, die einen teilweisen Lärmschaden des Gehörs bei der vorliegenden beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit wahrscheinlich mache. Der Tinnitus gehe nicht in die Berechnung der MdE ein, da er im Tieftonbereich angegeben worden sei und im Übrigen nicht mit den Angaben in den Vorgutachten übereinstimme. In Zusammenschau der diskutierten Befunde schlage er für den angenommenen lärmbedingten Anteil des Hörschadens eine MdE um unter 10 vH vor. Zuletzt hat der Sachverständige ausgeführt, eine Differenzierung des beruflich vom nicht beruflich verursachten Anteils der Schwerhörigkeit sei schwierig. Eine genaue Abgrenzung und exakte Quantifizierung lasse sich anhand der Audiogramme nicht vornehmen. Es liege sicher keine reine Lärmschwerhörigkeit vor. Ein nicht näher quantifizierbarer Einfluss der Lärmbelastung sei aber anzunehmen. Ihr Anteil an der vorliegenden Schwerhörigkeit sei nicht zu beziffern, aber sicher eher gering, weshalb er die MdE mit unter 10 vH veranschlagt habe. Eindeutige Hinweise für andere Ursachen der Schwerhörigkeit fänden sich weder in den Unterlagen, noch seien sie bei seiner Untersuchung festzustellen gewesen. Deshalb handele es sich am ehesten um degenerative Veränderungen im Bereich der Haarzellen und des Innenohrs. Eine klare Feststellung, welche genauen Ursachen die vorliegende Schwerhörigkeit verursacht hätten und eine Quantifizierung seien mit den heute zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden nicht möglich.

Die Beklagte hat noch vorgetragen, Prof. Dr. S. habe zutreffend auf gegen eine reine Lärmschaden sprechende Befunde hingewiesen, wobei ein Einfluss der Lärmbelastung allerdings nicht völlig auszuschließen sei. Mit der bloßen Möglichkeit lasse sich aber weder ein abgrenzbarer lärmbedingter Hörverlust, noch eine wesentliche Bedeutung am gesamten Ausmaß des Hörverlustes begründen. Nicht nachvollziehbar sei, weswegen Prof. Dr. S. aus einer bedingten Wahrscheinlichkeit einen wahrscheinlichen Lärmschaden konstruiere. Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV lägen nicht vor. Prof. Dr. S. habe zuletzt auch ausgeführt, dass sich ein wesentlicher berufsbedingter Anteil an dem gesamten Ausmaß des Hörverlustes nicht begründen lasse.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. Juli 2008 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Unter Berücksichtigung des Ermittlungsergebnisses sei von einer berufsbedingten Gehörschädigung auszugehen. Im Übrigen verweist er auf die Ausführungen im Klage- und Verwaltungsverfahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143. 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung bzw. Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV und damit auch keinen Anspruch auf die Rücknahme des Bescheids vom 15. August 2003.

Der Senat hat nur darüber zu entscheiden, ob das SG im angefochtenen Urteil die Beklagte zu Recht verpflichtet hat, den Bescheid vom 15. August 2003 zurückzunehmen und eine BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen. Gegen diese Entscheidung hat allein die Beklagte Berufung eingelegt, so dass der Senat auch nur darüber zu befinden hat.

Über die Frage, ob beim Kläger eine BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV vorliegt, wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 15. August 2003 entschieden und die Anerkennung dieser BK abgelehnt. Dieser Bescheid ist, da er nicht angefochten wurde, gemäß § 77 SGG bindend geworden.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Dies gilt auch für den Fall, dass die Anerkennung einer BK zu Unrecht abgelehnt worden ist.

Die Berufung der Beklagten ist sachlich begründet. Der Kläger hat nämlich keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 15. August 2003 und auf Anerkennung einer BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV, weil die Voraussetzungen für die Anerkennung bzw. Feststellung dieser BK bei ihm nicht vorliegen.

BKen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung oder mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, Erkrankungen in der Rechtsverordnung als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz SGB VII). Hierzu zählt nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV die Lärmschwerhörigkeit. Diese BK ist sowohl hinsichtlich der Erkrankung als auch der geeigneten Einwirkung durchaus konkret gefasst. Sie meint eine durch eine - einen gewissen Zeitraum andauernde - beruflich bedingte Lärmbelastung in bestimmter Höhe hervorgerufene Schwerhörigkeit (BSG SozR 4-2700 § 9 Nr. 5).

Hiervon ausgehend stellt der Senat auf der Grundlage der Arbeitsplatzlärmanalyse des MT B. vom 19. Dezember 2002, 25. Mai 2004 und 03. Dezember 2004 sowie des Dr. C. vom 14. Oktober 2008 vom Präventionsdienst der Beklagten fest, dass der Kläger seit 1973 beruflich bedingtem Lärm ausgesetzt war und zwar seit 1980 unter Mitberücksichtigung seiner Wochenarbeitszeiten sowie des Ergebnisses der messtechnischen Untersuchungen von mindestens 87 bzw. 89 dB (A), wobei diese Belastungen am Arbeitsplatz nicht jeden Wochentag bestanden. Der Senat geht davon aus, dass zumindest zeitweise auch Werte von 90 dB (A) und gelegentlich darüber erreicht wurden. Dass der Kläger jedoch Lärmbelästigungen von 95 und mehr dB (A) ausgesetzt war, ist nach den Ergebnissen der vorliegenden messtechnischen Untersuchungen nicht nachgewiesen. Damit arbeitete der Kläger jedenfalls ab 1975 in einem Arbeitsbereich, in dem die Lärmbelastung einen Beurteilungspegel von 85 dB (A) erreicht oder überschritten hat. Er war damit einer Lärmbelastung ausgesetzt, die potenziell geeignet ist, eine Lärmschwerhörigkeit zu verursachen. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger - wie von ihm selbst angegeben - ab Mitte bis Ende der achtziger Jahre persönlichen Gehörschutz zu Verfügung gestellt bekommen hat.

Der Senat konnte aber nicht feststellen, dass die Schwerhörigkeit des Klägers mit Wahrscheinlichkeit wesentlich durch die berufliche Lärmeinwirkung verursacht oder verschlimmert wurde.

Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankungen im Berufskrankheitenrecht gilt, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung, die das Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 6. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R (SozR 4-2700 § 8 Nr 17 = BSGE 96, 196-209) zusammengefasst dargestellt hat. Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der Ursache eines Erfolges jedes Ereignis ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der Bedingungstheorie werden im Sozialrecht als rechtserheblich aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache bzw. das Ereignis als solches, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens und Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte sowie die gesamte Krankengeschichte. Trotz dieser Ausrichtung am individuellen Versicherten ist der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Einwirkungen und Gesundheitsschäden zu Grunde zu legen. Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang nach der Theorie der wesentlichen Bedingung positiv festgestellt werden muss und hierfür hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt, nicht jedoch die bloße Möglichkeit.

Abweichend von einem Arbeitsunfall mit seinem zeitlich begrenzten Ereignis, das oftmals relativ eindeutig die allein wesentliche Ursache für einen als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsschaden ist, ist die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei BKen in der Regel schwieriger. Denn angesichts der multifaktoriellen Entstehung vieler Erkrankungen, der Länge der zu berücksichtigenden Zeiträume und des Fehlens eines typischerweise durch berufliche Einwirkungen verursachten Krankheitsbildes bei vielen BKen, stellt sich letztlich oft nur die Frage nach einer wesentlichen Mitverursachung der Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen (BSG Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 7/05 R - in UV-Recht Aktuell 2006, 510-515 und in Juris). Ist aber die Abgrenzung eines lärmbedingten Anteils der Schwerhörigkeit nicht sicher möglich, so muss nach der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung entschieden werden, ob die Lärmeinwirkung oder welcher andere Faktor die wesentliche Bedingung für die Entstehung der Schwerhörigkeit war. Nur diese Bedingung gilt dann als Ursache der gesamten medizinisch nicht näher abgrenzbaren Schwerhörigkeitsanteile (vgl. Empfehlungen für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit - Königsteiner Merkblatt - 4. Auflage, 4.1 letzter Abschnitt, abgedruckt in Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, Stand Oktober 2007).

Nach den vorliegenden Unterlagen und Gutachten leidet der Kläger sowohl unter einer Schwerhörigkeit im Tieftonbereich als auch einer Innenohrschwerhörigkeit im Hochtonbereich sowie einem Tinnitus. Die Schwerhörigkeit im Tieftonbereich ist, wie von den Sachverständigen im Wesentlichen übereinstimmend und überzeugend dargelegt, nicht durch die berufliche Lärmbelastung verursacht. Bei einer Schwerhörigkeit im Tieftonbereich kann zwar Berufslärm ursächlich sein, doch bedarf dies einer langjährigen massiven Lärmeinwirkung von deutlich mehr als 90 bzw. 95 dB (A), die hier nicht nachgewiesen ist. Nach übereinstimmender Auffassung aller Gutachter kommen damit für die Lärmschwerhörigkeit im Tieftonbereich berufliche Einwirkungen als Ursache nicht in Betracht. Ein beruflich bedingter Anteil der Schwerhörigkeit lässt sich, so auch Prof. Dr. S. zuletzt, von einer außerberuflichen Schwerhörigkeit, für welche durchaus auch erhebliche Gesichtspunkte sprechen, nicht abgrenzen. Da die Abgrenzung eines nicht- lärmbedingten Anteils der Schwerhörigkeit hier nicht sicher möglich ist, muss nach der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung entschieden werden, ob die Lärmeinwirkung oder welcher andere Faktor die wesentliche Bedingung für die Entstehung der Schwerhörigkeit war.

Die berufliche Lärmbelastung des Klägers ist nicht wesentliche Ursache der beim Kläger vorliegende Hörstörung.

Dies entnimmt der Senat im Ergebnis den Ausführungen des Prof. Dr. S., insbesondere in seiner letzten gutachterlichen Stellungnahme sowie den Ausführungen von Prof. Dr. B., die die Beklagte vorgelegt hat und die als qualifizierter Beteiligtenvortrag verwertbar waren. Prof. Dr. S. hat zuletzt ausgeführt, ein lärmbedingter Anteil der vorliegenden Schwerhörigkeit sei nicht zu beziffern und sicher eher gering. Angesichts dessen ist auch die berufliche Lärmbelastung nicht als wesentliche Ursache der Schwerhörigkeit festzustellen.

Es fällt auf, dass die ermittelten Werte hinsichtlich des Ausmaßes des Schwerhörigkeit nicht unerheblich differieren. So hat gemäß dem Bericht des HNO-Arztes Dr. N. im Juli 2002 eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit beidseits vorgelegen, nach dem Gutachten von Prof. Dr. St. bei der Untersuchung vom März 2003 eine mittelgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit, bei der Untersuchung vom Juni 2004 gemäß den Angaben des HNO-Arztes Dr. F. eine hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit beidseits und bei der Begutachtung durch Prof. Dr. Z. am 13. Februar 2006 eine mittelgradige Schwerhörigkeit beidseits. Dem gegenüber hat Prof. Dr. S. im Mai 2009 nur noch eine geringgradige bzw. knapp geringgradige Innenohrschwerhörigkeit festgestellt. Diese Diskrepanz hat Prof. Dr. S. auch in seiner ersten ergänzenden Stellungnahme nicht überzeugend zu erklären vermocht. Selbst wenn man von Messfehlern bei früheren Untersuchungen oder einer Aggravation bzw. Simulation ausginge, bleibt fraglich, welche Untersuchungsergebnisse nun zutreffend sind. Prof. Dr. Z. und Prof. Dr. S. sind zunächst auch von einer dauerhaften Lärmbelastung von mehr als 90 dB (A) seit 1973 ausgegangen, was allerdings nach dem schallmesstechnischen Gutachten vom Dezember 2002 unzutreffend und nicht nachgewiesen ist, nachdem von 1973 bis 1980 kein Beurteilungspegel von mindestens 90 dB belegbar ist. Jedenfalls ist eine entsprechende Lärmbelastung, die im Wege des Vollbeweises nachgewiesen sein müsste, nicht feststellbar.

Unter Berücksichtigung dessen stehen die schon von Prof. Dr. St. und auch die von Prof. Dr. S. dargelegten Gesichtspunkte, die gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen, für den Senat so weit im Vordergrund, dass die beruflichen Einwirkungen nicht als wesentliche Ursache der Hörstörung angesehen werden können. Schließlich hat auch Dr. F. unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Befunde einen berufsbedingten Hörschaden verneint.

Wie Prof. Dr. St. bereits ausgeführt hat, sprechen gegen eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit insbesondere deren Einsetzen bereits in den tiefen Frequenzen, für die eine außergewöhnlich starke Lärmbelastung, über mehrere Jahrzehnte, die erforderlich wäre, nicht nachgewiesen ist. Ferner sind der SISI-Test und das Geräuschaudiogramm nach Langenbeck bei Prof. Dr. St. negativ ausgefallen. Dies spricht mit den weiteren Befunden gegen berufliche Einwirkungen als Ursache der Lärmschwerhörigkeit. Nach Auswertung aller Nachweise zu den Lärmbelastungen und aller Befunderhebungen und des vorliegenden autoimmunen Prozess (bei Nachweis von Ak vom feinspeckled Typ [Universitätsklinikum T., Abteilung Innere Medizin, am 4. September 1989]) ist für den Senat nicht feststellbar dass die Lärmschwerhörigkeit rechtlich wesentlich auf Berufslärm zurückzuführen ist.

Da somit im Ergebnis ein beruflich verursachter Anteil der Lärmschwerhörigkeit nicht abgrenzbar und belegbar ist und die Schwerhörigkeit des Klägers nicht wesentlich auf berufliche Einwirkungen zurückgeführt werden kann, hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Feststellung bzw. Anerkennung einer BK nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV.

Der Senat hebt deshalb das Urteil des SG auf und weist die Klage ab.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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